Kapitel 38

August 1944

Poplar Grove, Colorado

«P ass bei den Stufen auf, Schatz», sagte Scarlett zu William, der den Rand des gerade fertiggestellten Pavillons entlang tappte und im Gehen nach den einzelnen Speichen des Geländers griff.

Er grinste über seine Schulter hinweg und lief weiter.

Sie ließ die Schallplatte, die sie ausgewählt hatte, liegen, eilte durch den Pavillon und nahm William in die Arme, kurz bevor er die Treppe erreichte. «Du bringst mich noch ins Grab, William Stanton.»

William kicherte, und sie hauchte ihm einen Kuss auf den Hals, dann hob sie ihn auf ihre Hüfte und ging zurück zum Plattenspieler. Die Herbstbrise ließ ihr Kleid leicht schwingen, und sie schob ihr Haar zur Seite, um es vor Williams Griff zu schützen. Es war jetzt länger und fiel ihr bis auf die Mitte des Rückens hinunter – ihr persönlicher Kalender dafür, wie lange es her war, dass sie Jameson in Ipswich zum Abschied geküsst hatte.

Zwei Jahre, und keine Nachricht … aber auch keine Überreste, also hielt sie an der Hoffnung fest und an dem Funken Gewissheit, der in ihrer Brust aufflammte, wenn sie an ihn dachte. Er war am Leben. Sie wusste es. Sie war sich nicht sicher, wo oder wie, aber er lebte. So musste es einfach sein.

«Welche sollen wir uns anhören, Poppet?», fragte sie ihren Sohn und setzte ihn vor der kleinen Plattensammlung auf dem Tisch ab. Er griff wahllos nach einer Scheibe, und sie legte sie auf. «Glenn Miller. Ausgezeichnete Wahl.»

«Apfel!»

«Ja, dafür bin ich jetzt auch.» Die Musik des Glenn Miller Orchestra erfüllte die Luft, als sie William zu der Decke führte, die sie am anderen Ende des Pavillons ausgebreitet hatte. Sie aßen Äpfel und Käse – sie würde sich vermutlich niemals daran gewöhnen, dass hier in den Staaten so viele Nahrungsmittel vorhanden waren, aber das war nun wahrlich kein Grund zur Klage. Sie hatten Glück.

Hier gab es keine Luftalarmsirenen. Keine Bomben. Keine Kartentische für Plotter. Keine Stromausfälle. Sie waren in Sicherheit. William war in Sicherheit.

Sie betete jede Nacht, dass Jameson und Constance es auch waren. Sie strich mit den Fingern über die kleine Narbe auf ihrer Handfläche und dachte an ihr Gegenstück in England. War die Wunde über dem Auge ihrer Schwester auch vernarbt? Sie hatte geblutet, als sie sie an dem Tag ins Flugzeug gezwungen hatte, als die Bomben sie in Ipswich von der Straße gerissen hatten und sie drei nur knapp verschont geblieben waren.

Gestern hatte sie zwei neue Kleider für ihre Schwester eingepackt und verschickt. Es war fast ein Jahr her, dass Henry auf einer Treppe ausgerutscht war und sich das Genick gebrochen hatte, und laut Constances letztem Brief hatte sie einen gut aussehenden amerikanischen GI kennengelernt, der im Army Veterinary Corp diente.

William legte sich auf die Decke, und Scarlett strich ihm mit den Händen durch sein dichtes, dunkles Haar, während er in sein Nachmittagsschläfchen sank, den Mund leicht geöffnet, genau wie Jameson immer im Schlaf. Als sie sicher war, dass er schlief, stand sie auf und ging zurück zum Plattenspieler.

Sie wusste, dass sie später für dieses Vergnügen zahlen, dass sie ihn noch mehr vermissen würde, und legte trotzdem Billie Holiday auf. Ihr Herz geriet ins Straucheln, als das vertraute Lied begann, und in diesem Moment befand sie sich nicht mehr mitten in den Colorado Rockies, und es waren nicht goldene Espenblätter, die sich in der Bergbrise um sie herum wiegten – nein, es waren die Spitzen von langem Sommergras auf einem überwucherten Feld kurz vor Middle Wallop.

Sie schloss die Augen und wiegte sich hin und her, stellte sich einen Moment lang vor, dass er da wäre und seine Hand ausstreckte, um sie zum Tanz aufzufordern.

«Brauchst du einen Partner?»

Sie keuchte leise und riss die Augen auf, als sie die Stimme hörte, die Stimme, die sie überall erkennen würde. Die Stimme, die sie in den letzten zwei Jahren nur in ihren Träumen gehört hatte. Aber da war nur der Plattenspieler vor ihr, William, der seitlich von ihr auf dem Boden schlief, und das Rauschen des Flusses, der hier eine Biegung machte.

«Scarlett», sagte er.

Hinter ihr.

Sie drehte sich, wobei ihr Kleid in der Brise ihre Beine streifte, und strich sich rasch das Haar aus den Augen, um besser sehen zu können.

Jameson füllte den Eingang des Pavillons aus, er lehnte am Stützbalken, den Hut unter den Arm geklemmt, in anderer, abgetragener Uniform, nicht mehr die der RAF , sondern die der United States Army Air Force. Sein Lächeln wurde breiter, als sie sich in die Augen sahen.

«Jameson», flüsterte sie und schlug die Hände vor den Mund. Träumte sie? Würde sie aufwachen, bevor sie ihn berühren konnte? Tränen brannten in ihren Augen, während ihr Herz mit dem Verstand kämpfte.

«Nein, Baby, nein.» Jameson überwand den Abstand zwischen ihnen mit langen Schritten, sein Hut fiel zu Boden. «Bitte, nicht weinen.» Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und wischte die Tränen mit seinen Daumen weg. Seine Hände waren warm. Fest. Echt.

«Du bist wirklich hier», rief sie, und ihre Finger zitterten, als sie über seine Brust, seinen Hals, die Linie seines Kiefers fuhren. «Ich liebe dich. Ich dachte, ich könnte dir das nie wieder sagen.»

***

«G ott, ich liebe dich, Scarlett. Ich bin hier», versicherte er, und sein Blick glitt hungrig über sie, er hungerte nach ihrem Anblick, nach dem Gefühl, sie an sich zu spüren. Jahre und Meilen, Schlachten und Bruchlandungen hatten nichts geändert, hatten seine Liebe zu ihr nicht getrübt.

«Ich bin hier», wiederholte er, weil auch er es hören musste. Weil er wissen musste, dass sie es trotz aller Widrigkeiten, die sich ihnen in den Weg gestellt hatten, geschafft hatten.

Er hob ihr Gesicht zu seinem und küsste sie lange und langsam, atmete sie ein, schmeckte Äpfel und Heimat und Scarlett. Seine Scarlett.

«Wie?», fragte sie und verschränkte ihre Finger in seinem Nacken.

«Mit einer Menge Glück.» Er lehnte seine Stirn gegen ihre und schlang einen Arm um ihre Taille, um sie fester an sich zu ziehen. «Es ist eine wirklich lange Geschichte, die ein gebrochenes Bein, einen Widerständler, der sich meiner erbarmt hat, und ein paar sehr zuvorkommende Kühe beinhaltet, die nichts dagegen hatten, drei Monate lang einen versteckten Mitbewohner zu beherbergen, während mein Bein heilte.»

Sie lachte auf und schüttelte den Kopf. «Aber es geht dir gut?»

«Jetzt wieder, ja.» Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und strich mit der Hand über ihren unteren Rücken. «Ich habe dich jeden einzelnen Tag vermisst. Alles, was ich gemacht habe, diente nur dem Zweck, zu dir nach Hause zu kommen.»

Ihre Schultern zuckten, und ein Schluchzen kam ihr über die Lippen. Ihm wurde die Kehle eng um den Kloß, der sich gebildet hatte, als er sah, wie sie sich im Wind wiegte und dort wartete, wo der Fluss in einer Biegung um den Espenhain floss.

«Es ist okay. Wir haben es geschafft.»

«Musst du wieder zurück?», fragte sie mit brüchiger Stimme.

«Nein.» Er hob ihr Kinn an und ertrank in diesen blauen Augen. Gott, egal wie detailliert seine Erinnerungen, wie perfekt seine Träume gewesen waren, nichts davon konnte seiner schönen Frau auch nur annähernd gerecht werden. «Ich konnte das Land nicht verlassen, bis Maastricht befreit war. Ich habe ein Jahr lang heimlich an der Seite des holländischen Widerstands gekämpft, und ich weiß zu viel, sie können das Risiko nicht eingehen, dass ich gefangen genommen werde. Was bedeutet, dass die einzigen Flugzeuge, die ich fliegen werde, die meines Onkels sind, und auch nur genau hier.»

«Es ist also vorbei?», fragte sie, und in ihrer Stimme schwang die Verzweiflung mit, die auch er spürte.

«Es ist vorbei. Ich bin zu Hause.» Er küsste sie erneut, verlor sich in ihrem Mund, und sie packte das Revers seiner Uniform und zog ihn näher an sich.

«Du bist zu Hause.» Sie lächelte, breit und strahlend.

Er bückte sich, verschränkte seine Arme hinter ihren Oberschenkeln und hob sie auf seine Augenhöhe. Dann küsste er sie, bis er wieder mit jedem Detail und jeder Rundung ihres Mundes vertraut war.

Ein Rascheln erregte seine Aufmerksamkeit, und sein Atem stockte, als er William sah, der auf einer Decke schlief, die Hand unter den Kopf gelegt. Langsam setzte er Scarlett ab. «Er ist so groß geworden.»

Sie nickte. «Er ist perfekt. Willst du ihn wecken?» Ihre Augen leuchteten.

Jameson schluckte, seine Kehle und seine Brust wurden ihm eng, als er zwischen seinem träumenden Sohn und der Liebe seines Lebens hin und her blickte. Perfekt. Es war alles perfekt und besser als alles, was er sich in den langen, leeren Nächten und kampferfüllten Tagen vorgestellt hatte. Er schob seine Hände in Scarletts seidiges Haar und grinste seine Frau an. «In ein paar Minuten.»

Ihr Lächeln breitete sich langsam aus, und sie stellte sich für einen weiteren Kuss auf die Zehenspitzen.

«In ein paar Minuten», stimmte sie zu.

Er war zu Hause.