Es war einmal ein Mann, der lebte mit seiner Frau und seinen sieben Söhnen in einem gemütlichen, kleinen Haus in einem kleinen Dorf. Seine Söhne waren stark und gut und seine Frau war freundlich und liebevoll. Man könnte glauben, dass sie eine glückliche Familie waren, und im Großen und Ganzen stimmte das auch. Doch der Vater war nicht ganz so glücklich, wie er hätte sein können. Denn nichts auf der Welt wünschte er sich mehr als eine Tochter. Aber er und seine Frau hatten sieben Mal auf ein Mädchen gehofft und waren jedes Mal enttäuscht worden. Er hatte sich damit abgefunden, dass sich sein Wunsch nach einer Tochter nie erfüllen würde.
Stell dir seine Überraschung vor, als eines Tages ein Junge und ein Mädchen an seine Tür klopften und fragten, ob sie hereinkommen und bei ihnen leben dürften.
Sie erzählten, dass sie von zu Hause weggerannt seien. Einmal hätten die Eltern ihnen die Köpfe abgehackt, und das andere Mal hätte eine böse Frau versucht, sie zu essen. Der Mann nickte ihnen verständnisvoll zu, wie man zwei Verrückten zunickt.
Die Kinder erklärten, dass sie das Haus gesehen hätten und das Kerzenlicht, das hinter den Fensterscheiben flackerte, und dass sie überlegt hätten, dass das wohl ein besserer Ort für eine Familie sei als ein Palast oder ein Kuchenhaus. Sie dachten, dass ihnen hier sicherlich niemand wehtun würde. Und so hatten sie beschlossen, bis an das Ende ihrer Tage hier zu leben, wenn der Mann und seine Frau damit einverstanden wären.
Der Mann war von der Idee begeistert (vielleicht waren den Kindern tatsächlich die Köpfe abgehackt worden –wer wusste das schon?). Aufgeregt bat er Hänsel und Gretel ins Haus – denn natürlich waren es die beiden – und sagte seiner Frau, dass sie Essen vorbereiten sollte. Dann ging er zu seinen sieben Söhnen und befahl ihnen, zum Brunnen zu gehen und Wasser für ein Bad zu holen.
»Wer soll ein Bad nehmen?«, fragte der älteste Sohn überrascht.
»Eure neuen Geschwister!«, rief der Vater voller Freude. »Jetzt beeilt euch!«
Die Jungen wunderten sich sehr darüber. Aber sie kannten das Temperament ihres Vaters und wussten, wie wütend er werden konnte. Und weil sie Angst hatten, ihm zu missfallen, nahmen sie gemeinsam die große Wanne auf ihre Schultern und liefen zum Brunnen.
Die Frau stellte dampfende Teller beladen mit Fleisch und Kartoffeln vor die Kinder.
Gretel zögerte. »Müssen wir bei der Hausarbeit helfen, wenn wir bei euch leben?«, fragte sie.
Die Frau war freundlich, aber bestimmt, als sie sagte: »Das müsst ihr.«
»Und müssen wir zur Schule gehen?«
»Natürlich!«, bejahte sie.
»Gut!« Gretel bedankte sich bei der Frau, und sie und Hänsel fingen an, langsam und nicht gierig zu essen.
In der Zwischenzeit begann sich der Vater zu wundern, wo das Bad blieb. In ihrer Eile, es dem Vater recht zu machen, war den sieben Söhnen die Badewanne in den Brunnen gefallen.
»Er wird schrecklich wütend werden!«, flüsterte der älteste Sohn.
Der jüngste rief: »Er wird uns sicherlich schlagen!«
Sie umringten den Brunnen und fragten sich, was sie tun sollten.
Zu Hause wurde der Vater ungeduldig. »Wo sind diese dummen Jungen?«, flüsterte er seiner Frau in der Küche zu. »Unsere neue Tochter und unser neuer Sohn wollen ein Bad nehmen!«
Als die Jungen kurz darauf immer noch nicht zurückgekehrt waren, fluchte der Mann und sagte: »Sie sind zu nichts zu gebrauchen! Ich wünschte, sie würden sich in Vögel verwandeln und wegfliegen!«
In diesem Moment verwandelten sich die sieben Jungen in sieben Schwalben und flogen in die Luft. Sie flatterten am Küchenfenster vorbei, bevor sie im Wald verschwanden. Die Frau sah es und drehte sich wutentbrannt zu ihrem Mann um. Aber er sagte, dass es so am besten wäre, sie hätten sich ohnehin immer eine Tochter gewünscht. Die Frau musste ihrem Mann versprechen, dass sie ihren neuen Kindern niemals von den sieben Brüdern erzählen würde. Denn was würde es nützen, wenn sie es wüssten? Widerwillig und mit Tränen in den Augen versprach sie es.
Anfangs lebten sie glücklich in dem kleinen, gemütlichen Haus. Hänsels und Gretels neue Eltern waren liebevoll und kümmerten sich besonders gut um Gretel. Aber schon bald begannen die Kinder, sich Sorgen zu machen. Ihr neuer Vater war glücklich, aber ihre neue Mutter war stets bedrückt. Gretel liebte ihre Mutter über alles. Sie hielt es kaum aus, sie so traurig zu sehen.
»Sag, Mutter«, fragte sie von Zeit zu Zeit. »Sag mir, was dich bedrückt!« Aber ihre Mutter zwang sich dann immer zu lächeln und scheuchte Gretel weg.
Nach und nach bemerkten Hänsel und Gretel noch mehr seltsame Dinge. In ihrem Zimmer standen sieben Betten und immer wieder fragten sie ihre neuen Eltern nach deren Zweck. Ihre Eltern erzählten ihnen, dass der Raum zuvor ein Gästezimmer gewesen sei.
Aber Gretel konnte das nicht so recht glauben. »Wer hat sieben Gäste auf einmal und bringt sie alle in demselben Raum unter?«, fragte sie sich.
Hänsel machte sich weniger Gedanken. Als er eines Tages das Zimmer betrat, fand er dort seinen neuen Vater, wie er die sieben leeren Betten anstarrte und ihm dabei eine Träne über die Wange lief. Hänsel wusste nichts damit anzufangen. Er war zu sehr damit beschäftigt, glücklich zu sein und ein neues Zuhause zu haben, in dem ihm kein Vater den Kopf abschlagen und keine böse Frau ihn essen wollte.
Aber Gretel fühlte sich immer weniger wohl. Sie hörte die Leute im Ort flüstern: »Es sind nette Kinder. Aber so ein Opfer zu bringen! Alle sieben auf einmal.« Und sie wunderte sich immer mehr darüber, dass ihre Mutter so traurig war.
Eines Tages erzählte eines der Kinder aus dem Dorf Gretel die ganze Geschichte. Ein paar andere Kinder nickten und sahen sie aus großen, traurigen Augen an. In einem kleinen Dorf weiß jeder alles über jeden.
»Wir können hier nicht mehr leben!«, flehte Gretel ihren Bruder in derselben Nacht an. »Es ist unsere Schuld, dass die Jungen sich in Schwalben verwandelt haben! Wir müssen etwas tun!«
Hänsel war am Boden zerstört. »Gibt es denn überhaupt keine guten Eltern in dieser großen, weiten Welt?«, murmelte er.
»Es ist meine Schuld«, sagte Gretel, denn die Kinder hatten ihr erzählt, wie sehr der Vater eine Tochter wollte. »Er hat es wegen mir getan.« Sie sah Hänsel an. »Wir müssen sie finden.«
»Was? Wen?«
»Die Schwalben.«
»Wie sollen wir denn sieben kleine Vögel da draußen finden?«, fragte Hänsel und zeigte zum Zimmerfenster. Wie er es sagte, erschien »da draußen« unendlich groß und weit.
Gretel wusste es auch nicht. Sie wusste jedoch, dass sie es versuchen mussten. Sonst würde sie an ihren Schuldgefühlen zugrunde gehen. Hänsel war überzeugt, dass sie die Schwalben niemals finden könnten. Aber plötzlich hatte er Angst, dass der Vater ihn auch in eine Schwalbe verwandeln könnte. Deshalb stimmte er zu, es zu versuchen.
Als es düsterste Nacht war und ihre Eltern tief und fest schliefen, verließen die Kinder das Haus, um die sieben Schwalben zu finden. Sie wanderten die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag und die nächste Nacht.
»Wir haben immer noch keine Ahnung, wie wir sie jemals finden sollen«, sagte Hänsel und seufzte.
Gretel schüttelte den Kopf. Aber als die Sonne am nächsten Morgen wieder aufging und ihre Augen blendete, sagte Gretel aufgeregt: »Ich weiß es! Die Sonne! Sie sieht uns, wo immer wir auch hingehen. Sie weiß bestimmt, wo die sieben Schwalben sind! Lass sie uns fragen!«
Hänsel dachte, seine Schwester sei verrückt geworden. Aber weil er keine bessere Idee hatte, stimmte er zu. So kletterten Hänsel und Gretel auf den höchsten Baum, den sie finden konnten, bis sie ganz nah an der Sonne waren. Sie versuchten, mit ihr zu sprechen, aber sie war zu heiß und blendete sie. Sie mussten ihre Gesichter vor ihr verbergen.
Hänsel zupfte seine Schwester am Ärmel: »Ich glaube, sie verschlingt Kinder«, flüstere er.
Gretel dachte, dass er wahrscheinlich recht hatte. Sie kletterten den Baum wieder hinab und begannen weiterzulaufen.
Nachts, als der Mond über den Bäumen aufging, sagte Gretel: »Der Mond sieht uns, genau wie die Sonne. Und er ist nicht so heiß und blendet nicht so. Lass ihn uns fragen!«
Und so kletterten sie auf den höchsten Baum und kamen ganz nah an den Mond heran. Er war gar nicht heiß und grell. Stattdessen war er kalt und gruselig.
»Ich rieche, rieche Menschenfleisch!«, sagte er.
Hänsel und Gretel kletterten so schnell sie konnten von dem Baum.
Ja, der Mond hat das wirklich gesagt. Nein, ich glaube auch nicht, dass der Mond Menschen verspeist. Aber genau so steht es im Original des Grimm’schen Märchens. Ich habe nachgesehen. Es stimmt.
Ängstlich und entmutigt liefen Hänsel und Gretel weiter, bis sie zu einem wunderschönen See kamen, der im Sternenschein schimmerte.
»Wir laufen schon seit Ewigkeiten«, sagte Hänsel. »Wir werden sie nie finden! Können wir nicht einfach aufgeben?«
Aber Gretel war ganz elend zumute. »Es ist meine Schuld, dass die Söhne unserer Mutter verschwunden sind!«, jammerte sie.
Sie begann zu weinen und einige ihrer Tränen fielen in den schimmernden See. Als sie die Wasseroberfläche berührten, bewegte sich die Spiegelung der Sterne. Sie erwachten aus ihrem Schlaf.
»Wessen Tränen wecken uns?«, fragten die Sterne. Zuerst hatten Hänsel und Gretel Angst. Sie fragten sich, ob Sterne auch Kinder essen. Aber die leuchtenden Sterne schienen viel netter zu sein als die mörderisch heiße Sonne und der gruselig kalte Mond. Also erzählte Gretel den Sternen all ihre Sorgen.
»Wir haben die sieben Schwalben durch die Luft fliegen sehen«, sagten die Sterne. »Sie leben im Kristallberg. Ihr könnt sie finden, aber dafür braucht ihr viel Mut und müsst große Opfer bringen. Um den Berg zu erreichen, müsst ihr viele Monate lang reisen. Der Weg wird beschwerlich sein. Wenn ihr euch entschließt zu gehen, dann nehmt diesen Hühnerknochen mit. Er wird die Tür zum Kristallberg öffnen und die sieben Schwalben freilassen.« Und die beiden Geschwister sahen einen Hühnerknochen am Ufer unter der Wasseroberfläche.
Hänsel wollte nicht zu dem Berg gehen. »Monatelang wandern?«, jammerte er.
Aber Gretel sagte: »Bitte, Hänsel!«, und sie packte ihn am Arm und hielt ihn fest. Hänsel versuchte, sich loszumachen, aber als er merkte, dass er seine Schwester nicht davon abbringen konnte (und außerdem langsam das Gefühl in seinem Arm verlor), stimmte er widerwillig zu.
Gretel steckte den Hühnerknochen in ihre Tasche und die Kinder reisten einen Monat und einen Tag lang und dann noch einen Monat und noch einen Monat. Sie kamen durch dunkle Wälder und sonnige Felder, heiße Wüsten und schlammige Sümpfe. Sie wuchsen während ihrer Reise und wurden kräftig und sehnig durch die vielen Beschwernisse. Gretel trug schwer an ihren Schuldgefühlen, aber solange sie immer weiterliefen, konnte sie sie ertragen. Am Ende kamen sie schließlich zu einem riesigen Gebirge und kletterten immer weiter – durch eisigen Schnee und kalten Wind. Die Gipfel der Berge ragten links und rechts vor ihnen in die Höhe wie die spitzen Zähne eines wilden Tieres. Der Himmel über ihnen war bleich und klar und es war unendlich kalt. Ihre Wangen röteten sich und bekamen Risse, ihre Lippen wurden blau und platzten auf. Hänsel wollte umdrehen, aber Gretel weigerte sich.
Nach tagelangem Klettern erreichten sie endlich den Kristallberg. Er war unglaublich – das Schönste, was sie je gesehen hatten. Seine Kristallfelsen ragten aus einem Meer aus Eis und Schnee. Falken flatterten um seinen Gipfel herum und schrien in den Himmel.
»Es ist wunderschön«, sagte Hänsel und Gretel nickte.
»Endlich sind wir angekommen«, fügte er hinzu. »Ich hätte nicht mehr weiter gehen können.«
Vor ihnen befand sich eine riesige Tür aus Eis mit einem Schlüsselloch so groß wie ein Finger oder ein Hühnerknochen. Gretel fasste in ihre Tasche.
Aber sie konnte nichts finden. Sie fasste tiefer und immer tiefer in ihre Tasche, bis sie den kalten Wind an ihren Fingern spürte. Sie hatte ein Loch in der Tasche.
Der Knochen war weg.
Sie suchten überall nach ihm.
»Wann hattest du ihn zuletzt?«, fragte Hänsel. »Letzte Nacht? Oder in der Nacht zuvor?«
Aber Gretel konnte sich nicht erinnern und bekam Angst. Schon bald brach sie zusammen und weinte, bis ihr kleiner Körper erschöpft war. »All die Monate umsonst!«, schluchzte sie. »Was du wegen mir durchmachen musstest! Und ich habe unsere neue Mutter enttäuscht!«
Hänsel hüllte Gretel in seinen Mantel ein, und als die Nacht hereinbrach, legte er sich neben sie zum Schafen.
Aber Gretel konnte nicht schlafen. Erst nach vielen Stunden hörten ihre Tränen auf zu fließen. Sie konnte nur an ihre Niederlage denken, und ihre Schuldgefühle schmerzten wie der eiskalte Wind. Und dann gingen die Sterne auf und erinnerten sie an ihr Versagen, und sie fühlte sich so schuldig, so dumm, so unwürdig, dass sie die Sterne nicht einmal ansehen konnte.
Bei Sonnenaufgang blickte sie auf den langen Weg, den sie gekommen waren. Jetzt mussten sie die gesamte Strecke wieder zurückgehen, ohne irgendetwas erreicht zu haben. Monate des Leidens. Und die ganze Zeit pochte dieses bedrückende Schuldgefühl in ihr.
Plötzlich rannte Gretel zur Tür des Kristallberges, klopfte mit aller Kraft dagegen und bettelte, hereingelassen zu werden. Sie klopfte so fest, dass sie sich an einem Eissplitter schnitt. Sie weckte ihren schlafenden Bruder, der ihre Wunde versorgen wollte. Aber Gretel weigerte sich. »Ich mache es lieber noch schlimmer«, sagte sie.
Sie ergriff ein abgeplatztes Eisstück, das so scharf war wie ein Messer, und schnitt sich damit den kleinen Finger ab. Hänsel starrte sie entsetzt an. Gretel war totenbleich, und ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Jetzt kann ich endlich alles wiedergutmachen.«
Dort, wo der Finger einmal gewesen war, floss nun Blut. Doch sie trat entschlossen und unerbittlich zur Tür des Kristallberges. Sie hob den Finger auf, steckte ihn in das Schlüsselloch und drehte ihn herum.
Die Tür öffnete sich.
Es tut mir leid. Ich wünschte, ich hätte diesen Teil der Geschichte auslassen können. Ich wünschte das wirklich. Gretel, die ihren eigenen Finger abschneidet und ihn in ein Schlüsselloch steckt?
Falls irgendein kleiner Zweifel bestünde, dass dieser Teil der Geschichte wahr ist, hätte ich ihn weggelassen. Vielleicht hätte Gretel einen anderen Hühnerknochen finden können. Vielleicht hätte sie auch ein magisches Wort sprechen können, und die Tür hätte sich von allein geöffnet.
Aber es gibt keinen Zweifel: Sie hat sich wirklich ihren Finger abgeschnitten. Und wenn ich das ausgelassen hätte, dann würdet ihr euch am Ende des Buches wahrscheinlich wundern, warum Gretel nur neun Finger hat. Und dann gibt es da wahrscheinlich noch eine andere Frage, die ihr euch stellt.
Warum hat sich die Tür überhaupt geöffnet?
Ich habe keine Ahnung. Ein Finger ist einem Hühnerknochen ziemlich ähnlich, denke ich. Aber warum überhaupt ein Hühnerknochen?
Ich weiß nicht, warum sich die Tür zum Kristallberg mithilfe eines Hühnerknochens oder eines Fingers öffnen lässt. (Aber wo der Kristallberg liegt, das weiß ich ganz genau. Falls du es auch wissen willst, dann kann ich es dir gerne sagen. Schreib mir und ich erzähl es dir.)
Also muss ich euch wohl etwas über das Abschneiden von Fingern erzählen, vor allem falls noch ein paar kleine Kinder weitergelesen oder zugehört haben – was sehr unwahrscheinlich ist, wenn man bedenkt, was für grauenhafte Dinge schon passiert sind. Seinen eigenen Finger abzuschneiden ist mit das Dümmste, was man tun kann. Macht das bloß nicht! Ihr werdet mit dem abgeschnittenen Finger rein gar nichts öffnen können. Nur Gretel konnte das.
Warum?
Das habe ich schon gesagt. Ich habe keine Ahnung.
Aber ich glaube, es könnte etwas mit einem Opfer zu tun haben.
Als die Tür aufging, stieß ein Schwarm brauner Flügel die Kinder zurück in den Schnee und sieben Schwalben flatterten aus dem Berg. Sie setzten sich auf den Boden und musterten Hänsel und Gretel neugierig mit ihren schwarzen Augen.
»Es hat nicht funktioniert«, sagte Gretel ungläubig. Ihre blutende Hand begann jetzt richtig zu schmerzen.
Hänsel beobachtete, wie die Schwalben stumm im Schnee herumstolzierten. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie waren immer noch Vögel. Ihm war zum Weinen zumute.
Nach ein paar Minuten der Verwirrung und Stille beugte sich Gretel zu der kleinsten Schwalbe hinunter.
»Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, kleine Schwalbe«, sagte sie. »Eure Mutter vermisst euch.« Die Schwalben starrten sie wortlos an.
Hänsel dachte an den Vater der Jungen und erinnerte sich an die Träne.
»Auch euer Vater vermisst euch«, sagte er.
Plötzlich begannen die Krallen der Schwalben sich zu verändern und ihre Beine wurden dicker und länger. Ihre Flügel und Finger verwandelten sich in Handgelenke und Ellenbogen und ihnen wuchsen Schultern. Die schwarzen Augen wurden blasser, ihre Federn wurden zu Haaren und Kleidern, und am Ende waren Hänsel und Gretel von den sieben Brüdern umringt.
»Er vermisst uns wirklich?«, fragte der kleinste von ihnen. Hänsel und Gretel, die von der Verwandlung vollkommen erstaunt waren, nickten stumm.
Die Jungen umarmten sich, lachten und jubelten. Der älteste wandte sich an Hänsel und Gretel und lud sie in den Kristallberg ein, wo sie alle warme Milch tranken, Schwarzwälder Kirschtorte aßen und bis tief in der Nacht redeten.
Am nächsten Tag luden die Brüder Hänsel und Gretel ein, mit ihnen zurück nach Hause zu kommen.
Hänsel und Gretel erbaten sich Zeit zum Nachdenken. Als sie alleine waren, sagte Hänsel: »Ich will nicht zurückgehen, Gretel.«
Gretel nickte nachdenklich. Hänsel setzte sich auf den Boden. »Ich will nicht bei einem Vater leben, der in der Lage ist, seinen Kindern so etwas anzutun.« Er dachte an all die anderen Eltern, die sie kennengelernt hatten. Sein eigener Vater hatte ihm den Kopf abgeschnitten. Die Bäckersfrau hatte versucht, ihn zu essen. Und sein neuer Vater hatte seine Kinder zu Schwalben verwünscht.
Gretel dachte genau das Gleiche. Sie blickte auf ihre Hand, dorthin, wo ihr Finger hätte sein sollen. Sie sah Hänsel an. Er war schlanker und muskulöser als je zuvor. Sie waren beide viel stärker geworden auf ihrer Reise zum Kristallberg.
»Vielleicht brauchen wir gar keine Eltern«, sagte sie nachdenklich. »Vielleicht können wir auf uns selber aufpassen.«
»Ja!«, rief Hänsel und sprang auf. »Lass uns ganz ohne irgendwelche schrecklichen Eltern leben!«
Und die zwei tapferen Kinder, die nun beide ein wenig älter und viel, viel weiser waren als früher – und gemeinsam nur noch 19 Finger hatten – zogen in die Welt, um ihr eigenes Leben zu beginnen.
Ich werde jetzt nicht noch einmal »Ende« sagen. Ihr wisst sowieso, dass es nicht stimmt.
Die nächste Geschichte ist wirklich düster. Furchterregende Dinge passieren. Es könnte sein, dass sie euch Angst machen – und das sage ich zu den großen Kindern.
Was die kleinen Kinder angeht: Falls sie immer noch zuhören sollten, so warne ich euch, nein, ich flehe euch an: Scheucht sie weg. Lasst sie diese Geschichte auf keinen Fall hören. Sie könnten davon Albträume bekommen. Nein, sie werden davon Albträume bekommen.
Lest die Geschichte zuerst selber einmal durch. Und falls ihr dann denkt, dass die kleinen Kinder sie aushalten, dann könnt ihr sie ihnen vielleicht, vielleicht vorlesen. Wenn sie aber anschließend wochenlang nicht schlafen können, seid ihr ganz allein daran schuld.