Es waren einmal ein Bruder und eine Schwester, die klatschten in die Hände (einer der Hände fehlte ein Finger) und liefen die weißen Berge hinab, durch grüne Hügel und große, wundervolle Wälder.
Ihr Weg war gesäumt von riesigen Bäumen, die aussahen wie die Säulen des Himmels. Die Vögel sangen und flogen ganz nah an ihren Gesichtern vorbei. Kleine Nagetiere, Eichhörnchen und Mäuse, schlüpften aus dem Unterholz. Ein Rehkitz sah sie mit großen Augen an, versteckt hinter einem Büschel Farne, und lief dann seiner Mutter hinterher. Alles in diesem Wald war grüner und lebendiger als an jedem anderen Ort, den Hänsel und Gretel jemals gesehen hatten.
Der Wald verfehlte nicht seine Wirkung auf die Kinder. Hänsel lief vor seiner Schwester her und sprang durch die Farne und wieder zurück, wie ein junger Hund, den man von der Leine gelassen hatte. Gretel lachte und sang und sammelte Vergissmeinnicht und Gänseblümchen und andere Wildblumen.
»Wir könnten hier leben!«, rief sie ihrem Bruder zu.
Hänsel schrie vor Glück und lief einer tief fliegenden Amsel hinterher.
Bald kamen die beiden zu einer Lichtung, auf der ein riesiger Baum stand. Er war so hoch, dass sie von unten nicht einmal erkennen konnten, wo seine tiefsten Äste begannen. Aber als sie lange genug in den Himmel starrten, konnten sie ganz weit oben eine grüne Krone erahnen.
Gretel schrak zurück, als sie in der Rinde des Baumes etwas entdeckte, das aussah wie das Gesicht einer Frau. Es bestand ganz und gar aus Holz. Braunes Haar umrahmte ihre feinen Wangenknochen und ihre großen Augen. Gebannt lief Gretel darauf zu.
»Was für ein fantastischer Baum«, sagte sie.
»Danke«, antwortete der Baum.
Man hätte jetzt erwarten können, dass Gretel erschrak oder Hänsel nach hinten kippte und über einen Baumstamm fiel, aber nichts dergleichen passierte. Die Stimme des Baumes war so sanft, dass die Kinder gar nicht verwundert waren.
»Willkommen in meinem Wald«, fuhr der Baum fort. »Er nennt sich ›Lebenswald‹«.
Der Baum blickte die Kinder freundlich an. »Pflanzt etwas«, fuhr er fort. »Und seht zu, wie es vor euren Augen sprießt. Beobachtet die wilden Tiere beim Springen, Hüpfen und Wachsen. Auch ihr werdet hier wachsen und glücklich sein.« Und die hölzernen Augen des Baumes wanderten von Hänsel zu Gretel. Dann fragte er: »Habt ihr vor zu bleiben?«
Hänsel sah Gretel fragend an. Sie nickte und sagte: »Wenn du nichts dagegen hast.«
»Ihr dürft gerne bleiben.« Der Baum lächelte und fügte dann hinzu: »Aber ich habe eine Bitte. Nehmt euch nicht mehr, als ihr braucht. Das Leben hier existiert in einer empfindlichen Balance. Bringt sie nicht aus dem Gleichgewicht.«
Dann erzählte der Baum ihnen, dass in der Nähe ein wunderschöner Ort lag, an dem sie ein Haus bauen könnten. Die Kinder bedankten sich höflich, denn es ist immer gut, zu sprechenden Bäumen höflich zu sein. Dann sagten sie auf Wiedersehen und gingen zu dem Ort, den der Baum ihnen genannt hatte.
Bald kamen sie zu einer kleinen Lichtung. Einige große Felsen lagen dort, halb von Erde bedeckt, ein Bach plätscherte munter über helle Kiesel, und die Sonne schien durch die grünen Blätter. Hänsel und Gretel waren sicher, dass der Baum diesen Ort gemeint hatte. Sie sammelten herumliegende Äste und Farnwedel und bauten daraus eine kleine Hütte, zur Hälfte hell, zur Hälfte schattig, die sich an die großen Felsen schmiegte. Dann sammelten sie noch mehr Farnblätter und Moos und bauten sich daraus zwei Betten. Am Ende sammelte Gretel Samen, um einen Garten anzupflanzen, und Hänsel suchte nach Nüssen und Beeren fürs Abendessen. In dieser Nacht ließen sie es sich gut gehen.
Gretel sagte, dass sie noch nie so glücklich gewesen war, und Hänsel stimmte ihr zu. Sie beschlossen, dass sie nichts anderes zum Leben bräuchten – ganz sicherlich keine Eltern – und dass sie so bis ans Ende ihres Lebens glücklich sein würden.
Na klar. (Oh, habe ich das gerade laut gesagt?)
Am nächsten Tag suchte Hänsel Essen fürs Abendbrot und Gretel kümmerte sich um den Garten. Hänsel lief zwischen den riesigen Bäumen hindurch und hörte den Vögeln beim Singen zu. Er dachte sich: Was für ein Leben! Was für ein Glück! Ich will ganz und gar Teil dieser Welt sein! Genau da lief ihm ein braunes Kaninchen über den Weg. Hänsels Knie zuckten. Und bevor er sich dessen bewusst wurde, rannte er dem Kaninchen durchs Unterholz hinterher.
Als die Sonne unterging, wanderte er zurück zu der Lichtung, erschöpft, aber glücklich wie die zwitschernden Vögel. Das Kaninchen trug er in seiner Hand. Es war tot. Er legte es vor Gretel auf den Boden.
»Jetzt müssen wir ein Feuer machen, damit wir es essen können«, sagte er.
Aber Gretel war aufgebracht. »Warum hast du das gemacht?«, fragte sie. »Wir brauchen das nicht!«
Plötzlich tat es Hänsel leid, das kleine Tier getötet zu haben, nur weil die Jagd so schön gewesen war. Sie machten ein Feuer und kochten und aßen das Kaninchen, damit es nicht verrotten würde. Aber Hänsel musste Gretel hoch und heilig versprechen, nicht noch mehr Tiere zu töten.
»Alles was wir brauchen, haben wir hier«, sagte Gretel. »Erinnere dich an die Worte des Baumes.«
Hänsel hatte ein schlechtes Gewissen und versprach es.
Aber am nächsten Tag, als er durch den Wald lief, um nach Nüssen und Beeren zu suchen, sah er ein kleines Rehkitz, das an einem Farn knabberte. Seine Beine begannen zu zucken und sein Herz fing an zu rasen. Er erinnerte sich an das Versprechen, das er seiner Schwester gegeben hatte. Er sagte zu sich selbst, dass er das Reh nicht jagen solle. Aber es lag irgendetwas in der Luft, in dem Grün ringsum, in dem modrigen Geruch der Bäume, das in ihm einen Instinkt weckte. Er konnte nichts dagegen unternehmen. Wie ein Blitz war er hinter der verängstigten Kreatur her.
Als die Sonne unterging, kam er zu der Lichtung zurück, erschöpft und glücklich wie die kleinen Tiere, die im Unterholz herumsprangen. Über seine Schulter hatte er das tote Rehkitz geworfen. Er legte es vor seiner Schwester auf den Boden.
»Was hast du getan?!«, rief sie.
Er versuchte sie zu beruhigen. »Jetzt haben wir genug Fleisch für einen ganzen Monat!«, sagte er. »Und ich muss für eine lange, lange Zeit kein Tier mehr töten!«
Sie sah ihn verzweifelt an und begann bitterlich zu weinen. »Warum hast du das getan?«, murmelte sie. »Wir haben hier alles, was wir brauchen. Erinnere dich an die Worte des Baumes.«
Hänsel erinnerte sich ein weiteres Mal und er empfand tiefe Reue.
In der Nacht wälzte er sich hin und her. Er war auf sich selbst wütend. Hatte seine Schwester ihn nicht gewarnt? Hatte der Baum ihn nicht gewarnt? Nehmt nicht mehr, als ihr braucht. Er und Gretel hatten am Abend so viel von dem Rehkitz gegessen wie sie konnten, und es sah immer noch so aus, als hätten sie es noch nicht einmal berührt. Jetzt lag der Kadaver draußen im Gras und zog Fliegen an. Sein Gestank verpestete die wunderschöne Lichtung. Als Hänsel daran dachte, beschloss er, sich ab jetzt nicht mehr von seinen Instinkten leiten zu lassen.
Am kommenden Tag, bevor er in den Wald ging, um Früchte zu sammeln, musste er Gretel bei seinem Leben schwören, dass er kein weiteres Tier töten würde. Er umarmte seine Schwester, glücklich, dass sie ihm noch einmal vergeben hatte, und versprach, dass er nie wieder ein Lebewesen töten würde, solange sie in diesem Wald lebten. Gretel küsste ihn auf die Stirn, als sei er viel jünger als sie, und ließ ihn in den Wald ziehen, um Nüsse und Früchte zu holen.
Er wärmte sich den ganzen Tag in dem wunderschönen grünen Licht der Blätter und sammelte Beeren in seinem zerlumpten Hemd, das er sich um die Hüfte gebunden hatte wie eine Schürze. Er fühlte den Frieden und die Ruhe des Waldes, und er fragte sich, warum er das nicht schon früher so empfunden hatte und warum er in den letzten beiden Tagen von dieser unkontrollierbaren Lust getrieben worden war.
Und dann sah er eine weiße Taube auf einem nahen Ast sitzen. Etwas kribbelte in seinen Armen und Beinen. »Tu es nicht«, sagte er zu sich selbst. »Es ist falsch.« Er begann zu zittern. »Geh nach Hause. Dreh dich um und geh nach Hause.« Aber gegen seinen eigenen Willen pirschte er sich an die Taube an. Die Beeren fielen aus seiner Schürze zu Boden.
Als die Sonne an diesem Abend unterging, lief er zur Lichtung zurück, erschöpft, aber glücklich wie ein satter Wolf. Seine Arme und sein Gesicht waren voller Blut. In seinen Händen lag der tote, zerschlagene und ausgeweidete Körper des Täubchens. Gretel schrie, als sie ihn sah.
»Was hast du getan!«, rief sie. »Hänsel, was stimmt mit dir nicht?«
Hänsel blieb stehen.
Dann sah sie den toten Vogel an. Sie sah, dass die Arme ihres Bruders über und über mit Blut bespritzt waren und dass auf seinem Hemd Flecken von Blut und Beerensaft waren. Sie fragte sich, was mit den Beeren geschehen war. Gretel begann zu weinen. Hänsel, verwirrt und aufgeregt, legte die Taube zu ihren Füßen. Gretel schreckte zurück und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Er sah sie an und fühlte sich schrecklich. Aber nicht so schrecklich wie in der Nacht zuvor. Er drehte sich um und lief in den Wald zurück.
Danach begegnete Gretel Hänsel nur noch von Zeit zu Zeit. Manchmal, wenn sie im Wald Beeren suchte, sah sie ihn hinter einem Tier herlaufen. Am Anfang blieb er noch stehen, um mit Gretel zu sprechen, wenigstens einen kurzen Moment. Aber nach einer Weile bemerkte sie, dass es ihm immer schwerer fiel, Worte zu finden. Er war ständig abgelenkt, weil er nach Wildtieren Ausschau hielt oder mit ruckartigen Bewegungen dem Flug eines Vogels folgte. Bald schon sprach er überhaupt nicht mehr mit ihr.
Sie fand überall im Wald Tierkadaver. Einige waren zur Hälfte aufgegessen, andere kaum berührt worden. Einmal entdeckte sie einen wilden Eber, der größer war als Hänsel, mit gebrochenem Genick. Sie fragte sich, wie Hänsel so kräftig und so grausam hatte werden können.
Nach einer Weile erahnte sie ihren Bruder nur noch als vorbeihuschenden Schatten. Ein Schimmer seiner Haut hinter Bäumen, der Schrei eines sterbenden Tieres und dann Hänsels Freudengebrüll. Sie bemerkte, dass er sich langsam veränderte. Es wuchsen ihm Haare im Gesicht und auf dem Rücken.
Gretel fürchtete sich allein im Wald, besonders in der Nacht. Sie hörte Geheul. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es früher schon da gewesen war. Sie fragte sich, ob es Hänsel war, der da draußen so heulte.
Vor lauter Angst, ihn zu treffen, entfernte sie sich kaum noch von ihrer Hütte. Eines Tages kam er auf die Lichtung. Gretel starrte ihn erschrocken an. Er lief vornübergebeugt. Sein Körper war über und über mit Fell bedeckt: seine Arme, sein Rücken, sein Gesicht, seine Brust. Zitternd bot sie ihm eine Handvoll Beeren und Nüsse an. Er knurrte. Sie ließ die Beeren fallen und versteckte sich in der Hütte. Er knurrte lauter und lief noch eine Weile auf der Lichtung herum. Gretel fragte sich, ob er sie nun töten würde. Aber er lief weiter.
Im Wald gab es immer weniger Tiere. Gretel hörte keine Vögel mehr singen. Sie sah keine kleinen Nager mehr im Unterholz und keine Rehe hinter den Farnen.
Und dann, eines Tages früh am Morgen, kam eine Jagdgesellschaft – ein Herzog und sein Gefolge – in den Wald. Sie bliesen in ihre Jagdhörner und ihre Hunde jaulten und bellten. Gretel hatte Angst. Aber noch mehr Angst als um sich selbst hatte sie um Hänsel. Sie ging in die Hütte und blieb dort den ganzen Tag und hoffte, dass er zu ihr kommen würde.
Die Hunde und Jäger durchkämmten den Wald nach Tieren. Zu ihrer großen Überraschung konnten sie keine finden. Den ganzen Tag suchten sie vergeblich. Der Herzog wurde wütend und ungeduldig. Und dann, am Abend, sah er eine seltsame, haarige Kreatur hinter einem Baum hervorlugen.
»Dort drüben!«, rief er, und sofort waren die Hunde auf seiner Fährte.
Hänsel flüchtete durch den Wald, erregt von der Jagd. Die Hunde waren ihm auf den Fersen, Jagdhörner erfüllten die Luft.
Er bahnte sich seinen Weg, keuchend, knurrend, lachend und johlend. Was für ein Spaß!, dachte er. Was für ein großartiger, schrecklicher Spaß!
Zuletzt kam er an den Rand eines Baches. Am Weg saß der Herzog auf seinem Pferd, spannte seinen Bogen und zielte auf ihn. Hänsel starrte gebannt auf den verschwitzten, rotgesichtigen Mann mit dem seltsamen Stock. Er hörte ein Klacken und ein Zischen. Es erinnerte ihn an das Geräusch einer Schlange. Ein Pfeil flog durch die Luft – ein unbeirrbarer, einfacher Todesbote. Hänsel verfolgte ihn mit dem Blick bis zu seiner Brust, in der Höhe seines Herzens. Dort grub sich der Pfeil in sein Fleisch. Hänsel fühlte einen stechenden Schmerz und fiel auf den Waldboden.
Die Jäger banden das seltsame tote Tier an einen Pflock und brachten es in einem Triumphzug zum Schloss.
Am nächsten Morgen durchsuchte Gretel den Wald nach ihrem Bruder. Lange fand sie nichts als zerbrochene Äste und die Abdrücke von Pfoten. Endlich kam sie zu dem Fluss und entdeckte die rot befleckte Erde. Die Felsen am Wasserrand waren voller Blut.
Sie rannte zu dem sprechenden Baum. »Mein Bruder wurde getötet!«, schrie sie.
Aber der Baum redete nicht mit ihr. Gretel fiel auf den Boden und schluchzte und schluchzte. Sie war ganz allein in einem großen Wald, gefangen in einer düsteren Geschichte. Ihr Vater hatte versucht, sie zu töten. Sie war fast von der Bäckersfrau gegessen worden und hatte sich ihren eigenen Finger abgeschnitten. Und jetzt war ihr Bruder tot.
Sie würde ganz sicher nicht in diesem Wald bleiben. »Ich muss dorthin zurück, wo Menschen sind«, sagte sie, als sie sich die Tränen vom Gesicht wischte. »Dorthin, wo Erwachsene sind.« Als sie den Lebenswald verließ, hörte sie wieder Vögel zwitschern. Doch das verstärkte ihren Schmerz lediglich. Die Tiere kamen nur zurück, weil Hänsel tot war.
Wir sind jetzt an einem Punkt angekommen – und ihn gibt es in fast allen Geschichten –, wo es um die Dinge wirklich, wirklich schlecht steht. Wo es sich so anfühlt, als könnte man nicht mehr weiterlesen, wenn es noch schlimmer kommt.
Als ich klein war, nannte ich das den »traurigen Teil«. Ich wusste, er würde in jeder Geschichte vorkommen, und ich wusste, dass es danach nur besser werden konnte. Aber bis es wieder bergauf ging, wiederholte ich immer: »Das ist der traurige Teil, das ist der traurige Teil.«
Als ich diese Geschichte zusammengefügt habe, kam ich wieder an diesen Punkt. Ich erkannte, dass das nun der traurige Teil war. Diesen Gedanken wiederholte ich immer wieder, damit es sich nicht ganz so schlimm anfühlte.
Aber es half nichts. Das tut es nie. Es tut immer weh, wenn eine geliebte Figur stirbt und eine andere allein zurückbleibt.
Trotzdem werde ich euch jetzt sagen, genau wie ich es mir immer selber sage, dass es auch wieder besser wird. Viel besser. Das verspreche ich.
Aber noch sind wir nicht so weit.