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»Was für ein Mist!« Nele schimpfte über den Stau, der sich einfach nicht auflösen wollte.

»So komme ich nie in diesen merkwürdigen Geschichtengarten!«, sagte sie dann zu einer Fliege an der Windschutzscheibe.

Der Schweiß lief ihr den Rücken herab. In ihrem alten Auto war die Klimaanlage defekt, außerdem war es viel zu heiß für September. Die halbe Welt schien auf der Suche nach Erfrischung unterwegs an die Ostsee zu sein. Wie war es nur dazu gekommen, dass sie ausgerechnet jetzt auf dem Weg nach Rügen war? Und das mit einem Baum auf der Rückbank.

Vor ihr stand seit einer guten Viertelstunde ein Lastwagen und bewegte sich keinen Zentimeter. Nur die überlaute Countrymusic, die aus dem Fahrerfenster dröhnte, erschütterte das Gefährt von Zeit zu Zeit. Ein haariger Arm hing heraus und schlug im Takt gegen das Blech. Nele lehnte sich resigniert zurück und versuchte, sich an den Tag zu erinnern, der sie aus ihrem vertrauten Alltag gerissen und in diese Lage gebracht hatte. Sie versetzte sich nur allzu gern wenigstens in Gedanken auf die Bühne des kleinen Theaters, das sie so liebte. Beinahe konnte sie die Stimme ihrer Chefin hören.

»Das geht so nicht, Nele! Du hast Mars und Venus verwechselt.« Teddy hatte sehr streng geblickt. »Du bist in letzter Zeit überhaupt nicht bei der Sache. Da wird jetzt mal etwas dran geändert!«

Zerknirscht zeigte Nele den beiden Kindern ihre richtigen Plätze im Tanz der Planeten. Diese Aufführung musste perfekt werden. Bald hatten sie Premiere, und das Theater war das Herzensprojekt ihrer alten Lehrerin Teddy. Und außerdem eine große Chance. Teddy hatte es verdient, dass Nele ihr Bestes gab, anstatt über andere Dinge nachzudenken.

Ein Kind kam angerannt. »Nele, kann ich doch lieber eine Wolke sein als ein Stern?«

»Nanu? Bist du sicher, Mia?«

»Jaaa, ganz sicher. Bitte, Nele! Die Kostüme sind so schön.«

Sie hatte fast damit gerechnet. Tüll gab es noch genug im Fundus. »Na, zum Glück geht das noch. Aber du musst Teddy erst fragen.«

»Mach ich!« Glücklich hüpfte Mia davon.

EINFACH THEATER stand über dem schlichten Eingang nahe der altehrwürdigen Albertbrücke, deren steinerne Bögen sich über die Elbe schwangen und schon viel gesehen hatten. Denn hier gab es keine anspruchsvollen, aufwendigen Inszenierungen, die schwer zu verstehen waren. Hier wurde Theater für alle gespielt, einfache Geschichten mit klaren Inhalten, die von menschlichen Schwächen und Liebenswürdigkeiten und den kleinen Wundern der Welt erzählten. Etliche davon waren für Kinder gedacht, aber so, dass sie ihren Eltern ebenso gefielen.

Teddy und ihr Team hatten sich mit Schweiß und Tränen einen guten Ruf aufgebaut. Da durfte man auf gar keinen Fall mal eben das Universum auf den Kopf stellen, indem man die Planeten verwechselte!

Teddy hieß eigentlich Thusnelda. Nele hatte nie gedacht, dass es Frauen gab, die wirklich so hießen, bis sie Teddy kennenlernte, die das auch nie richtig hatte glauben wollen und von klein an auf ihrem Spitznamen bestand. Selbst, als sie Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden wurde.

Der Name passte zu ihr. Sie war breit und gemütlich, trug kurze silberne Haare, die an den Seiten wie Ohren hochstanden, wenn sie sich hindurchfuhr, und besaß eine tiefe Stimme, die man überall heraushörte. Dementsprechend verschaffte sie sich mühelos Respekt bei ihren Studenten, die ein gemischtes, kreatives und eigenwilliges Völkchen waren, mit wild wuchernden Ideen und Plänen in den Köpfen. Sie konnten eine wohlwollende leitende Hand gebrauchen. Nele war eine von ihnen gewesen und hatte diese Hand besonders nötig gehabt, weil in ihrem Kopf ein solches Chaos an Einfällen herrschte, dass sie nicht immer damit zurechtkam.

Sie war in Dortmund aufgewachsen. Anfangs hatte sie Heimweh gehabt. Doch wenn sie Teddys Ausführungen lauschte oder auf der Albertbrücke stand und die Silhouette der Stadt betrachtete, bereute sie nicht einen Tag, hier Bühnen- und Kostümbild studiert zu haben.

Nun hatte sie ihr Diplom schon ein paar Jahre in der Tasche, aber es war schwer gewesen, Aufträge zu bekommen. Als Teddy in den Ruhestand ging und endlich ihren Traum vom eigenen Theater verwirklichen wollte, hatte sie Nele angerufen, die ihr schon öfter bei praktischen Projekten assistiert und mit der sie unter ihren Studentinnen am besten harmoniert hatte. Nele kam gut mit Teddys gelegentlich barscher Art klar.

»Macht nichts«, hatte sie unbekümmert geantwortet, als Teddy sich einmal bei ihr dafür entschuldigt hatte. »Ich bin das gewöhnt. Meine Großmutter Vio ist da ganz ähnlich. Und sie ist genau richtig so.«

»Vio?«, wunderte sich Teddy.

»Violaine«, erklärte Nele. Sie hatte den vollen Namen immer wunderschön gefunden, aber Vio wollte ihn nicht hören. »Viel zu umständlich. Der gehört in eine andere Zeit«, hatte sie kategorisch abgewinkt.

Teddys Gesicht hellte sich auf. »Ah! Noch so ein merkwürdiger Name! Da scheinen wir ja einiges gemeinsam zu haben, deine Oma und ich. Lade sie doch unbedingt mal zu einer Generalprobe ein!«

Teddy und Vio, so unterschiedlich sie bis auf die gelegentliche Ruppigkeit im Wesen waren, verstanden sich von Anfang an glänzend, obwohl Vio um einiges älter war als Teddy. Nele war sich nie sicher, wie begeistert sie davon war. Wenn sie den beiden zuhörte, wie sie über Neles Leben diskutierten, fühlte sie sich manchmal wieder wie ein Kind. Doch zurzeit, da Vio hinfälliger wurde, war es gut, dass sie mit Teddy über ihre diesbezüglichen Sorgen sprechen konnte.

»Was ist los mit dir, Nele? Wo bist du nur neuerdings immer mit deinen Gedanken?«, fragte diese, nachdem Nele den Kindern nach der Probe aus ihren Kostümen geholfen hatte. Nun saß sie hinter den Kulissen und vollzog einige Änderungen am Hut des kleinen Mars. Dabei konnte man gut nachdenken. An den Bäumen im Hintergrund musste sie auch noch etwas verbessern. Sie fand, ein Bühnenbild stimmte fast immer erst, wenn einige Baumsilhouetten lebendige Akzente setzten. Das gab dem Raum Tiefe, Höhe und Lebendigkeit.

»Vio hat mich vor ein paar Wochen gebeten, ihr bald einen Wunsch zu erfüllen.« Nele bekam schon wieder einen Kloß im Hals und musste aufpassen, sich nicht in den Finger zu stechen. Die Oberfläche des Mars, die wie rote Steine wirken sollte, war so widerspenstig.

»Und wo ist da das Problem?«, erkundigte sich Teddy geduldig. »Deine Großmutter hat selten Wünsche, soviel ich weiß.«

»Eben! Genau das macht mir Angst. Was, wenn es ihr letzter ist? Wenn sie nur noch bleibt, bis das erledigt ist?« Nele ärgerte sich über die Tränen, die sie selbst in ihrer Stimme hörte. Ihre Chefin hielt nichts von Gefühlsausbrüchen.

Doch Teddy berührte tröstlich ihre Schulter. »So ein Unsinn. Vio hat noch eine Menge Energie in sich, glaub mir!«

»Aber das Laufen fällt ihr immer schwerer. Manchmal kann sie kaum das Gleichgewicht halten.«

Teddy schnaubte. »Daran stirbt man nicht. Umso klarer ist sie im Kopf. Ich hatte gerade neulich erst mit ihr eine Diskussion über Quantenphysik. Ernsthaft! Was will sie denn von dir?«

»Ich soll für sie Bäume versetzen.«

»Bitte was sollst du?«

»Na ja, ein Bäumchen«, gab Nele zu. »Ich soll für sie einen jungen Baum, den sie im Balkonkasten gezogen hat, nach Rügen bringen. Also, den Baum hat das Eichhörnchen wohl dort eingepflanzt. Aber seither hegt und pflegt sie ihn. Ich habe mich schon länger über diese Kiefer zwischen Goldmohn und Minipetunien gewundert, aber Vio hat nichts dazu gesagt. Und nun behauptet sie, es wäre Schicksal, dass die von selbst da gewachsen ist, und ich soll ihr in einem Garten auf Rügen einen Platz suchen, wo Menschen Pflanzen mit einer persönlichen Geschichte hinbringen können. Die Geschichte wird daneben auf ein großes Schild gedruckt, damit alle Besucher sie lesen können und sie nicht vergessen wird. Ein Garten der Lebensgeschichten sozusagen.«

»Na, das klingt doch schön. Fast wie ein sehr langsames Theater«, fand Teddy. »Jetzt bin ich aber neugierig. Was ist denn Vios Geschichte?«

»Keine Ahnung!«, sagte Nele verstimmt. »Sie sagt, darum brauche ich mich nicht zu kümmern. Die hat sie den Leuten dort schon geschickt, damit die das Schild drucken können. Ich soll bloß noch den Baum hinbringen.«

»Und nun drängt sie dich dazu?«

»Eben nicht! Sie hat mich nur einmal darum gebeten, das Bäumchen dort hinzubringen, wenn ich mal Zeit habe. Seitdem hat sie kein Wort mehr gesagt.«

»Und umso mehr lastet es auf deiner Seele und lenkt dich ab«, stellte Teddy fest.

»Scheint so. Dieser komische Baum steht da auf ihrem Balkon und sieht mich jedes Mal mahnend an, wenn ich sie besuche.«

»Na, da gibt es nur eins.« Teddy nahm ihr die Nadel aus der Hand. »Du machst es einfach! Und zwar so schnell wie möglich. Vom Warten wird es nicht besser.«

»Aber, Chefin, die Premiere ….«

»Nix da. Kein aber .« Teddys Meinung war so fest und unerschütterlich wie der Turm der wiederaufgebauten Frauenkirche. »Aber ist die Pest! Es hält einen von allem ab, was man längst hätte tun sollen. Zum Kuckuck damit. Geh packen! Um die kleinen Wolken und Planeten können wir uns eine Weile auch ohne dich kümmern. Du hast Katrin gut angelernt, die schafft das schon.«

Genau das wollte Nele nicht. Es war doch auch ihr Projekt! Sie hatte schon so viel Leidenschaft hineingesteckt, nächtelang an Details der Kulissen gebaut und die Kostüme ausgearbeitet. Sie liebte es, Dinge mit ihren Händen zu gestalten. Bühnenbilder und Gewänder aus recyceltem Material, wenn möglich, und doch voller Phantasie und Märchenhaftigkeit, die den Aufführungen ihren besonderen Zauber verliehen und die Zuschauer in andere Welten mitnahmen.

Doch sie kannte Teddy, die leider auch noch recht hatte, und wagte kein weiteres Aber.

»Ich hatte keine Wahl«, sagte Nele zu der Fliege. Jetzt stand sie also in diesem bescheuerten Stau und sehnte sich zurück in ihre enge Werkstatt, wo sie schneiden, nähen, formen, nageln und zeichnen konnte. Wenn sie Pappe bog und Umrisse ausschnitt, Drahtgestelle montierte oder Modelliermasse anstrich, gab ihr dies das Gefühl, alles im Griff zu haben. Das Leben. Die Welt. Sich selbst. Es half ihr, ihr altes Gespenst der Melancholie zu verscheuchen, das gar nicht zu ihr passte und sich dennoch immer wieder anschlich. Von hinten und völlig unerwartet, immer in jenen Momenten, in denen sie eigentlich glücklich war. Dann legte sich etwas über sie wie eine unsichtbare Wolke, ein kühler grauer Nebel, der sie lähmte. Mit Arbeit konnte sie das immer abschütteln, aber nie auf Dauer. Keiner wusste davon. Nele schämte sich dafür. Es ging ihr doch gut!

Aber dieses ungreifbare Gefühl hatte sie schon als Kind manchmal überkommen, seit sie ihre Freundin verloren hatte und es einsam um sie geworden war. Die Abstände waren irgendwann größer geworden, und sie hatte gehofft, es würde ganz verschwinden.

In letzter Zeit allerdings war diese graue, kalte Wolke immer öfter zurückgekehrt. Nele konnte sich das nicht erklären. Es erfüllte sie mit einer zunehmenden Unruhe, und auch das war ein Grund, warum sie nicht mehr so konzentriert gewesen war. Die Bitte ihrer Großmutter hatte es nur noch schlimmer gemacht. Alles schien außer Kontrolle zu geraten, ohne dass etwas Besonderes passiert war. Vielleicht konnte sie diesen Prozess ja aufhalten, indem sie den Baum pflanzte und Vio damit glücklich machte?

»Na endlich!« Der Lastwagen rollte an. Die Kolonne geriet in Bewegung, und sie kam Rügen immerhin ein paar Meter näher. Doch der Verkehr blieb zäh wie Kaugummi. Als sie einen Rastplatz entdeckte, fuhr sie kurzentschlossen auf den Parkplatz, stieg aus und atmete tief durch. Neben ihr an einem alten blauen Käfer, dessen Türen weit offen standen, lehnte eine ältere Frau. Sie aß einen Schokoriegel und hob ihn zum Gruß wie ein Weinglas, als ihr Blick Neles traf. »Schlimm heute auf der Straße. Da braucht man Seelenfutter.«

»Prima Idee. Das mach ich auch«, beschloss Nele und holte sich in dem kleinen Shop gleich zwei Riegel mit Erdnüssen und eine eiskalte Cola. Sofort ging es ihr besser.

»Und? Gut?«, fragte die Frau mit dem Käfer, die inzwischen genüsslich ein Eis am Stiel verspeiste.

»Sehr gut.« Nele lächelte ihr zu. Manchmal war es hilfreich, an die einfachen Dinge erinnert zu werden. »Auch wenn meine Mutter entsetzt wäre.«

»Ihre Mutter mag keine Schokolade?« Die Frau klang ehrlich erschrocken, als wäre das unvorstellbar. Nele musste lachen.

»Doch, schon. Aber meine Eltern sind beide Köche in einem Restaurant. Gehobene Küche. Für sie fällt ein Schokoriegel nicht unter essbare Dinge.«

»Also, mir schmeckt es!« Die Frau warf den Stiel in einen Papierkorb und leckte sich die Finger ab. »Was einen glücklich macht und einem neue Energie gibt, kann nicht verkehrt sein. Also dann, gute Weiterfahrt!«

»Danke, gleichfalls.« Nele sah dem Käfer nach, der in einer Wolke, die seinem hustenden Auspuff entströmte, holpernd zurück auf die Autobahn entschwand. Auf dem Rücksitz saß ein Pudel und schien ihr die Zunge herauszustrecken. Dem war bestimmt auch warm.

Sie holte sich noch ein Wasser, von dem sie dem Bäumchen im Topf etwas abgab. Es sah in der Hitze so deprimiert aus, wie sie sich vorhin selbst gefühlt hatte.

Und dann kaufte sie sich auch ein Eis. Die Kälte mit dem Vanillearoma kitzelte angenehm in ihrem Magen und weckte eine plötzliche, neue kleine Freude darüber, dass man sie gezwungen hatte, aus ihrem Alltag auszubrechen. Sie stand hier mitten im Nichts auf einem Rastplatz, an einem Ort, an dem sie noch nie gewesen war, völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Das wirkte erstaunlich befreiend. Andere Leute waren mit ihrem Hund unterwegs. Sie eben mit einem Baum. Das hatte was.

Vielleicht inspirierte sie dieser Garten auf Rügen ja zu dem einen oder anderen neuen Bühnenbild. Oder, wenn es dort so viele Geschichten gab, sogar für ein eigenes Stück? Sie hatte Teddy nie verraten, dass sie davon träumte, eines Tages selbst eines zu schreiben. Dann könnte sie die Kulissen bauen und die Kostüme für ihre Geschichte schneidern. Alles würde perfekt zusammenpassen.

Vielleicht war es das, was sie so unruhig machte? War es Zeit, endlich mit ihrem Vorhaben zu beginnen? Traute sie sich das denn zu? Zwar war sie inzwischen schon zweiunddreißig. Aber fehlte ihr dafür nicht trotzdem noch Erfahrung?

»Was du nicht versuchst, wirst du auch nicht schaffen«, sagte Vio immer in solchen Fällen. Neles Großmutter hatte niemals vor irgendeiner Aufgabe verzagt. Vielleicht lag es daran, dass sie nie verheiratet gewesen war. »Ich bin zu gern unabhängig«, hatte Vio auf alle mehr oder weniger diskreten Fragen zu ihrem Liebesleben geantwortet. »Das fordert mich, und ich roste nicht ein. Hat schon immer gut funktioniert.«

Vio war mit dieser Einstellung ihrer Zeit voraus gewesen. Den Namen von Neles Großvater hatte sie niemals jemandem verraten. Man ging davon aus, dass es ein Besatzungssoldat gewesen war, ein Engländer vielleicht oder ein Amerikaner, der wieder in seine Heimat entschwunden war und Vio entweder sitzengelassen oder gar nichts von seiner Vaterschaft gewusst hatte. Das war in jenen Jahren oft genug vorgekommen.

Nele wünschte, sie hätte mehr von Vios Mut und Entschlossenheit geerbt. Sie atmete tief durch und startete den Motor. Sie würde damit anfangen herauszufinden, ob jener Garten auf der Ostseeinsel vielleicht nicht nur Platz für einen Baum, sondern auch Inspiration für sie selbst zu bieten hatte.

Und gegen innere Unruhe sollte Reisen ja bekanntlich helfen.