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Nele saß dort, ohne sich zu rühren, bis sie allmählich auch innerlich zur Ruhe kam. Teddy und das Theater schienen unglaublich weit fort, aber das war auf einmal nicht mehr so schlimm, wie es ihr bis jetzt erschienen war. Katrin würde schon klarkommen, und Teddy war ja da, um zu helfen, wenn es nötig sein würde.

Sie lehnte sich zurück. Dabei entdeckte sie, dass sie unter einem Vogelbeerbaum saß, dessen Äste strahlend orangene Beeren trugen. Die Farbe wirkte unter dem blauen Himmel überwältigend intensiv. Unwillkürlich lächelte Nele, denn der Anblick brachte ihr Vio so nahe, als säße ihre Großmutter unsichtbar neben ihr. »Vogelbeeren in der Vase im Herbst, das muss sein! Sie bringen Glück. Wenn alles andere abzusterben beginnt, leuchten sie erst richtig hell und voller Lebensfreude«, hatte Vio jedes Jahr wieder erklärt und überall im Haus Sträuße aus Gräsern, Astern, Sonnenblumen, Dahlien, Lampionblumen und jeder Menge Vogelbeeren verteilt, die dann irgendwann abzufallen begannen und überallhin rollten.

Nele pflückte eines der fiedrigen Blätter und zerrieb es zwischen den Fingern. Ja, da war das charakteristische Bittermandelaroma. Es musste ein alter Baum sein, die Rinde war dunkel und rissig. Den selbst gebrannten »Vogelbeergeist« in Flaschen, den ein Nachbar gelegentlich vorbeibrachte, wusste Vio auch zu schätzen. Nele hatte er nie geschmeckt, aber das Knallorange der Beeren war wie ein Gruß und erdete sie wieder in der Realität. Anscheinend hatte die lange Fahrt mit der Kiefer etwas in ihr bewegt. Der knorrige Baum erschien ihr urplötzlich wie ein alter Freund. »Zum ersten Mal verstehe ich dich, Vio«, murmelte sie und ließ ihre Hand eine Weile auf der warmen Rinde liegen.

Einen schönen Platz hatte er hier. Zumindest als Baum konnte man sich an einem so ruhigen, einsamen Ort bestimmt wohlfühlen.

Nele rappelte sich auf, wanderte noch ein Stück weiter und kehrte dann um. Der Gedanke an Marions Salat war auf einmal ebenso verlockend wie der an menschliche Gesellschaft.

»Du kommst gerade richtig. Na, wie gefällt dir unsere Gegend?«

»Es ist wunderschön. Und so ruhig.«

Marion lachte. »Ja, so mancher muss sich daran erst gewöhnen. Aber keine Sorge, bei Remy im Garten ist reger Betrieb. Du wirst es morgen erleben.« Sie zeigte Nele eine Terrasse hinter dem Haus, blumengesäumt und voller weiß gedeckter Tische. »Der hier ist für dich. Was magst du trinken?«

Nele entschied sich für die hausgemachte Zitronenlimonade. An den anderen Tischen saßen ebenfalls Hausgäste. Das leise Stimmengewirr, unterbrochen von gelegentlichem Lachen, tat Nele so wohl wie der Duft von späten Rosen, der alles umwehte. Schwalben flogen übermütige Kapriolen um das Hausdach. »Bald werden sie nach Süden aufbrechen«, sagte Marion wehmütig, als sie den Salat servierte. »Dann wird es hier noch stiller. Ich vermisse sie immer.«

Wieder kamen Nele Worte von Vio in den Sinn. Auch wenn ihre Großmutter nicht hier war, so schien sie Nele doch auf ihre eigene Art auf dieser Reise zu begleiten. »Bäume bleiben immer an derselben Stelle. Das mag ich an ihnen«, hatte sie einmal gesagt, als eine Schar Wildgänse über sie hinwegzog. »Egal, wann du einen von ihnen besuchen möchtest, er ist immer zu Hause. Ihr eigener Ort genügt ihnen völlig. Nur ihre Samen schicken sie auf Reisen. Und darin sind sie ganz schön raffiniert.«

Raffiniert genug, um mittels eines Eichhörnchens einen Kiefernzapfen in Vios Balkonkasten zu pflanzen und dafür zu sorgen, dass Nele jetzt hier war, anstatt aus der kleinen Mia eine Wolke zu machen.

Nele widmete sich ihrem Salat, der herrlich nach Kräutern schmeckte und mit Blüten von Kapuzinerkresse dekoriert war. Dazu eine Scheibe Vollkornbrot, das allein schon eine Delikatesse war. Es schmeckte malzig, nach Herbst und Geheimnissen und einfach rund und gut. »Selbst gebacken«, sagte Marion stolz, als Nele sie darauf ansprach, und Nele fragte sich, ob sie das nicht auch einmal versuchen sollte. Das wäre etwas ganz Neues.

»Möchtest du noch etwas davon?«, bot Marion an.

»Danke, ich kann beim besten Willen nicht mehr, leider. Bekomme ich die Rechnung oder können wir es aufs Zimmer schreiben?«

»Das Zimmer hat deine Großmutter schon bezahlt«, meinte Marion.

»Oh. Das wusste ich nicht.« Typisch.

»Großmütter sind eben so«, fand Marion.

Oben im Zimmer hatte Nele Empfang. Endlich konnte sie Vio anrufen und ihr sagen, dass sie gut angekommen war.

»Gefällt es dir dort?«

»Ja, sehr! Es ist ungewohnt, aber schön. Und morgen bringe ich deinen Baum in den Garten.«

»Das ist gut, Liebes. Ich bin so froh, wenn er dort wachsen kann. Ein Topf ist kein Platz für einen Baum, und ein Balkon schon gar nicht. Sie müssen ihre Wurzeln in richtige Erde treiben können. In einen Boden.«

Nele berichtete noch von ihrer Begegnung mit dem Vogelbeerbaum und hörte ein wenig beschämt die Freude in Vios Stimme darüber, dass ihre Enkelin sich auf einmal solche neuen Gedanken machte.

»Sie muss immer den Eindruck gehabt haben, dass ich sie nicht verstehe und für wunderlich halte«, sagte Nele zu der Kiefer im Topf, die in der Sonne gestanden hatte und nun mit ihrem Duft den Raum erfüllte.

Nele lag eine Weile wach, ehe die Ruhe und die Atmosphäre von Geborgenheit sie doch in einen tiefen Schlaf sinken ließen, wie sie ihn schon lange nicht mehr gekannt hatte. Keine Träume von fehlerhaften Kostümen oder Kulissen, keine Schatten alter oder neuer Traurigkeit. Da war nur das Zirpen der Grillen vor dem Fenster und ein leichter Wind, der um die Hausecken strich.

Marion hatte recht gehabt. Vor, in und um den Geschichtengarten von Remy Kreyhenibbe herrschte zwar kein Gedränge, aber reger Betrieb. Menschen in Arbeitskleidung und mit Gartenwerkzeugen oder Schubkarren, Touristen mit Kameras und ganze Familien liefen fröhlich durcheinander. Vor dem Torbogen gab es Verkaufstische mit Blumensträußen, blühenden Ablegern und Körben voller Äpfel und Pfirsiche. Am Zaun rankten Winden und Waldreben, dahinter ragten Sonnenblumen empor, und davor blühten reihenweise Stockrosen zwischen blauen Bartblumen, von Bienen und Schmetterlingen umschwärmt. Es wirkte auf Nele wie eine Theaterszene vor einer zu üppigen Kulisse, die den Figuren die Schau stahl.

Für sie war es eine völlig fremde Welt. Es war so anders als Stadtparks oder die Ordnung der Botanischen Gärten, die sie in den Städten vieler Länder mit ihren Eltern besucht hatte. Etwas hilflos stand sie mit dem Topf im Arm vor dem Tor, bevor sie sich schließlich hineinwagte. Gleich kam eine große, schlanke Frau mit einem kurzen schwarzen Haarschnitt und sehr hellblauen Augen auf sie zugeeilt. An einer Schläfe zog sich eine einzige weiße Strähne durch eine Muschel.

»Hallo, du musst Nele sein«, sagte die Frau und lächelte sie herzlich an. »Ich erkenne es an der kleinen Kiefer. Deine Großmutter hat mir ja alles geschrieben. Wir haben das Schild mit der Geschichte schon fertig gemacht. Es ist eine schöne Geschichte, findest du nicht? Etwas traurig vielleicht, aber sie strahlt. Deine Großmutter muss eine bemerkenswerte Frau sein.«

»Ja, das ist sie, aber ich kenne die Geschichte noch gar nicht«, sagte Nele verlegen.

»Ach?«, fragte Remy interessiert.

»Vielleicht habe ich Vio nicht immer richtig zugehört.« Auf einmal war Nele den Tränen nahe.

»Das glaube ich nicht«, sagte Remy entschieden. »Es sollte dann wohl eher eine Überraschung sein. Oder sie hielt es für genau den richtigen Zeitpunkt. Bei vielen Geschichten ist es sehr wichtig, dass man sie genau zum richtigen Zeitpunkt hört. Oder am richtigen Ort. Sie hatte ganz gewiss einen Grund.«

»Habt ihr deshalb hier diesen Garten angelegt – damit man genau dann hingehen kann, wenn man eine Geschichte braucht?«, wollte Nele wissen.

Remy lächelte. »Vielleicht auch. Aber vor allem, damit sie nicht verlorengehen und weiterwachsen können und die Menschen sie in Sicherheit wissen. Die Pflanzen und die Geschichten. Komm und sieh es dir an!«

Irgendetwas an dieser Frau bewirkte, dass Nele sich entspannte. Remy Kreyhenibbe besaß eine lockere, fröhliche und herzliche Ausstrahlung, ohne unangenehm überschwänglich zu sein. Gleichzeitig war da eine unaufgeregte Souveränität. Der Eindruck, dass Remy genau wusste, was sie wollte, und das gelassen und entschieden in die Tat umsetzte. Während sie vorausging, sprach sie hier kurz mit einem Gärtner, gab dort einer Jugendlichen einen Auftrag, erklärte einem Gast auf dessen Frage hin die Bedingungen, die eine bestimmte Pflanze zum Gedeihen benötigte. Sie verlor keine Zeit, ohne dabei hektisch zu werden. So wäre ich auch gerne, dachte Nele.

Die Wege, die sich zwischen unzähligen großzügigen Beeten schlängelten, waren aus kurz gemähtem Gras. Es lief sich angenehm darauf. Nele spürte den Wunsch, die Schuhe auszuziehen, aber sie trug ja den Topf mit der Kiefer. Hoffentlich gab es für Vios Bäumchen hier überhaupt noch Platz? Es schien alles voll zu sein. Eine Fülle von Farben stürmte auf Nele ein. Sonnenblumen in Gelb und Dunkelrot, Dahlien in Rosa, Pink und Violett, Astern in Blau und Weiß und Burgunder, Kapuzinerkresse in Gelb und Orange, Löwenmäulchen in allen erdenklichen Schattierungen. Fast fühlte sie sich geblendet, verwirrt, wusste nicht, wohin sie zuerst sehen sollte. Einen Augenblick sehnte sie sich nach der Stadt zurück, in der Grau und Anthrazit vorherrschten, und nach den sanften Farben der Elbe.

Doch dann umhüllte sie ein Duft, und den hätte sie bestimmt nicht gegen die Gerüche von Benzin und Rauch eintauschen wollen.

»Das sind die Säckelblumen«, erklärte Remy und deutete auf blaublühende Sträucher, deren Blütenrispen sich unter dem Gewicht zahlloser Bienen bogen. »Hier im Blockhaus ist unser Büro, ich hole rasch das Schild für deinen Baum.«

»Vios Baum«, korrigierte Nele unwillkürlich.

Remy lächelte. »Ja, natürlich, Vios Baum.«

Während Remy fort war, beobachtete Nele einen Schmetterling, der auf den blauen Blumen von einer Blüte zur anderen flatterte und eine Art Tanz darauf aufführte. Dann eine Hummel, die in einer Löwenmäulchenblüte fast verschwand.

Das wären wunderschöne Kostüme. Vielleicht könnten wir im Frühling eine Aufführung mit Insekten machen?, dachte Nele. Mia wäre bestimmt gern ein Schmetterling. Und der flauschige Stoff, der vom letzten Winter übrig ist, der ginge gut für eine Hummel …

»So.« Remy war wieder da, einen Korb mit Werkzeug und ein großes Schild an einem Stock in der Hand. Eine papierne Schutzhülle war darübergezogen. »Ich trage es für dich, bis du den richtigen Platz für deinen Baum gefunden hast, dann lasse ich dich allein, damit du ihn pflanzen und die Geschichte in Ruhe lesen kannst.«

»Danke, aber …« Nele sah sich fragend um.

»Hier ist kein Platz mehr, meinst du? Ja, so sieht es aus. Hier nicht. Das ist der alte, ursprüngliche Teil des Gartens. Dort weiter hinten haben wir Land dazukaufen können. Anfangs war es ja ein Garten für Blumen und kleine Sträucher. Wir wollten eine Oase für Insekten schaffen, nicht nur für Geschichten und Pflanzen. Aber nach und nach haben wir festgestellt, dass viele Menschen auch zu Bäumen persönliche Beziehungen und Geschichten haben. Wir haben daher gerade begonnen, einen kleinen Geschichtenwald anzulegen.« Remy blieb kurz stehen, um eine umgefallene Sonnenblume aufzurichten und an einem Stab zu befestigen. »Er ist noch im Entstehen begriffen. Deshalb habe ich mich über die Anfrage deiner Großmutter besonders gefreut. Bäume benötigen natürlich mehr Zeit. Aber die können sie ja haben.« Remy lächelte Nele an. »Deine Kiefer braucht einen sonnigen Standort, dann hält sie fast alles aus – Frost, Sturm und auch einen mageren Boden.«

»Wie Vio«, sagte Nele. »Die hat sich auch von nichts umwerfen lassen. Sie hat meine Mutter ganz allein großgezogen.« Sie wusste auch nicht, warum sie das erzählte. An Remy war einfach etwas, das Vertrauen weckte.

»Das war damals bestimmt nicht leicht. Was hat sie denn gemacht?«, fragte Remy interessiert.

»Sie war Musiklehrerin. Und manchmal ging sie noch putzen oder hat bei einem Gärtner ausgeholfen.«

»Und spielst du auch ein Instrument?«

»Ja, Gitarre. Das kann ich manchmal im Theater gebrauchen.«

»Ach, das ist schön! Hast du Lust, heute Abend zu unserem Sommerfest zu kommen? Wir veranstalten immer eines zu Sommeranfang und ein zweites, wenn der Sommer langsam zu Ende geht und es schon früher dunkel wird. Dann gibt es ein Lagerfeuer und ein Buffet mit Essen, und wenn du dazu Gitarre spielen könntest, wäre das etwas Besonderes!«

Remy war offenbar jemand, der Chancen ergriff, sobald sie sie entdeckte. Wahrscheinlich hatte sie deshalb so viel auf die Beine stellen können.

»Ja, wenn du das möchtest, gerne.« Nele war sich nicht sicher, ob sie vor so vielen Fremden spielen wollte. Aber so anders als im Theater würde es wohl nicht sein. Und irgendwie war es tatsächlich unmöglich, zu Remy »Nein« zu sagen. Nun wusste sie, was Marion damit gemeint hatte.

Schließlich gelangten sie an einen niedrigen Wall aus Feldsteinen, der mit Moos, Glockenblumen und kleinen Farnen bewachsen war. Eine Eidechse huschte darüber und verschwand in einer Ritze, und an einem Loch flogen Hummeln ein und aus. »Die Steine haben wir alle beim Graben und Pflanzen gefunden«, sagte Remy. »Damit konnten wir diese wunderbare Trockenmauer bauen. Sie bildet die Grenze zum Wald.«

Nele atmete unwillkürlich auf. So schön der Garten war, hier gab es nicht gar so viele Farben und mehr Luft und Raum. Die wenigen Bäume, die auf einem sanften Hügel standen, waren noch klein. Dazwischen gab es eine Bank, etwas schief aus einem liegenden Baumstamm gesägt. Es war kühler, ein leiser Wind ging, und in der Ferne konnte man den Bodden glitzern sehen. Oben kreisten gelassen zwei Greifvögel.

»Sieh dich um und lass dir Zeit dabei«, sagte Remy. »Dann wirst du den richtigen Platz finden.« Sie ließ Nele ganz in Ruhe und begann, verfilztes Gras um den Stamm eines jungen Apfelbaums herauszuzupfen.

Nele war plötzlich den Tränen nahe. Dieser Ort würde Vio ganz sicher sehr gefallen. Doch sie fühlte sich überfordert, allein zu entscheiden, wo genau der Baum hinsollte. Kurz entschlossen nahm sie ein Video auf und schickte es an ihre Großmutter. Hoffentlich war diese gerade erreichbar.

Nervös wartete sie. Sie wollte Remy nicht lange aufhalten. Zum Glück dauerte es nur wenige Minuten, bis eine Nachricht von Vio aufleuchtete.

Links neben dem Büschel blühender Goldruten. Das ist genau der richtige Platz! Ich freue mich so. Schick noch ein Bild, wenn du die Kiefer eingepflanzt hast, ja? Vielen Dank, Liebes!

»Remy? Meine Großmutter findet, hier wäre es gut. Würde die Kiefer da gedeihen?« Nele zeigte auf die Stelle.

Remy kam zu ihr herüber. »Ja, hier hat sie Sonne und ausreichend Raum.« Sie trieb die Schaufel versuchsweise in die Erde. »Der Boden ist recht locker. Ich denke, du bekommst sie ohne Hilfe eingepflanzt. Hier!« Sie reichte Nele das Werkzeug, auch einen Hammer und eine Gießkanne. »Da drüben findest du einen Wasserhahn.« Sie zeigte auf eine Stelle hinter dem Wall. »Das Schild lehne ich hier an den Apfelbaum. In dem Korb ist ein Gummihammer, damit bekommst du es in den Boden. Lass dir Zeit. Komm einfach nach vorn ins Büro, wenn du fertig bist.«

»Na, dann wollen wir mal«, sagte Nele zu der kleinen Kiefer und begann zu graben. Auf einmal wurde ihr ein bisschen wehmütig zumute. Belustigt stellte sie fest, dass sie sich an die Gesellschaft des Bäumchens gewöhnt hatte. »Du wirst es hier guthaben.«

Schließlich erschien ihr das Loch groß genug. Während sie behutsam die zarten Wurzeln mit Erde bedeckte und dann den Baum sorgfältig angoss, blickte sie immer wieder zu dem Schild hinüber.

Was war Vios Geschichte?