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Nele hämmerte das Schild vorsichtig in den Boden, bevor sie die Schutzhülle abzog. Sie befürchtete, die Tafel zu beschädigen. Endlich saß es fest. Nele spülte sich die Erde von den Händen, ehe sie den Umschlag entfernte. Eine Bachstelze hüpfte heran, als ob auch sie die Geschichte lesen wollte. Die Sonne brannte auf Neles Rücken, als sie sich davor kniete.

Der Text war in der schönen, gut lesbaren Schrift und in demselben Format gedruckt wie alle anderen Schilder im Garten. An den Seiten hatte ihn jemand mit feinen Zeichnungen verziert, und dann war er wetterfest laminiert und auf das Holz aufgebracht worden. Es sah so professionell aus, dass es Nele zunächst seltsam erschien, dass dies tatsächlich die persönlichen Worte ihrer Großmutter waren.

Es war gegen Ende meiner Ausbildung. Im Oktober gab es einen Austausch zwischen unserem Studiengang und einer kleinen Musikschule auf dem Darß. Ein paar von uns durften dort an einem Seminar teilnehmen. Ich fror und war eingeschüchtert von dem heftigen Wind und dem weiten Meer mit der schäumenden Brandung. Es war eine völlig andere Welt für mich Stadtkind.

Am ersten Advent gab es einen Handwerksmarkt. Ich blieb an einem Stand stehen, an dem ein junger Mann Dinge aus Treibholz verkaufte. Ich weiß noch, dass ich eine Tüte geröstete Maronen in der Hand hatte. Der Geschmack von Maronen beschwört ihn seither immer für mich herauf, als stünde er mir gegenüber. Ein Anhänger auf seinem Verkaufstisch faszinierte mich. Es war ein fingerlanges, von den Wellen glatt geschliffenes und von der Sonne silbrig gewordenes Stück Holz mit einer Drehung darin. Mir war, als hätte es ein Gesicht. Im Inneren war ein Loch, in dem die Schale einer weißen Herzmuschel eingeschlossen war. Etwas daran ließ mich nicht los. »Es ist ein Stück einer Wurzel«, sagte der Mann mit einem seltsam ernsten Lächeln. »Du kannst die Kraft darin spüren.« Ich kaufte es. Immer, wenn ich es in die Hand nahm, schien es mir tatsächlich wohlzutun.

Die Naturgewalten dieser wilden Küste schüchterten mich fortan nicht mehr so ein. Ich wanderte oft am Weststrand entlang. Einmal hörte ich ein Geräusch, das mir bis ins Innerste fuhr, wie ein geheimnisvolles, grandioses Lied. Ich folgte dem Ton, denn ich musste ihm unbedingt auf den Grund gehen. Auf dem Kamm einer Düne lag ein hohler Ast, so dick wie mein Arm, und dieser beständige Wind pfiff hindurch. Daher kam der schwingende, reichhaltige Ton, der sich ständig änderte. Natürlich wusste ich, dass auf diese Art Klänge erzeugt werden können. Jede Flöte funktioniert nach demselben Prinzip. Doch noch nie hatte ich so etwas in der Natur erlebt, und noch nie hatte es mich so ergriffen. Während ich da lange stand und lauschte, tauchte der Mann vom Handwerksmarkt auf. Er löste sich aus den Schatten des Küstenwaldes wie ein Geist und kam zu mir herüber.

»Kann ich dir helfen?«

Mein Gesichtsausdruck musste wohl merkwürdig gewesen sein. Ich schüttelte den Kopf. Er wirkte unnahbar und etwas wild mit seinem Bart, aber instinktiv vertraute ich ihm. Er erschuf so schöne Dinge. »Ich finde nur den Ton so überwältigend.«

Erstaunt trat er näher, lauschte und untersuchte den Ast. »Nun habe ich so viel mit Holz zu tun und habe das doch noch nie gehört.«

»Kannst du mir etwas darüber beibringen?«, fragte ich ihn. »Über Holz?«

»Dann muss ich dir die Bäume vorstellen, die hier leben«, antwortete er und streckte mir die Hand hin. »Komm!«

Joram hieß er, und er war ein paar Jahre jünger als ich, obwohl er älter wirkte. Ich habe nie vergessen, was er mich alles über Bäume gelehrt hat, die viel mehr seine Gefährten waren als Menschen. Er war ein Einzelgänger, doch mir vertraute er ebenso wie ich ihm. Vielleicht, weil ich ahnte, was er fühlte, wenn wir im Wald standen und dem Wind in den Kronen lauschten. Er machte mir zum ersten Mal klar, dass es Lebewesen sind, die atmen, wachsen, auf ihre Art miteinander sprechen, tanzen, Persönlichkeiten haben, sterben. Er ließ mich die Kraft und den Trost in diesen erstaunlichen Wesen wahrnehmen und dass man sich in der Nähe eines Baumes niemals einsam und verloren fühlen muss. Mein Name klänge wie der erste erfrischende Windstoß, der nach einer Flaute in die Äste fährt, meinte er einmal. Er kürzte ihn nie ab.

Wir kamen uns sehr nahe in jenen Herbstwochen, ehe ich den Darß wieder verlassen musste. Doch ich kannte nicht einmal seinen Nachnamen. Es war so intensiv und leuchtend und vergänglich wie die Farben, die im Herbstlaub brannten. Joram war frei und unruhig wie die Zugvögel. Und noch so jung. Wenn ich versuchen sollte, ihn zu halten und zu ändern, würde er nicht mehr der sein, der mir etwas Einzigartiges bedeutete. Auch er versuchte nicht, mich zum Bleiben zu bewegen. Er hatte anfangs sogar einmal erwähnt, dass er niemals eine Familie gründen wollte.

Als ich im neuen Jahr meine Schwangerschaft bemerkte, wusste ich, dass ich keinen Kontakt zu ihm suchen würde. Ich wollte unbedingt ebenso ungebunden sein wie er. Da war ich mir sicher. Er hatte mir gezeigt, wie es geht. Ich würde stark sein wie ein Baum, der allein und glücklich aufrecht im Wind steht. Oder notfalls auch krumm wie die zähen Kiefern an der Küste, wenn der Wind zu heftig wird, aber durch und durch lebendig.

Das ist mir danach mein Leben lang tatsächlich gelungen. Es war nicht einfach, und nur wenige haben mich verstanden in jener Zeit. Aber für mich war es richtig. Das war mein Wesen, so wie jeder Baum seines besitzt.

Joram hat mich dauerhaft geprägt. Er hat mir außer meiner Tochter für immer den Trost der Bäume geschenkt und mir gezeigt, wer ich bin. Er war ein Wegweiser für mich, und dafür bin ich dankbar. Unsere Begegnung verdient eine Erinnerung. Dafür soll diese Kiefer wachsen, für Joram und mich und den Mut, allein im Sturm aufrecht zu stehen und die Musik der Naturgewalten zu genießen. Sie soll tiefe Wurzeln treiben und unter dem weiten Himmel dem Seewind von uns erzählen. Und sie soll am Meer leben. Denn das zweistimmige Rauschen von Brandung und Wald ist die perfekte Melodie, die uns Frieden gibt und zugleich in Bewegung bringt, so sagte Joram damals. Sie fließt wie das Blut in den Adern, eine Melodie wie das Leben selbst, wenn es im Einklang mit sich und voller Energie ist.

Violaine

Wie als Antwort blies eine zärtliche Brise eine Haarsträhne in Neles Gesicht. Sie wischte sie fort, schluckte und berührte das Schild.

»Violaine«, sagte sie leise. »Danke für die Geschichte.«

Den Anhänger kannte sie. Vio trug ihn oft an einem Lederband um den Hals. Wenn nicht, hing er an ihrer Nachttischlampe. Das Holz war nicht mehr silbrig, wie sie es beschrieben hatte. Es war dunkel und glänzend von den Jahren und der Berührung ihrer Haut.

Nach einer Weile räusperte sich Nele, machte ein Bild von der Kiefer und dem Schild und schickte es ihrer Großmutter. Sie ließ die Minuten verstreichen, bis eine Nachricht mit einem Herz, einem Glücksklee und einem erhobenen Daumen zurückkam, dann rief sie sie an.

»Danke, Vio! Danke für die Geschichte.«

»Ich danke dir , Liebes. Nun geht es mir gut! Seit dieser Baum in meinem Balkonkasten wuchs, wusste ich, dass ich das tun musste. Aber ich konnte es dann doch nicht mehr selbst. Außerdem …« Vio schwieg.

»Außerdem was?«

»Ach, nichts, Liebes.«

»Vio, hast du jemals herausgefunden, was aus Joram geworden ist?«

»Nein, und ich wollte es auch nie wissen. Es spielt keine Rolle.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, wirklich nicht. Er war in meinem Leben wie eine Jahreszeit, die vorübergeht. Und das war gut so. Genau richtig.«

Nele hörte an der Überzeugung in Vios Stimme, dass sie die Wahrheit sagte.

»Aber ich weiß, dass er tot ist«, fügte diese Stimme plötzlich an.

»Wie willst du das denn wissen?«, fragte Nele traurig. Für einen Augenblick hatte sie gehofft, ihren Großvater kennenlernen zu können.

»Die Bäume haben es mir gesagt.«

Das ließ Nele lieber unkommentiert. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich etwas über ihn herausfinde?«, erkundigte sie sich.

»Nicht, wenn du das möchtest. Ich habe die Geschichte freigelassen. Nun gehört sie jedem, auch dir, Liebes. Du kannst damit tun, was du willst. Wie gefällt es dir dort? Bist du mir noch gram, dass ich dich fortgeschickt habe? Ich weiß ja, wie wichtig dir die Aufführung ist.«

»Nein, gar nicht«, versicherte Nele wahrheitsgemäß. »Vio, weiß meine Mutter, wer ihr Vater ist? Sie hat immer behauptet, dass sie keine Ahnung hat und es ihr auch egal ist.«

»Nein, Anita weiß es nicht. Wenn sie es jemals wissen will, kann sie es ja nun auf dem Schild nachlesen. Aber solange sie sich ausschließlich für ihre Kochkünste interessiert, ist das wenig wahrscheinlich.« Vio sagte es ohne Vorwurf in der Stimme. Anita war eben Anita. Sowohl Vio als auch Nele hatten sich schon lange damit abgefunden. Sie hatten einander.

Als Nele aufgelegt hatte, rief sie Teddy an und erkundigte sich, wie es lief. Sie hatte Vios Auftrag ja nun erfüllt und konnte notfalls sofort zurückfahren.

Doch Teddy klang unbeschwert. »Der Mars hat Windpocken, aber es hat sich schon eine Vertretung gefunden«, sagte sie vergnügt. »Und Mia möchte nicht nur eine Wolke, sondern eine Regenwolke sein, mit vielen glitzernden Tropfen. Macht nichts, das geht in Ordnung. Katrin hat es im Griff.«

»Gut, aber sagt Bescheid, wenn ihr mich braucht, ja?«

»Natürlich. Aber du kümmere dich mal um dein eigenes Drama«, erklärte Teddy und verabschiedete sich, ehe Nele fragen konnte, was sie damit meinte.

Sie steckte ihr Handy ein und stand auf. »Dann mach es mal gut, kleine Kiefer«, sagte sie und strich über einen weichen Ast. Der Abschied fiel ihr tatsächlich schwer. Sie würde eines Tages nachsehen kommen, wie es dem Baum hier ging. Oder konnte man vielleicht eine Webcam einbauen um zu sehen, wie der junge Wald hier wuchs? Sie sah sich um und entschied sich dann dagegen, Remy diesen Vorschlag zu machen. Es erschien ihr seltsam ungehörig, den Frieden der Bäume zu stören. Hatten sie nicht auch so etwas wie eine Privatsphäre?

Nele hatte es nicht eilig, sich wieder in Gesellschaft der Menschen zu begeben. Nun, da ihre Aufgabe erfüllt war, stieg die graue Melancholie wieder in ihr auf wie Abendnebel aus dem feuchten Boden. Woher kam das nur? Hatte sie das von ihrem Großvater geerbt, der nun einen Namen hatte?

Joram .

Diese Unruhe in ihm, der Hang zum Alleinsein, der Unwille, sich zu binden. Das alles kannte sie gut. Kam das daher? Und gestaltete sie vielleicht deshalb immer wieder Bäume in ihren Kulissen, weil es auf geheimnisvolle Weise ihr Erbe war?

Sie hätte Vio fragen können, ob diese Traurigkeit manchmal auch in Joram gewesen war, aber dann musste sie sich ihr offenbaren. Das wollte sie nicht. Vio sollte sich keine Sorgen machen müssen.

Joram. Später würde sie in den Weiten des Internets nach ihm suchen, obwohl es eher unwahrscheinlich war, dort Spuren von ihm zu finden. Es war zu lange her. Aber wenn er Künstler gewesen war, hatte es vielleicht einmal eine Ausstellung gegeben.

»Nele? Ist bei dir alles in Ordnung?« Remy kam durch die Lücke im Wall, ein Glas in der Hand. »Ich dachte, du hast vielleicht Durst. Recht anstrengend, so ein Loch zu graben.«

»Oh, ja. Danke!« Das eiskalte Wasser, in dem Blätter von Zitronenmelisse und etwas Dill steckten, schmeckte himmlisch. Nele merkte erst jetzt, wie erschöpft sie war. Nicht nur vom Graben, auch von der Wucht der Geschichte, die ihr viel über ihre Großmutter verriet und die junge Frau so gegenwärtig machte, die sie einst gewesen war.

»Wenn du etwas Abstand brauchst, da unten am Steg liegt ein altes Boot, das uns gehört«, schlug Remy vor. Nele hatte das Gefühl, dass diese ungewöhnlich hellen Augen genau wahrnehmen konnten, wie es in ihr aussah. »Die ›Sonnenblume‹. Der Name steht am Bug, du kannst es nicht verwechseln, weil es knallgelb gestrichen ist. Die Ruder liegen drin. Du kannst gern damit auf den Bodden rausfahren. Nur nicht zu weit. Man unterschätzt das.«