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Das mit dem Boot war eine wunderbare Idee gewesen, stellte Nele fest, als sie nahe am Ufer entlangruderte.

Hier wuchsen noch mehr Vogelbeerbäume. Die leuchten-den Beeren spiegelten sich im Wasser und setzten fröhliche Akzente. Die Sonne stand schon tiefer, und ein weicher Dunst wehte wie eine Ahnung über die Oberfläche. Nele atmete auf. Von den Spätsommerdüften über dem Wasser wurde ihr leichter ums Herz, und der Rhythmus der Ruderschläge beruhigte sie. Es tat gut, für eine Weile fern der anderen Menschen zu sein. Sie spürte eine merkwürdige Seelenverwandtschaft zu diesem Großvater, von dem sie zum ersten Mal etwas erfahren hatte.

Einerseits konnte sie es kaum erwarten, mehr über ihn herauszufinden. Andererseits genoss sie es, dass gerade kein Computer zur Hand war und ihr Handy hier draußen auf dem Bodden schon wieder kein Netz hatte. So konnte sie ihn sich erst einmal so vorstellen, wie sie wollte.

Wenn er vorhin mit ihr unter dem Vogelbeerbaum gesessen hätte, hätte er ihr vielleicht einen Anhänger aus einem der Aststücke gemacht, die darunterlagen. Oder er hätte ihr etwas über den Baum erklärt. Wodurch sich sein Holz von dem der anderen Bäume unterschied und was er schon daraus geschaffen hatte. Mit welchem Material hatte er wohl am liebsten gearbeitet? Oder bedeutete ihm jedes davon etwas anderes? Treibholz, hatte Vio geschrieben. Wann hatte er das gesammelt? Ganz früh am Morgen, bevor andere unterwegs waren? Oder am besten nach Herbststürmen?

Nele sah Joram deutlich vor sich, in einem losen Mantel, eine Silhouette in der nebligen Dämmerung. Er lief am Strand entlang, am Flutsaum, und bückte sich hin und wieder. Ein Bündel bizarrer Hölzer steckte unter seinem Arm. Hinter ihm standen zerzauste Bäume auf einer Steilküste, ähnlich jenen, die Nele für ihre Kulissen ausschnitt.

Sie rieb sich die Augen. Die Sonne schien, das Wasser funkelte, und das flache Ufer war leer. Woher war dieses Bild gerade eben so deutlich gekommen? Für einen Moment war ihr gewesen, als könne sie diese Gestalt ansprechen und bekäme eine Antwort.

So ähnlich ging es ihr manches Mal, wenn sie ihre Kulissen gestaltete – als wären es Landschaften, die sie schon einmal gesehen hatte.

Nun ja, sie hatte ihre Phantasie ja auch reichlich trainiert, zusammen mit … aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Es war gerade so friedlich in ihr. Und die Zeit war so schnell verflogen. Sie musste allmählich umkehren, schließlich hatte sie Remy versprochen, abends zum Fest zu kommen.

Nele wendete die »Sonnenblume« und stellte fest, dass sie bereits jetzt begann, Muskelkater in den Armen zu spüren. Hoffentlich würde ihr das Gitarre spielen heute Abend noch gelingen. Gut, dass sie das Instrument mitgenommen hatte. Sie hatte es stets bei sich, wo auch immer sie hinging. Sie fühlte sich einfach nicht komplett ohne ihre Gitarre, auch wenn sie nie professionell gespielt hatte. Als gelegentliche Begleitung bei einer Vorstellung, um Akzente zu setzen, dafür reichte es allemal, und manchmal spielte und sang sie mit den Kindern, wenn die sie darum baten.

Der Rückweg dauerte länger als gedacht, auch weil sie immer wieder anhielt und die Wasservögel beobachtete oder die Spiegelungen der rosa werdenden Wolken auf der Oberfläche bewunderte. Diese Welt war ihr fremd, genau wie es damals Vio gegangen war, und Nele begann, es zu bedauern, dass sie ihr Leben bisher ausschließlich in Städten verbracht hatte. Sie hatte sich dort wohlgefühlt, alles war ihr vertraut – aber lag das nur an der Gewohnheit? Hätte sie sich öfter aus ihrer Komfortzone bewegen sollen?

Unvermutet stieg ein leiser Groll auf Vio in ihr auf. Vielleicht hätte dieser Joram gern von seiner Tochter gewusst? Warum hatte Vio das einfach allein entschieden? Was, wenn er ein wundervoller Großvater gewesen wäre? Neles Großvater väterlicherseits war nur noch eine dunkle, liebe Erinnerung. Er war früh gestorben.

Andererseits, Vio hatte Joram gekannt. Sehr gut gekannt. Sie hatte es sich ganz sicher nicht leichtgemacht. Diese Entscheidung war ihr gutes Recht gewesen.

Außerdem war sie immer für Nele dagewesen, Oma und Opa und Spielkameradin in einer Person, hatte ihr Schnitzen, Drachenbauen und das Klettern auf Bäume ebenso beigebracht wie Nähen, Schrauben, Kochen, Löten und Lesen. Mehr als Neles Eltern, die meistens abends bis weit in die Nacht in irgendeiner Restaurantküche gestanden hatten. Seit Nele ihr Abi gemacht hatte und endgültig ausgezogen war, lebten sie in Belgien. Während ihres gesamten Studiums war es immer Vio gewesen, zu der sie mit allen Sorgen hatte kommen können. Nele hatte keinen Großvater vermisst.

Ihr Ärger legte sich. Sorry, Vio, entschuldigte sie sich still und beeilte sich, das Boot festzumachen.

Was blieb, war ein diffuses Bedauern, das sie unruhig machte.

Zurück in ihrem Zimmer, suchte sie im Internet erst, wo überhaupt sich der Darß befand und was das war. Es handelte sich um eine schmale Halbinsel in Mecklenburg-Vorpommern, stellte sie fest. Dann forschte sie nach einem Holzkünstler des zwanzigsten Jahrhunderts namens Joram, der dort tätig gewesen war.

Zu ihrem Erstaunen wurde sie sofort fündig. Er hatte anscheinend auch einen Film über Zugvögel gedreht. Er hieß Joram Grafunder. Und er lebte tatsächlich nicht mehr. Bisher hatte sie noch gehofft, dass Vio sich geirrt hatte. Doch er war bereits 1999 gestorben. Nele hätte gern mehr erfahren, doch viel stand da nicht.

Traurig sah sie auf die Uhr. Die Zeit reichte gerade noch dafür, sich umzuziehen, am besten mückenfest, die Gitarre zu holen und Marion Bescheid zu sagen, dass sie heute kein Abendessen benötigte. Aber so einfach war das nicht.

»Dann nimm von mir eine Schüssel Salat mit!«, befahl Marion. »Wer auf Remys Sommerfeste geht, bringt etwas für das Buffet mit.«

»Das geht doch nicht!«, protestierte Nele. »Den hast du doch für die Hausgäste gemacht!«

»Na und? Die bekommen eben Kartoffelpuffer. Kein Problem. Ich packe ihn nur schnell ein.«

Während Nele im Foyer wartete, wanderte sie herum und betrachtete nachdenklich die Bilder an den Wänden. Sie trugen verschiedene Signaturen, zeigten aber alle Küstenlandschaften.

»Marion, kennst du dich mit den Künstlern der Küstengegenden aus?«, fragte sie, als ihre Wirtin mit einer riesigen Schüssel in einem Einkaufsnetz zurückkehrte.

»Nein, gar nicht. Aber wenn dich das interessiert, Remy hat Verbindungen. In ihrer Familie gab es einige kreative Leute. Soweit ich weiß auch eine Kunstmalerin. Remy ist ja neben ihrem Garten auch Herausgeberin einer Zeitschrift und schreibt über alle möglichen Menschen. Frag sie einfach. Ich muss zurück in die Küche.« Marion drückte ihr das Netz in die Hand.

Also stapfte Nele mit der Schüssel und der Gitarre bepackt Richtung Geschichtengarten. Der Weg lohnte das Auto nicht, und wer wusste schon, was für eine Sommerbowle vielleicht auf dem Buffet stand? Eigentlich war sie von der Bewegung und der ungewohnten sauberen Seeluft todmüde und hätte sich viel lieber hingelegt. Sonst schlief sie eher zu wenig, weil sie sich vor ihren Träumen fürchtete.

Doch kaum war sie in den trägen Strom von Besuchern geraten, der sich gut gelaunt auf das Tor zubewegte, fühlte sie sich, als wäre sie in eine ganz andere Art Traum eingetreten.

An den Wegen brannten Fackeln und erhellten die Beete mit ihrem geheimnisvollen, flackernden Licht. In den Rosenbögen hingen bunte Lampions, und durch einige Büsche zogen sich Ketten aus winzigen Solarlämpchen, die wie Glühwürmchen wirkten. Von allem gab es nur gerade so viel, dass der Szene etwas Märchenhaftes verliehen wurde, ohne überladen zu wirken. Nele sah es gleich wieder als Kulisse eines Stückes zwischen Traum und Wirklichkeit. O ja, hier bekam sie tatsächlich neue Anregungen für ihre Arbeit! Sie hatte schon ganz vergessen, dass sie sich das gestern auf der Herfahrt erhofft hatte.

Sie drückte einer Jugendlichen, die hinter einer langen, mit Essen beladenen Tafel stand, die Salatschüssel in die Hand und bekam ein strahlendes Lächeln dafür und das Angebot, ihre Gitarre im Büro abzustellen. Dann spazierte sie die Wege entlang und entdeckte den Garten neu. Er wirkte so anders als bei Tageslicht, ohne den überwältigenden Farben- und Formenrausch. Trotz der vielen Besucher gab es stille Ecken, in denen nur einzelne helle Blüten und ein Lampion leuchteten und ansonsten eine weiche Dunkelheit herrschte, die wie eine Umarmung war. Im langsamen Wind lag ein geheimnisvoller Duft.

Jemand kam mit einem Tablett vorbei und bot Nele ein Glas an. Gern nahm sie es an, bedankte sich und stellte fest, dass es sich um genau die Bowle handelte, die sie vermutet hatte. Nur schmeckte sie anders, als sie es von Stadtfesten kannte. Fruchtig und echt, wahrhaft erfrischend, und der Alkoholgehalt schien sich in Grenzen zu halten. Durstig trank sie es aus. Später, als sie wieder beim Buffet angekommen war und sich an den leckeren Häppchen, Kuchen und Salaten bedient hatte, nahm sie sich noch ein Glas. Vielleicht lag es daran, dass ihre Unsicherheit verflogen war, als Remy sie in der Menge entdeckte.

»Ach, Nele, wie schön! Fühlst du dich wohl? Wir wollen das Lagerfeuer anzünden. Magst du kommen und für uns spielen?«

Immer noch mit diesem verzauberten Gefühl der Unwirklichkeit holte Nele die Gitarre und folgte Remy dorthin, wo das Gartengelände hinter einem Laubengang in eine Wiese überging. Hier waren Reisig und Holz aufgehäuft. Drumherum saßen fröhliche Menschen auf Holzhockern aus Baumstämmen oder lagerten auf Picknickdecken. Es gab gedämpftes Stimmengewirr, aber von dem Durcheinander von angeheitertem, zu lautem Lachen oder mäßig klugen Witzen, wie Nele es von ähnlichen Gelegenheiten in der Stadt gewohnt war, war nichts zu merken. An diesem Ort schienen die Besucher eins mit ihrer Umgebung und von demselben behutsamen Zauber gefangen zu sein wie sie selbst.

Jugendliche gingen herum und reichten weiterhin Snacks, Saft und Bowle. Als Remy mit einer Fackel zum Feuer schritt und die Hand hob, wurde es rasch still.

»Liebe Gäste!«, begann sie. »Ich freue mich sehr, dass ihr alle hier seid, um das Ende des Sommers mit uns zu feiern und alles, was wir in ihm geschafft haben und erleben durften. Der Geschichtengarten ist auf einem sehr guten Weg, dank euch allen! Es freut mich besonders, dass nun auch der Beginn eines kleinen Waldes unser Projekt erweitert. Heute ist als einer der ersten ein Baum mit einer besonders schönen Geschichte dazugekommen. Eine Geschichte, die von Liebe und Mut und der Bedeutung von Bäumen erzählt. Und davon, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg finden kann, ohne jene zu vergessen, die ihn dabei unterstützt haben. Gepflanzt hat ihn Nele. Sie wird uns nun auch noch ein wenig Musik schenken, während das Feuer zu brennen beginnt, das uns wärmen und die Nacht erhellen soll, damit wir gemeinsam ein wenig träumen können. Bei mir werden es Träume von Herbstfarben sein und von Plänen für den nächsten Frühling, die mich im Winter voller Vorfreude beschäftigen werden. Ich wünsche euch einen schönen Abend!«

Sie bückte sich und hielt die Fackel an einen dünnen Ast am Fuße des Reisighaufens, dann noch an zwei anderen Stellen. Winzige Flammen machten sich auf den Weg, züngelten, wurden heller, fanden nach und nach in einem glühenden Tanz zusammen. Nele spürte die zunehmende Hitze und sah das warme Licht auf den Gesichtern der anderen flackern, als sie zu spielen begann. Ganz leise und langsam lockte sie eine Melodie aus den Saiten, während die Flammen noch klein waren, dann wurde sie mit deren Wachsen und Knacken und Lodern allmählich lauter und schneller. Die Töne der Musik schlugen dem Feuer und den Träumen der Menschen eine Brücke zum Himmel.

Nele spielte für Vio, für ihren Großvater, der zum ersten Mal einen Namen hatte, und für alle, die auf der Suche nach etwas waren.

Und auch für die junge Kiefer, die ab heute in fremder Erde wurzeln, sich mit ihrem neuen Standort anfreunden und dort behaupten musste.