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Jedes Mal, wenn Nele mit dem Spielen aufhören wollte, bat sie jemand weiterzumachen. Eine Weile spürte sie noch ihren Muskelkater, dann irgendwann nicht mehr. Ein immer intensiverer Duft wehte von den Blumenbeeten herüber. Jemand brachte ihr Saft, ein anderer Häppchen. Als sie zu bekannten Liedern überging, sangen die anderen Gäste mit. Worte und Töne flogen mit den knisternden Funken in den Himmel, an dem es so unendlich viel mehr Sterne gab als in der Stadt. Nele konnte sich nicht daran sattsehen.

Noch nie hatte sie sich so wenig allein gefühlt. Hier gab es etwas, das alle verband. Freude am Leben, Freude an dem, was um sie herum war, das Sein im Augenblick, das völlig genügte und alles umfasste und bei dem es ganz ruhig in einem wurde.

Später spazierten viele in Grüppchen durch den dunklen Garten. Andere saßen noch beim heruntergebrannten Feuer, träumten in die verlöschende Glut hinein oder plauderten leise. Nele unterhielt sich mit einem Hausgast Marions über deren Salate. Remy kam zu ihnen herüber.

»Liebe Nele, vielen Dank, das war wunderschön und eine große Bereicherung für unser Fest! Bleibst du noch länger auf Rügen?«

»Einen Tag noch, dann muss ich zurück. Aber Remy, ich möchte dich noch etwas fragen. Marion sagt, du weißt so viel über Kunst und die Küste.«

Remy lachte. »Viel ist äußerst relativ. Aber ich versuche gern, dir zu helfen. Wie wäre es, wenn du morgen gegen Mittag vorbeikommst? Ich bin einfach zu müde, um noch einen klaren Gedanken zu fassen.«

»Das mache ich. Vielen Dank.«

Nele konnte sich nur schwer losreißen von dieser Stimmung, die ihr neu war. Selbst nach der gelungensten Theateraufführung war ihr nie so zumute gewesen wie jetzt. Sie nahm die Gitarre, spazierte noch einmal zu dem kleinen, gerade entstehenden Wald und sah nach der Kiefer, die hier so hoffnungsvoll unter den Sternen stand. Ganz leise spielte sie ihr eine von den alten Melodien, die Vio so liebte.

Weit nach Mitternacht kam ein kühler Wind auf, und der Rest der Gästeschar tröpfelte allmählich aus dem Tor. Nele folgte ihnen. Der Mann, mit dem sie vorhin geplaudert hatte, bot ihr an, sie im Auto mitzunehmen.

»Schließlich haben wir denselben Weg. Es ist doch ungewohnt dunkel hier, finden Sie nicht?«

Dankbar nahm sie an. Sie hätte sich mit Sicherheit verlaufen.

Am nächsten Tag schlief sie so lange, dass sie erschrak, als sie schließlich auf die Uhr sah.

»Macht nichts, das hatte ich mir schon gedacht. Man hat mir berichtet, wie lange du gespielt hast«, sagte Marion fröhlich, als Nele sich entschuldigte, weil sie zu spät beim Frühstück erschien. »Ich habe dir ein Tablett gerichtet. Du kannst es mit hinausnehmen.«

So aß sie mit Genuss allein auf der Terrasse, in der frischen Luft und bei Möwenrufen. Die Musik und der Zauber von gestern Abend hatten die dunklen Wolken in ihr ganz weit in die fernen Ecken ihrer Seele getrieben. Stattdessen spürte sie Entspannung und gleichzeitig Unternehmungslust. Sie brachte das Tablett hinein und machte sich erneut auf den Weg in den Geschichtengarten, diesmal auf einer anderen Route, durch ein blühendes Sonnenblumenfeld, vorbei an dicken Weiden.

Remy war damit beschäftigt, die Pfähle an einem Zaun festzuklopfen.

»In dem sandigen Boden lockern die sich immer wieder«, erklärte sie. »Jemand muss sich gestern dagegen gelehnt haben. Na, hast du dich erholt, Nele? Danke noch mal für deine Musik.«

»Ich musste mich nicht erholen. Es war einfach nur schön. Danke, dass ich dabei sein durfte. Kann ich dir helfen?«

»Gern, könntest du die Pfähle halten, während ich sie einschlage? Das geht zu zweit wesentlicher besser. Du wolltest mich etwas fragen?«

»Ja.« Nele klammerte sich an den Pfahl. Remy hatte eine Menge Kraft, das Holz vibrierte mächtig unter ihren Schlägen, und Nele spürte nun doch ihren Muskelkater. »Weißt du etwas über einen Holzkünstler namens Joram Grafunder, der Mitte des letzten Jahrhunderts auf dem Darß tätig war?«

Remy verlor den Rhythmus, setzte einen Schlag aus, sagte dann drei Schläge lang nichts. »Der Name wurde in meiner Familie schon mal erwähnt«, sagte sie dann. »Wir stammen zum Teil vom Darß, weißt du. Es ist eine sehr weitläufige Familie in verschiedenen Verwandtschaftsgraden. Da wird viel geredet, und manchmal weiß keiner mehr genau, wann etwas war oder worum es genau ging. Wenn es wichtig für dich ist, wäre es doch das Beste, du fährst dorthin und erkundigst dich vor Ort nach ihm. Sprich mit den Menschen da und sieh dich um. Wenn ich für meine Zeitschrift etwas recherchiere, ist das immer die allerbeste Methode.«

Nele hatte das unbestimmte Gefühl, dass Remy mehr wusste, als sie ihr verriet. Doch was sie sagte, klang vernünftig.

Vielleicht hing ihre Zurückhaltung ja auch mit dem zusammen, was sie am Vortag gesagt hatte. Dass man manche Geschichten selbst finden musste, zum richtigen Zeitpunkt. Die Figuren im Theater durften ja auch nicht in einer beliebigen Szene auf der Bühne auftauchen, wenn am Ende alles einen Sinn ergeben sollte.

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Nele enttäuscht. Für so etwas hatte sie jetzt keine Zeit. Das musste dann eben warten. Warum auch nicht? Jetzt hatte sie so lange nichts über ihren Großvater gewusst, da kam es auf ein paar Monate mehr auch nicht an. »Wer hat eigentlich diese schönen Wegweiser gemacht, die hier im Garten an den Pfaden stehen?«

»Das war Sila. Ich kenne sie, weil sie einen von den Gärten hat, mit denen wir zusammenarbeiten. Er liegt auf der Insel Fehmarn. Sie ist Brandmalerin. Das funktioniert mit so einer Art Lötkolben. Damit brennt sie ganze Bilder in Holzmöbel und auf Zäune. Ich mag ihren Stil.«

»Noch eine Holzkünstlerin.«

Doch auch diese Bemerkung konnte Remy keine Informationen über Joram Grafunder entlocken.

Nele half noch eine Weile, bis der ganze Zaun wieder fest verankert war. Dann wurde Remy zu einem Termin gerufen, und Nele verabschiedete sich.

»Komm jederzeit gern wieder«, sagte Remy herzlich.

Nele sah ihr nach und stellte erstaunt fest, dass sie das sicher tun würde. Spätestens, wenn sie wieder einmal einen Ort suchte, an dem man zur Ruhe kommen und sich eine Portion Kraft abholen konnte. Einen, wo einfach alles blühte und gedieh – Blumen, Früchte, Bäume, Freundschaften und Lebensfreude.

Sie verbrachte den Nachmittag am Bodden unter dem Vogelbeerbaum. Eigentlich hatte sie noch an den Strand fahren wollen, um das Meer zu sehen, aber das Wasser hier war so glatt und voller Licht, und sie fühlte sich so müde und wohl zugleich, dass sie einfach sitzen blieb, den Stamm angenehm im Rücken spürte und ihre Gedanken treiben ließ. »Wenn ich so alt bin wie Vio, ziehe ich vielleicht einen Vogelbeerbaum im Balkonkasten und bitte jemanden, ihn hier einzupflanzen«, sagte sie zu dem Baum. Die Vorstellung gefiel ihr. Vios Kiefer wäre dann schon ein richtiger Baum …

Wie als Antwort fiel eine Beere auf ihr Knie und dann in den Sand. Nele blickte nach oben und sah eine Amsel, die an den Beeren herumpickte. »Guten Appetit«, sagte sie, warf die kleine rote Kugel ins Wasser und betrachtete die Ringe, die sich auf der Oberfläche ausbreiteten.

Alles, was geschieht, macht Wellen im Leben, dachte sie. Auch Dinge, die schon sehr lange her sind. Manchmal so lange, dass man nicht weiß, was die Ursache dafür war. Eigentlich verrückt.

Weitere Beeren fielen herunter, während die Amsel von Ast zu Ast flog und überall an den Früchten zupfte. Schließlich auch das Stück eines trockenen Zweiges. Nele hob es auf, betrachtete es und steckte es schließlich als Andenken in die Tasche.

Abends nahm sie ihren Laptop mit ins Bett. Sie suchte lange nach dem Film über Zugvögel, den Joram Grafunder gedreht hatte, und fand schließlich mehrere längere Ausschnitte.

Es gab keinen Text, weder gesprochenen noch in Form von Untertiteln. Nele hörte nur Meeresrauschen und Blätterrascheln, das Plätschern von Regen, das Knarren von Holz und das Rieseln von Sand im Hintergrund. Zu sehen waren Möwen tief über der Brandung. Ketten von schnatternden Wildgänsen, durch Baumkronen gefilmt. Endlose Formationen von ziehenden Kranichen, die laut rufend über Meer und Bodden kreisten und schließlich in großen Schwärmen vor einem glutroten Sonnenuntergang auf die Wiesen einfielen. Erst, als die Clips zu Ende waren, merkte Nele, dass sie fast vergessen hatte zu atmen, so sehr hatte sie die erhabene Dramatik der Bilder gefangen genommen.

Sie war den Tränen nahe. Etwas an diesen großen, wilden Vögeln hatte sie zutiefst berührt. Aber auch die Landschaft, über die sie flogen und in der sie gelandet waren, in die sie immer wieder zurückkehrten, und sei es nur auf der Durchreise.

Nele wollte diese Landschaft unbedingt kennenlernen und vielleicht eines Tages auch die Vögel.

Vor ihrem inneren Auge sah sie Mia und die anderen Kinder in Kranichkostümen, sah einen Tanz von Kranichen und Wolken vor einer Kulisse aus Bäumen, wie sie sie noch nie geschaffen hatte. Ahnte Worte, die sich zu dem Stück zusammenfinden würden, dem Drehbuch, das sie eines Tages schreiben wollte.

Sie hatte tatsächlich die erhofften Anregungen bekommen. Doch nun spürte sie, dass es da noch mehr gab. Sie wusste nicht, ob der Schlüssel in der Person ihres Großvaters lag oder eher in dieser ihr unbekannten Landschaft und deren Wesen, die er in ihre Aufmerksamkeit gerückt hatte. Über die Zeit hinweg war es ihm gelungen, seine Enkelin zu berühren, so wie die Kreise vorhin auf dem Wasser nach einer Weile das Ufer.

Was hatte auf der Tafel gestanden, in Vios Geschichte?

Denn das zweistimmige Rauschen von Brandung und Wald ist die perfekte Melodie, die uns Frieden gibt und zugleich in Bewegung bringt, so sagte Joram damals. Sie fließt wie das Blut in den Adern, eine Melodie wie das Leben selbst, wenn es im Einklang mit sich und voller Energie ist.

Das wollte Nele hören! Herausfinden, ob das stimmte. Ob es auch für sie dort einen Frieden gab, der das gelegentliche Dunkel in ihr endgültig vertreiben würde, die Unruhe und das Gefühl, nicht mehr in einer Bewegung vorwärts zu sein, sondern sich ständig im Kreis zu drehen. Nele schaltete das Licht aus. Sie war todmüde und lag dennoch lange wach.

Morgens rief sie Teddy an.

»Wie läuft es?« Sie lauschte Teddys Berichten von kleinen Pannen und größeren Erfolgen. Dass die Premiere gut werden und alles klappen würde, daran schien wenig Zweifel zu bestehen. Während Nele zuhörte, stellte sie fest, dass die gewohnte Dringlichkeit, mit der sie zurückwollte, gerade nicht mehr spürbar war. Teddy und das Theater würden auch noch einige Tage ohne sie auskommen.

»Jetzt mal raus damit, warum rufst du wirklich um diese Zeit an? Du willst doch irgendwas!«, fragte Teddy schließlich.

»Stimmt. Sag mal, kann ich noch ein Weilchen wegbleiben? Ich hätte da noch etwas zu erledigen.«

Nele hörte, wie Teddy am anderen Ende schnaubte. »Mensch, Mädchen, ich habe dir doch gesagt, ich will dich hier nicht sehen, bevor du wieder einen klaren Kopf hast. Du hast dir eine Auszeit verdient. Mach alles in Ruhe, nur melde dich ab und zu, damit ich dir die Ohren über die kleinen Planeten volljammern kann!«

»Danke, Teddy.« Gerührt legte Nele auf. Jetzt fühlte sie sich auf einmal verwegen und frei. Nun musste sie nur noch eine Unterkunft auf dem Darß finden.

Sie öffnete ihren Laptop. Es war immer noch Hochsaison und kaum etwas zu bekommen. Mit viel Geduld wurde sie schließlich fündig. Die Bilder der Unterkunft waren etwas seltsam, doch ihr ging es ja nicht um Komfort. Es handelte sich um eine kleine Ferienwohnung im »Sandregenpfeiferhaus.« Neugierig geworden, suchte sie nach einer Erklärung, was ein Sandregenpfeifer war. Es störte sie immer ungemein, wenn sie zu etwas kein Bild im Kopf hatte.

Der Sandregenpfeifer, lernte sie, war zum Seevogel des Jahres gewählt worden, weil er vom Aussterben bedroht war. Er brütete auf dem Boden, auf Sand eben, also genau dort, wo heutzutage die Badegäste auf ihren Handtüchern lagen. Aus diesem Grund war sein Bestand an Nord- und Ostseeküste dramatisch zurückgegangen. Man bemühte sich, wenigstens kleine Gebiete abzusperren, damit er dort seine Küken aufziehen konnte. Die Bilder trafen Nele direkt ins Herz, so freundlich und hilflos blickten die kleinen Flaumbällchen auf ihren großen Füßen sie an.

Schade, dass Remy in ihrem Geschichtengarten nicht auch noch Platz für aussterbende Tiere hatte, aber Rügen war schließlich keine Arche Noah, und für so etwas gab es ja zum Glück andere Organisationen. Aber wäre das nicht ein Thema für ihr Drehbuch? Nele stellte sich Mia in einem Sandregenpfeiferkostüm vor. Das ginge, da könnte sie sogar das Wolkenkostüm anpassen, so weiß und flauschig wie das Küken war. Dann könnte man den Zuschauern spielerisch etwas über die gefährdeten Wesen beibringen und wie wichtig es war, sich am Strand und in den Dünen rücksichtsvoll zu verhalten …

Nele schrak auf. Sie hatte die Zeit vergessen. Gleich musste sie ihren Schlüssel abgeben, der nächste Gast war ja im Anmarsch. Rasch suchte sie ihre Sachen zusammen.

»Komm jederzeit wieder«, sagte Marion, als sie sich verabschiedete. Genau wie Remy.

Nele fühlte sich beinahe einsam, als sie wieder auf die Allee einbog, die Richtung Brücke und Festland führte. Marion, ihre Gäste und vor allem Remy und ihr Team waren so ungezwungen nett gewesen. Nele hatte die Gesellschaft dieser Menschen genossen. Hatte sie zu Hause zu wenig Freunde?

Ja, das hatte sie, gestand sie sich ein paar Hundert Meter weiter ein. Aber sie wusste auch, warum das so war.

Wollte sie noch, dass es so blieb? Änderten sich die Bedürfnisse, wenn man älter wurde? Und was waren denn ihre Bedürfnisse jetzt, an dieser Stelle in ihrem Leben?