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Fast hätte sie den Abzweig mit dem Schild verpasst. Fischland-Darß.

Die Straße zog sich. In Strandnähe war keine Unterkunft mehr frei gewesen. Das Haus mit den Ferienwohnungen, in dem sie die letzte, auffallend günstige Unterkunft ergattert hatte, lag auf der anderen Seite, am Koppelstrom, der den Saaler Bodden mit dem Bodstedter Bodden verband. Nele hatte sich die Karte länger ansehen müssen, um alles zu verstehen. Bodden waren flache Küstengewässer, hatte sie gelernt. Die dichten Schilfgürtel boten Lebensraum für viele Vogelarten.

Hier war überall Wasser, rundherum, entweder Meer oder eben Bodden. Es war ungewohnt. Nele fühlte sich ein wenig unsicher, als ob der restliche Boden unter ihren Füßen auch noch fortschwimmen könnte. Rügen war so groß, da hatte sie kaum gemerkt, dass es eine Insel war. Hier war das anders, obwohl dieses schmale Stück Land nur als Halbinsel galt.

Sie folgte der belebten Straße vorbei an Geschäften und Parkplätzen durch einen dichten Wald, bis sie den Wegweiser nach Born fand. Hier im Dorf wurde es ruhiger. Erleichtert suchte sie das Büro und holte sich den Schlüssel bei einer freundlichen Frau ab.

»Bitte erschrecken Sie nicht«, erklärte diese, als sie ihr ein Papier überreichte. »An der einen Wand ist ein leider erheblicher Wasserschaden. Er ist längst trocken, aber die Wohnung ist noch nicht renoviert. Es sieht nicht schön aus. Darum haben wir den Preis so stark gesenkt.«

»Das macht nichts«, sagte Nele. »Ich bin ja froh, überhaupt noch etwas bekommen zu haben.«

»Ja, da haben Sie Glück. Wir haben die Wohnung nur noch einmal freigegeben, weil sich die Renovierung auf längere Zeit verschoben hat. Es ist so schwierig, Handwerker zu bekommen, Sie wissen ja …« Die Frau breitete in einer hilflosen Geste die Arme aus. »Wenn es Probleme gibt, melden Sie sich. Einen schönen Aufenthalt!«

Nele irrte trotz der Anweisungen auf dem Blatt noch eine Weile durch eine verzweigte Nebenstraße, bevor sie das Haus fand. »Sie können es nicht verfehlen, es ist himbeerrot gestrichen«, hatte die nette Frau erklärt.

Das stimmte allerdings. Zu übersehen war es nicht, nicht nachdem Nele die richtige Kurve umrundet hatte, hinter der es auftauchte. Sandregenpfeiferhaus , aus unregelmäßigen Ästen an die Fassade montiert, stand in großem Bogen an der Frontseite.

Erleichtert fuhr sie in die vorgesehene Parkbucht, stellte den Motor ab und überlegte, was sie eigentlich hier tat und ob diese Farbe eine Zumutung war oder gute Laune machte. Sie entschied sich für Letzteres.

»Es gibt zwei Wohnungen, die obere ist Ihre. Die linke Haustür ist die richtige«, hatte die Frau gesagt.

Die beiden Haustüren musste Nele erst einmal bewundern. Sie waren mit bunten Reliefs aus Holz verziert, ihre mit einem Schiff und Fischen, die andere mit einer Sonne und drei Tulpen. Das Schloss war schwergängig, aber mit Geduld und Mühe fand Nele heraus, dass man unten mit dem Knie gegen die Tür drücken und oben an der Klinke ziehen musste, dann ging es.

Dahinter tauchte eine steile Treppe auf. Nele manövrierte sich, ihre Tasche und die Gitarre hinauf und sah sich erstaunt um.

Wer auch immer die Bilder auf die Website gestellt hatte, konnte eindeutig nicht fotografieren. Die Wohnung war wesentlich heller und geräumiger, als sie angenommen hatte. Es gab einen Flur, ein Bad, ein Wohnzimmer mit Sitzecke, Esstisch und Küchenzeile und eine weitere enge Treppe. Die führte in ein kleines Giebelzimmer mit schrägen Wänden, einem Doppelbett und einem grandiosen Ausblick über Wiesen und Wald. Nicht allzu weit entfernt rauschten Autos auf der Straße vorbei, aber die Geräusche waren erstaunlich gedämpft.

Nele ließ ihre Tasche oben und ging wieder hinunter, um zu lüften. Es roch ein wenig merkwürdig. Vielleicht kam das noch von dem Wasserschaden. Die großen Flecken im Wohnzimmer fühlten sich zwar trocken an, aber vielleicht saß doch noch Feuchtigkeit in der Wand. An einigen Stellen schälte sich dort die Tapete, an anderen waren interessante Farbschattierungen entstanden, in Braun und Grün, Gelb und Grau. Es wirkte beinahe wie eine Landschaft, schien aber nicht von Schimmel herzurühren, sondern von den Verfärbungen durch die Nässe.

Nele öffnete die Glastür und fand einen Balkon vor, der ebenfalls wesentlich größer war, als es ausgesehen hatte. Das Geländer war himmelblau gestrichen, was in Kombination mit der himbeerroten Hauswand wunderbar fröhlich wirkte. Auf der anderen Straßenseite blickte sie auf ein rosa Haus mit hellgrünen Fenstern und Türen. Offenbar mochte man hier Farben. Es wirkte wie die Kulisse für ein heiteres Stück. Für einen neuen Akt in meinem Leben, dachte sie. Vorhang auf! Ich bin gespannt. Gar nicht einfach, so komplett ohne Drehbuch.

Auf dem First eines anderen Hauses gegenüber zwitscherte eine lange Reihe Schwalben. Es klang wie ein sehr angeregtes Gespräch. Einige davon stoben auf und flogen ganz in ihrer Nähe schwungvolle Kurven, wie um herauszufinden, ob sie als Nachbarin taugte. Sie musste lachen, ließ sich in einen der beiden Stühle fallen und atmete erst einmal tief durch. Die Luft war herrlich frisch und klar. Kein Wunder bei so vielen riesigen Wasserflächen in der Nähe. Zwischen den Häusern hindurch konnte sie in der Ferne den Koppelstrom glänzen sehen.

Jetzt erst wurde ihr klar, dass niemand wusste, wo sie war. Sie hatte noch nicht einmal Vio Bescheid gesagt.

Ein merkwürdiges Gefühl und doch wunderbar. Sie saß eine Weile da, sah den Schwalben zu und genoss es. Dann musste sie ins Bad. Als sie am Spiegel vorüberging, wunderte sie sich unwillkürlich, dass sie aussah wie immer, obwohl sie sich fühlte, als wäre sie jemand anderes.

Sie studierte den Zettel, den man ihr mit dem Schlüssel überreicht hatte. Eine Liste mit Notfallnummern von nahen Zahnärzten, Apotheken und so weiter. Da standen auch ein Lebensmittelladen, die Post und ein Frisör darauf.

Vielleicht war es ja Zeit, auch an ihrem Äußeren etwas zu ändern? Sprich mit den Menschen vor Ort, hatte Remy ihr geraten. Das war es doch! Wo erfuhr man denn mehr lokalen Klatsch und Tratsch als beim Frisör? Überfällig war ein Besuch dort zweifellos.

Sie wählte die Nummer und bekam zu ihrem Erstaunen einen Termin gleich für den nächsten Tag.

Dann meldete sich ihr Magen mit einem vernehmlichen Knurren. Sie würde einkaufen müssen. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Das hier war ja eine Ferienwohnung, keine Pension. Aber ans Wasser wollte sie auch, unbedingt! Sie betrachtete die Karte und beschloss, die zwanzig Minuten zum Hafen zu laufen. Dort sollte es Fischbrötchen geben. Einkaufen konnte sie später noch.

Die Hitze im Stau vor ein paar Tagen war schon kaum mehr vorstellbar. Hier war es luftig, der Wind blies ihr kühl um die Nase, und umso mehr, als sie den Bodden erreichte und bis ans Wasser lief. Romantisch war der Hafen von Born nicht. Das hatte sie sich anders vorgestellt. Ein paar kleinere Boote schaukelten in einem engen viereckigen Hafenbecken, es gab viele gepflasterte Flächen und etwas Rasen. Doch der Blick auf den Koppelstrom entschädigte dafür. Und das Bismarckheringbrötchen, das sie mit etwas Geduld ergatterte, auch.

Hier rauschten und tanzten weite Flächen aus Schilf. Der Himmel war größtenteils bedeckt, aber hinten durchbrach das Licht die Wolken und warf Streifen aus Silber auf die Wasseroberfläche. Die Wellen gluckerten an der Hafenkante, und ein Schwarm Kormorane strich ganz nahe vorbei. Die Stimmung hatte etwas unendlich Weites und durch die wechselnden Lichtspiele beinahe Unwirkliches. Nele vergaß die Zeit, bis sie merkte, dass sie fror.

Sie machte sich auf den Rückweg und bewunderte dabei die schönen Häuser, die alle einen ganz unterschiedlichen, sehr eigenen Charakter hatten. Auffällig waren die bunten Türen, die oft liebevoll geschnitzte Applikationen trugen, genau wie am »Sandregenpfeiferhaus«. Es schien eine große Vielfalt an Motiven zu geben.

Zum Lebensmittelladen fuhr sie mit dem Auto. Die frische Luft hatte ihr so großen Appetit gemacht, dass sie aufpassen musste, nicht zu viel zu kaufen. Vor allem bei der Schokolade und den Keksen musste sie sich beherrschen. Das gelang ihr nur mäßig.

Nun, da sie wusste, was dahinterlag, schloss sie die bunte Tür mit einem besseren Gefühl auf. Sie mochte einfach keine Ungewissheiten. Darum machte es sie immer noch unruhig, dass sie überhaupt hergekommen war. Warum eigentlich? Joram Grafunder lebte nicht mehr. Hier konnte es nicht viel für sie geben, außer dass sie wenigstens die Gegend kennenlernte, wo ihre Großeltern sich begegnet waren und ihre Mutter gezeugt worden war. Und mit etwas Glück dabei noch das eine oder andere über Joram erfuhr. Dazu ein paar Tage Auszeit, Erholung in frischer Luft. Das war wahrlich kein Grund, nervös zu sein! Die Tatsache, dass es sie so verunsicherte, bewies auf jeden Fall, dass es Zeit dafür gewesen war.

Vielleicht war es die Stille, die sie unruhig machte. Hier war es so ruhig, als wäre sie ganz allein am Ende der Welt und könnte nicht sicher sein, ob der Rest davon überhaupt noch existierte.

Vielleicht war aber auch nur ihre plötzliche Müdigkeit der Grund, dachte sie, als sie die Einkäufe verstaut hatte.

Auf der Suche nach dem Papierkorb entdeckte sie, dass an der Wand des Wohnzimmers, die vom Wasserschaden verschont geblieben war, ein großes Bild hing. Die Tür verdeckte es fast, wenn sie offen stand. Es stellte ein mit mäßigem Talent gemaltes Nashorn dar, das noch weitaus nervöser und erschöpfter aussah, als sie sich selbst fühlte. Es trottete durch eine unbestimmte weiße Fläche und blickte verwirrt.

»Was, um Himmels willen, machst du hier?«, fragte Nele unwillkürlich laut. Der Anblick war so unerwartet und völlig grotesk. Die restliche Dekoration bestand aus pastelligen, unaufdringlichen Zeichnungen von Möwen oder Blumen. Das Nashorn mit seinen knalligen Ölfarben passte so gar nicht dazu und kränkte Neles Instinkt für stimmige Kulissen. Auf den zweiten Blick stellte sie amüsiert eine gewisse Seelenverwandtschaft fest. Sie hatte etwas gemeinsam mit diesem hier so absurden Wesen. Sie waren beide weit weg von ihrem eigentlichen Ort, ohne genau zu wissen, warum. Aber sie war viel zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Kaum hatte sie die Stiege nach oben erklommen, fiel sie ins Bett und schlief sofort ein.

Irgendwann nachts wurde sie wach. Sie schob die wirren Reste eines Traums beiseite und fand die Luft fremd und stickig. Wo der Lichtschalter war, hatte sie vergessen und tastete sich zu der schrägen Dachluke hin, um sie zu öffnen. Als es ihr endlich gelang, umfingen sie plötzliche Kühle und der Geruch nach Meer, nassen Wiesen und Frühherbstnacht. Sie sah nach oben und verschluckte sich fast.

So viele Sterne hatte sie noch nie gesehen! Auch nicht einen so dunklen Himmel. Die Schwärze war so tief, dass sie sich unwillkürlich an den Rahmen des Fensters klammerte, um nicht den Halt zu verlieren und hineingesogen zu werden.

Die Sterne waren durch diesen Hintergrund so hell, dass Nele die Tränen in die Augen traten, so tief berührte sie das. Sie hantierte hinter der Bühne oft mit Licht, richtete die Schweinwerfer penibel so aus, dass ihre Kulissen am besten ihre Wirkung entfalteten. Doch sie hatte nicht geahnt, dass ein solcher Effekt möglich war. Dass es einen so groß und innerlich weit und gleichzeitig so winzig und demütig machen konnte, dass es einen in den Himmel hob und gleichzeitig eine neue Art Boden unter den Füßen schenkte. Sie fühlte sich für einen Augenblick, als wäre alles perfekt, als hätte das Universum ihr gerade zugeflüstert: »Du bist genau richtig, so wie du bist, gerade hier und gerade jetzt, und kein anderer Augenblick zählt als dieser Moment.«

»Die Milchstraße!«, sagte sie leise, als sie das helle Band entdeckte, das durch diesen Himmel führte. Firmament , dachte sie. Endlich weiß ich, was das Wort wirklich bedeutet.

Und dann tauchte ein anderes Licht auf, ein diffuser Strahl, der wie ein Trost und stiller Gruß über den dunklen Wald strich, einen Kreis beschrieb und über das Land wanderte, ohne dass Nele seinen Ursprung erkennen konnte. Dann verschwand er, nur um kurze Zeit später wiederzukehren. Staunend sah sie zu, dann fiel ihr ein, was das sein musste. »Ein Leuchtturm!« Natürlich, auf Inseln gab es Leuchttürme. Sie hatte diesen sogar auf einem Bild gesehen, als sie recherchiert hatte, wo sich ihre Großeltern einst getroffen hatten. Er war alt und aus rotbraunen Backsteinen gemauert.

Sie stand dort, bis ihre Gänsehaut nicht mehr nur von dem Anblick, sondern auch der Kälte kam und eine Mücke in ihrem Ohr summte. Mit Bedauern schloss sie das Fenster wieder und kuschelte sich ins Bett.

Die Sterne aber blieben in ihren Gedanken haften. Und mit ihnen der Wald, der als dunkle Masse unter dem kreiselnden Lichtstrahl wie ein geheimnisvolles Lebewesen gewirkt hatte, das im Schlaf geduckt lag.

Später sah sie in ihren Träumen Kiefern wie jene, die sie für Vio gepflanzt hatte, nur alt und knorrig, im Wind gebeugt, zwischen jungen Birken und Vogelbeerbäumen, in denen das Licht spielte. Eine merkwürdige Sehnsucht erfasste Nele, genau dort zu sein.