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Als Nele aufwachte, verschlafen hinuntertappte und die Balkontür öffnete, sah sie in der Ferne Sonnenlicht auf dem Bodden funkeln. Die Schwalben jagten über dem First nach Mücken. Das Nashorn an der Wand sah noch ebenso ratlos aus wie gestern.

»Da sind wir schon zu zweit«, sagte sie zu ihm.

Was sollte sie zuerst tun? Dann fiel ihr der Frisörtermin ein. Zum Glück war noch etwas Zeit für eine Dusche, einen Tee und die Möglichkeit, sich einigermaßen präsentabel zu machen. Vor allem jedoch, um ihre Gedanken zu sortieren. Sie war sich nicht sicher, ob nicht einige davon nachts auf der Milchstraße verlorengegangen waren, so desorientiert fühlte sie sich.

Die Dusche half, der Tee und ein Knäckebrot auf dem Balkon auch. Als sie die Haustür hinter sich schloss, hatte sie ihr Gleichgewicht einigermaßen wiedergefunden. Aber es war noch zu früh für ihren Termin. Sie beschloss, einen kurzen Umweg über die Seebrücke zu machen, die sie auf der Karte entdeckt hatte.

»Seebrücke« war vielleicht ein zu großes Wort für den Steg, der in den Koppelstrom ragte. Doch für den kleinen Ort Born passte die Größe. Hier gefiel es Nele wesentlich besser als am Hafen. Ein sandiger, von Gras gesäumter Trampelpfad führte zum Wasser, zu beiden Seiten flankiert von hohem Schilf. Kein Beton, keine Steine, nur der Steg und an dessen Anfang und Ende Bänke. Nele war allein, kein Mensch in Sicht. Vom Ende des Steges aus schon wirkte das Land weit weg, nur ein Reetdachhaus duckte sich in der Ferne hinter dem Schilf. Wolken jagten über den Himmel und warfen Schatten auf das Wasser, dazwischen flimmerte das Funkeln, in dem Schwäne trieben. Nele zog ihre Jacke enger um sich und setzte sich auf die Bank. Der Wind rauschte mächtig im Schilf, in dem kleine Vögel gewandt umherhüpften.

Der Wind schlug ihr die Haare um die Ohren. Irritiert bändigte sie sie mit einem Zopfgummi. Das nützte wenig, denn jede Bö hieb ihr auch den Pferdeschwanz um die Nase. Sie stopfte ihn in ihren Kragen, dabei fiel ihr der Termin wieder ein, und sie sprang hastig auf. Fast hätte sie vergessen, dass sie auf etwas wartete, so gut gefiel es ihr hier.

Der Laden war klein. Es gab nur zwei Stühle, einer war von einer älteren Dame besetzt. Eine junge Frau wickelte bei ihr Lockenwickler ein. Ihre Kollegin winkte Nele auf den freien Stuhl. »Hallo, ich bin die Danni! Was machen wir mit deinen Haaren? Machst du hier Urlaub? Wo kommst du her? Ist das Wetter nicht verrückt?«

Selber schuld, dachte Nele, ich habe ja einen Ort gesucht, an dem viel geredet wird. Aber ob man hier an relevante Informationen kommt? Sie beschloss, sich nur auf Dannis erste Frage zu konzentrieren. »Ich weiß auch nicht, was ich mit meinen Haaren machen will«, sagte sie ratlos. »Vielleicht ist es Zeit für eine Veränderung? Wie wäre mal was Kurzes?«

Danni löste das Gummi und versuchte, die Bürste durch Neles lange Strähnen zu ziehen. »Tssss!« Sie schüttelte strafend den Kopf. »Am Strand gewesen, was? Der Wind hat Knoten reingemacht. Das sehe ich jeden Tag. Aber abschneiden kommt überhaupt nicht in Frage! Du hast wunderbar langes, dichtes Haar. Und für so ein Weißblond bezahlen andere viel Geld. Ist echt bei dir, oder?«

»Ja, aber …«

»Das passt auch super zu deinen Augen. Blaugraugrün. Alle Farben drin. Ich bin neidisch!« Danni funkelte sie im Spiegel vergnügt mit ihren dunkelbraunen Kulleraugen an. »Wir könnten auch ein paar bunte Strähnen …«

»Nein!«

»Na schön, aber abgeschnitten wird nichts, nur die splissigen Spitzen!« Danni klang so entschieden, dass Nele nicht weiter zu widersprechen wagte. Interessiert verfolgte die Frau nebenan das Gespräch, während Dannis Kollegin grinste. Nele bereute es bereits, gekommen zu sein. Aber draußen begann es zu regnen. Eine Flucht würde jetzt auch nicht viel nützen. Die Alternative war, Zeit mit dem Nashorn zu verbringen.

»Ich hab’s!« Die Frisörin sprang auf und kehrte mit einem Plakat auf einer Stellwand wieder, die sie hochhielt. »Hast du Mut? Das wäre genau das Richtige! Passt perfekt zu dir und ist genau die Typveränderung, die du suchst. Der Wind kann dann auch nichts mehr anrichten! Sehr praktisch!« Erwartungsvoll sah sie Nele an, und ihre Kollegin nickte beifällig.

»Um Gottes willen!«, bemerkte ihre ältere Kundin entsetzt, als wäre der bloße Gedanke eine Todsünde und die wunderschöne Frau auf dem Plakat ein Skandal.

Genau das weckte Neles Widerspruchsgeist und bewog sie, genauer hinzusehen. Die Frau war dunkelhäutig und ihre Haare schwarz, und so dauerte es einen Moment, sich selbst mit diesen Zöpfen vorzustellen.

Unzählige sehr dünne, lange Zöpfe, die oben auf dem Hinterkopf mit einer Spange lose zusammengefasst waren. Kleinere Bilder unten zeigten, dass man die Zöpfe auch mit einem Reif kombinieren oder einfach so tragen konnte. Es sah alles umwerfend aus. An dieser Frau.

»Micro Braids«, sagte Danni stolz. »Es dauert ein wenig, und ein bisschen teuer ist es auch. Aber es hält lange. Stell dir vor, wie viel Zeit du beim Kämmen sparst! Draußen regnet es jetzt sowieso eine Weile. Und ich habe die nächsten Stunden keine Kunden und mache dir einen Sonderpreis. Ich darf das so selten machen und muss in Übung bleiben. Was machst du beruflich?«

»Ich bin am Theater tätig«, sagte Nele verlegen. »Hinter der Bühne.«

»Na dann! Da brauchst du Dramatik. Was Mutiges. Ist doch perfekt!«

Nele wusste nicht, ob es Dannis ansteckende Begeisterung war, das abfällige Schnauben der Frau im Nebenstuhl, das schöne Bild oder der Wunsch, einmal etwas ganz Verrücktes zu tun, was sie dazu bewog zuzustimmen. Vielleicht auch das Gefühl, dass es Vio richtig gut gefallen würde.

Vor allem hatte sie plötzlich einfach Lust dazu. Warum nicht mal ihre eigene Kulisse sein. Sie hob die Schultern.

»Na, dann leg mal los.«

Sie ergab sich und fühlte sich abenteuerlustig. Das Plätschern des Regens draußen und das Hantieren von Dannis sanften Händen waren beruhigend. Nele entspannte sich und musste sich daran erinnern, dass sie nicht zum Dösen hergekommen war.

»Lebst du hier?«, fragte sie Danni.

»In Wustrow. Auf dem Weg hierher bist du da vorbeigefahren.«

»Ich habe gelesen, dass es hier auf dem Darß viele Künstler gab. Immer mehr haben sich hier niedergelassen.«

»Ja, weil wir hier so eine tolle Landschaft haben«, sagte Danni voller Stolz. »Bist du auch Künstlerin?«

»Nein, ich nicht, aber hast du zufällig etwas von einem Joram Grafunder gehört, der mit Holz gearbeitet hat? Das ist aber ewig her.«

Danni war schon wieder mit einem Zopf fertig. »Nö, tut mir leid, ich weiß nicht viel über Kunst. Ich geh lieber schwimmen.«

Die alte Dame schnaubte schon wieder und versuchte, es mit einem Husten zu kaschieren. Danni wandte sich mit einem liebenswürdigen Strahlen an sie. »Frau Klingbeil, Sie wissen doch bestimmt etwas über diesen Künstler!«

»Künstler! Künstler nennt sich doch heutzutage jeder. Mit Können hat das nichts mehr zu tun! Früher war das anders.«

»Es geht ja um früher«, bemerkte Dannis Kollegin.

»Rieke, weißt du denn was?«, erkundige sich Danni.

»Leider auch nicht. Aber ich würde in Ahrenshoop im Kunstmuseum fragen. Und im gleichen Ort gibt es auch eine Galerie. Aber die hat vorübergehend geschlossen. Die Inhaber sind viel unterwegs, der Mann ist Musiker. Hast du schon im Internet geschaut?«

»Na ja, ich suche eigentlich eher nach Informationen über sein Privatleben«, erklärte Nele.

Frau Klingbeil horchte unter der Last der Lockenwickler auf. »Wird er gesucht? Hat er was verbrochen?«

Nele beschloss, dass die Idee mit dem Frisör zwar gut für ihre Haare gewesen war, aber nicht für ihr Vorhaben.

»Nicht so wichtig«, sagte sie.

»Ich würde die Angler fragen«, schlug Rieke vor. »Die alten Angler, die am Wasser herumsitzen, wissen eine Menge, die sagen es nur nicht immer. Man muss nachhaken. Sie überzeugen.«

»Ich dachte, Angler werden nicht gern gestört?«

»Das kommt darauf an«, sagte Rieke.

Über zwei Stunden später hielt Danni Nele einen Spiegel hin, so dass sie sich rundum bewundern konnte.

»Na, was hab ich gesagt?«, fragte sie stolz. »Deine Kopfhaut könnte am ersten Tag ein wenig schmerzen, aber das geht schnell vorüber. Das ist es wert, findest du nicht?«

Erstaunt betrachtete sich Nele und vergaß, dass ihre Mission vorerst erfolglos geblieben war. Die Typveränderung jedenfalls war gelungen, Danni hatte recht gehabt. Die unzähligen hellen Zöpfe standen ihr ausgezeichnet. Normalerweise dachte Nele über ihr eigenes Äußeres wenig nach. Doch jetzt gerade fühlte sie sich jung, unternehmungslustig und – ja, sogar schön.

Was wohl ihr Großvater dazu sagen würde, wenn sie ihm begegnen könnte? Er war Künstler. Sicher war er Abweichungen von der sogenannten Normalität gegenüber aufgeschlossen gewesen.

Sonst hätte sich Vio nie in ihn verliebt.

Draußen stellte sie fest, dass der Wind ihr die Haare nun nicht mehr ins Gesicht schlagen konnte.

»Was sagst du dazu?«, fragte sie das Nashorn, als sie in der Wohnung die Treppe erklommen hatte, doch das Tier ging weiter stur und stumm seinen Weg. Nele machte sich einen Salat, und als sie fertig gegessen hatte, regnete es nicht mehr, auch wenn der Himmel noch bedeckt war. Angeln würde bei dem Wetter sicher keiner, aber sie hatte für heute ohnehin genug geredet. Auf das Museum hatte sie auch keine Lust. Nach dem langen Sitzen beim Frisör brauchte sie dringend frische Luft.

Sie fuhr die eine Straße entlang, die hier zu allem zu führen schien, bis sie einen Parkplatz fand, von dem aus es durch den Wald zum Strand gehen sollte. Zum wilden Weststrand. Dorthin, wo Vio Joram getroffen hatte.

Sie hätte andere Schuhe anziehen sollen, stellte sie fest, als in ihre Sandalen von allen Seiten nasser Sand und Steine eindrangen. Ihre Kopfhaut schmerzte von der ungewohnten Frisur tatsächlich ein wenig. Es war warm und schwül geworden. In der feuchten Luft fiel ihr das Atmen beinahe schwer.

Sie war nicht allein unterwegs. Nach dem Regen schien es viele zum Strand zu ziehen. Nele hatte keine Lust auf Menschenmengen, sie wollte nachdenken. Also folgte sie nicht der Masse, sondern einem Abzweig, der im Wald an der Küste entlangführte. Sie freute sich, als sie auch hier Vogelbeeren entdeckte. Doch dann wurde der Wald dichter. Irgendwann frischte der Wind wieder auf, und bald hörte sie ein Tosen und Rauschen. Da unten, hinter den Bäumen, musste das Meer sein! Sie blieb stehen und blickte hinunter. Ja, dort schlugen die Wellen gegen den Strand, aber das war nur die Hälfte des Rauschens. Die andere, wie eine zweite Stimme, rührte von den Blättern und Ästen her, die von plötzlichen Böen bewegt wurden.

Der Himmel in der Ferne war silbergrau. Davor stand eine letzte Reihe Bäume, einige krumm gewachsen vom stetigen Wind. Die Silhouetten wirkten wie aus einer von Neles Kulissen. Doch jene waren starr und steif, standen genau wie geplant und entwickelten niemals ein Eigenleben.

Hier war das anders. Die dunklen, grazilen Bäume vor dem hellen Himmel bewegten ihre Äste im Wind wie Arme. Als würden sie sich unterhalten. Als hätten sie etwas zu sagen, allein durch ihre Gesten.

Das wirkte erschütternd vertraut.

Der Boden unter Neles Füßen schien sich aufzulösen. Sie musste sich an dem nächsten Stamm festklammern, weil ihr schwindelig wurde.

An einem Baum kannst du dich immer festhalten und dir Kraft holen, er wird dich niemals enttäuschen , klangen Vios Worte aus ihrer Erinnerung.

Diesen Halt hatte sie jetzt nötig.

Denn die Gesten der Bäume erinnerten sie unvermutet an einen Menschen, der schon so lange nicht mehr da war. Einfach nicht mehr da, von einem Tag auf den anderen, nachdem er so viele Jahre wie eine Hälfte von Neles Seele gewesen war. Die verdrängte Trauer, das fehlende Begreifen, die quälenden Träume, all das brach sich mit einem Schlag Bahn, durch ihre gewohnte innerliche Schutzmauer hindurch, die in tausend Teile zerbarst. Nele war ausnahmsweise nicht auf der Hut gewesen, nicht gerade jetzt, da sie an Vio und Joram gedacht und überlegt hatte, ob es hier damals wohl genauso ausgesehen hatte.

Noelie! , flüsterte sie.

Genau wie hier die ungewöhnlichen Bäume hatte ihre Freundin, Spielgefährtin, Vertraute vor so langer Zeit oft am Fenster gestanden und ihr Zeichen gegeben, ebenso unten auf der Straße oder auf der anderen Seite des Klassenzimmers. Sie hatten sich über solche Entfernungen hinweg mühelos verständigen können, denn sie benutzten die Gebärdensprache. Es war ihre Geheimsprache, niemand sonst konnte sie deuten.

Noelie war das einzige gehörlose Kind an dieser Schule. Man hatte sie erst nicht aufnehmen wollen. Doch Nele war schon mit Noelie in den Kindergarten gegangen. Sie waren Nachbarn. Neles Mutter hatte versichert, dass Nele alles für Noelie übersetzen würde, was diese nicht verstand. Am Ende war das kaum nötig. Noelie konnte Lippen lesen und hatte eine blitzschnelle Auffassungsgabe.

Die Gebärdensprache lag dem Mädchen. Noelies Vater war Franzose. Wenn er sprach, gestikulierte er mit Anmut und Temperament. Er malte seine Geschichten in die Luft. Nele war sich sicher, dass es das war, was ihre Liebe zum Theater begründet hatte. Wenn er mit Noelie sprach, die mit ihren dünnen Armen Begriffe formte, konnte Nele sehen, wie die Worte hin und her flogen, ohne dass es einen Laut gab, und dass sie trotz ihrer Leichtigkeit inhaltsschwerer waren als die gesprochene Sprache. Sie konnten sich sogar lautlos anschreien, Noelie und Jacques. Es gab dabei nicht das kleinste Geräusch, und doch schien von ihrer Heftigkeit der Boden zu erzittern.

Anders war es, wenn Noelie mit Nele sprach. Nele hatte es schnell gelernt, aber ihre Gesten waren langsamer. Das machte nichts, denn sie stritten sich fast nie. Manchmal sah Nele aus dem Augenwinkel ihre beiden Schatten, Noelies groß und schmal, ihr eigener kleiner und etwas breiter. Die Schatten ihrer Arme mischten sich zu einem abstrakten Bild, einem Tanz, dessen Bedeutung niemand kannte außer sie selbst und der sie zu einer Einheit verschmelzen ließ. Zusammen konnten sie es mit allem aufnehmen. Mit verständnislosen Lehrern, mit pöbelnden Schulkameraden, mit Strafarbeiten und Prüfungen und dem großen, ungewissen Ding namens Zukunft und Erwachsenwerden.

Die unterstützende Kraft der Bäume, von der Vio so oft gesprochen hatte, hatte Nele damals nicht interessiert. Noelie war ja da.

Und Nele hatte niemals daran gezweifelt, dass es für immer so sein würde.