Es hatte keinen Morgen gegeben, an dem Noelie ihr nicht drüben aus dem Fenster zuwinkte, noch im Schlafanzug. Die kleinen Mädchen wechselten stumme Worte, ehe der Tag begann. Manchmal hatte Nele den Eindruck, als ob Noelies Silhouette vor dem warmen Schein der Lampe hinter ihr wie eine filigrane Zauberin die Dämmerung herbeidirigierte.
Später stand Noelie dann vor Neles Haustür, den altmodischen Ranzen auf dem Rücken, und sie gingen den Schulweg gemeinsam. Nahe der Schule wurden die schnatternden Trauben der herbeieilenden Kinder immer dichter, und inmitten des Lärms unterhielten sich Nele und Noelie still und angeregt in ihrer eigenen Sprache. Die anderen hatten es irgendwann endlich aufgegeben, sich lustig zu machen, und ignorierten sie. Sie konnten diesen zwei Mädchen nichts anhaben. Die Gesten spannen einen unsichtbaren Kokon um ihre Freundschaft und schützten sie vor der Welt. Längst hatten sie Gebärden zu der üblichen Gehörlosensprache dazuerfunden, die niemand kannte außer ihnen.
An Sonntagen und nach der Schule streiften sie durch das Viertel und den Park, während Noelies dünne Arme lautlose Geschichten vor dem Himmel woben. Sie steckte Nele unweigerlich damit an. Langeweile kannten die Mädchen nicht, das Leben war voller Abenteuer und unendlich weit. Wenn Nele Gitarre spielte, legte Noelie die Hand auf den Klangkörper und spürte die Vibrationen. Wenn Nele mit Noelie unterwegs war, war ihr immer, als würde die Welt ebenfalls vibrieren von der Lebendigkeit, die sie durchdrang. Und das ganze Leben lag vor ihnen.
Bis sie fünfzehn waren und Noelie das erste Mal verliebt und allein unterwegs, um ihren Schwarm zu treffen. Vielleicht war sie deswegen unaufmerksam gewesen. Oder es hatte nur den schlichten Grund, dass sie den Lastwagen, der bei Rot um die Ecke gerast war, nicht hatte hören können.
Nein! Das war die Geste gewesen, die Nele gemacht hatte, als man versuchte, es ihr schonend beizubringen. Keinen Ton hatte sie von sich gegeben, nur diese Gebärde, Nein , immer wieder, in endloser Wiederholung. Den ausgestreckten Zeigefinger, die entschiedene, abwehrende Querbewegung vor der Brust.
Tagelang hatte sie kein Wort mehr gesprochen.
Noelies Eltern waren kurz danach fortgezogen. Das Nachbarhaus blieb fortan leer. Es brannte kein Licht mehr darin, und doch glaubte Nele immer wieder, Noelie am Fenster zu sehen.
Über den Tod ihrer Freundin wurde nie gesprochen. Neles Eltern glaubten leidenschaftlich daran, stets nach vorn zu blicken, und außerdem hatten sie diese Freundschaft immer schon mit großer Sorge betrachtet. Nele konnte hören, sie war musikalisch, sie sollte ein normales, aufgeschlossenes Kind sein, mehr Kontakt zu anderen haben. Nun war es eben Schicksal, dass sie dazu gezwungen wurde.
Vio war die Einzige, die versuchte, mit ihrer Enkelin darüber zu reden. Doch auch Vio begriff bei all ihrem Verständnis und ihrer Liebe nicht, dass es keine hörbaren Worte dafür geben konnte, die zu Neles Trauer gepasst hätten. Mit Noelie hatte sie die Hälfte ihres Wesens verloren. Und Noelie hatte eben keine Worte gesprochen. Sie hatten zusammen eine Sprache gehabt, aber deren Gesten verstand niemand sonst in Neles Umfeld.
Sie schnitt Noelies Silhouette aus schwarzer Pappe aus und klebte sie ans Fenster.
Das war die erste Kulisse, die sie schuf. Später tauschte sie sie aus, weil sie ihr schmerzliche Träume verursachte. Sie ersetzte die menschliche Silhouette durch die einer Birke, weil Noelie sie immer an eine erinnert hatte. Sie probierte immer neue aus. Und wie ihre Eltern begann sie schließlich, die Erinnerung zu verdrängen, damit die schlimmen Träume sie nachts nicht mehr quälten. Damit das stete Gefühl verschwand, dass Noelie irgendwo lautlos nach ihr rief und Nele sie nur nicht sehen konnte. Dass es ihr nie gelang, um die richtige Ecke zu biegen und den Weg zu ihr zu finden.
Jahrelang hatte Nele eine innere Barriere gegen alle diese Gefühle aufgebaut, und nun wischten ein paar dünne Bäume den Schutzwall mit ein paar vertrauten Gesten beiseite. Sie riss sich zusammen, lehnte die Stirn gegen die glatte Rinde des Baumes und klammerte sich mit zugekniffenen Augen an ihn, bis der Schwindel und das Dröhnen in ihrem Kopf nachließen. Nur nicht mehr zu der Baumreihe vor dem Horizont blicken, dachte sie, als sie die Augen schließlich wieder öffnete. Sie würde jetzt einfach wieder zurückgehen, den Weg, den sie gekommen war, sich zusammen mit dem Nashorn einschließen und einen heißen Tee trinken.
Doch eine Bewegung ließ sie innehalten. Einige Meter entfernt lehnte eine Frau an einem anderen Baum, so tief im Schatten, dass Nele sie bisher nicht gesehen hatte. Sie war alt. Ihr Blick war unverwandt auf Nele gerichtet. Als sie sah, dass Nele sie bemerkt hatte, hob sie langsam die Hand zu einem Gruß. Ansonsten bewegte sie sich nicht. Nicht einmal ein Lächeln war da. Nur dieser Blick, den Nele nicht deuten konnte. Oder lag da doch ein verhaltenes, wissendes Schmunzeln um die Mundwinkel?
Es war unheimlich. Nele nickte der Frau zu, ganz kurz nur, dann wandte sie sich ab und lief zurück, so schnell es auf dem schweren Boden ging. Erst als sie die bunte Tür hinter sich geschlossen hatte und den nun schon vertrauten muffigen Geruch der Wohnung wahrnahm, fühlte sie sich sicher. Sie legte sich eine Weile hin, schloss die Augen und versuchte, an gar nichts zu denken. Später halfen ihr eine heiße Dusche, eine Tiefkühlpizza und ein Roman, den sie im Schrank gefunden hatte, sich abzulenken.
Doch später, in der Nacht, war es nur das kreiselnde Licht des Leuchtturmes, das ihr Halt gab. Immer wieder stand sie auf, um nachzusehen, ob es noch da war.
Am nächsten Morgen war es ruhiger in ihr geworden, doch sie war tief in Gedanken und verließ das Haus ohne Plan. Ziellos wanderte sie die Straße entlang. Irgendwann fand sie sich vor einem Busch wieder, an dessen Zweigen bunte Teetassen und Kannen an Schleifen hingen wie Ostereier. Es wirkte so verrückt und fröhlich, dass Nele stehen blieb. Sie stellte fest, dass dieser Busch auf etwas aufmerksam machen sollte. Vor dem Haus dahinter standen ein paar gemütlich wirkende Tische, Bänke und Sessel mit dicken Auflagen, die aus Europaletten gebaut waren. Franzis Imbiss stand über der offenen Tür, und an der Tafel darunter Frühstück! Herzlich willkommen!
Warum eigentlich nicht? Heute früh war es Nele sogar zu viel gewesen, sich ein Brot zu schmieren, aber jetzt spürte sie die Leere im Magen. Vielleicht war es auch die Aussicht auf Gesellschaft, die sie lockte.
»Hallo!« Eine zierliche Frau mit einem Lächeln wie ein Sonnenaufgang blickte von ihrer Arbeit hinter der Theke auf. »Ein Frühstücksgast, wie schön!« Sie trug einen dunklen, fransi-gen Bob in Schulterlänge, den ein paar zarte Makrameestränge mit bunten Perlen verzierten und der Frisur eine heitere Note gaben.
Nele sah sich um. Es war leer bis auf drei ältere Männer an einem Tisch in der Ecke, die unter einem schreiend bunten Wandteppich Karten spielten. »Ist es nicht eigentlich zu spät für Frühstück?«
»Ach was. So genau nehmen wir das nicht. Möchten Sie draußen sitzen? Den Frostbeulen hier ist es zu kalt, aber ich finde das Wetter herrlich.« Sie grinste liebevoll zu den Alten hinüber und bekam eine Kusshand zurück. »Tee oder Kaffee?«
»Tee bitte. Sehr gerne draußen.«
Nele setzte sich zu dem Busch mit den Tassen. Die Polster waren weich. Sie lehnte sich zurück und genoss es, sich verwöhnen zu lassen.
»Ich bin Franzi«, sagte die Wirtin und stellte Tee, Kandiszucker und Milch auf den Tisch. Nele schätzte sie auf etwas älter als sie selbst. »Franzi Michelly. Was möchtest du … möchten Sie? Käsebrötchen? Wurst? Honig? Rührei? Wir haben nur einfache Gerichte, dafür alles frisch und freundlich.«
»Du ist schon in Ordnung. Ich bin Nele.« Sie war dankbar für die Herzlichkeit und so normale Themen wie Käsebrötchen. Es holte sie zurück in die Gegenwart. Franzis Stimme war wie ein Rettungsanker. »Ein Käsebrötchen und eines mit Honig wären toll.«
Durch das Fenster sah sie, wie Franzi den Käse schnitt, während die Männer über ihr Spiel diskutierten. Ein Hund schlief neben ihnen. Im Vorgarten hämmerte ein anderer Mann einen Ständer für ein Vogelhaus in den Boden. Insgesamt ein Bild tiefen Friedens. Wohltuend.
»Wir sind noch nicht so lange hier auf dem Darß«, sagte Franzi, als sie den Teller vor Nele hinstellte. »Wir fassen gerade erst Fuß. Aber wir haben es noch nicht bereut! Nach und nach werden hoffentlich mehr Gäste kommen.«
»Bestimmt«, sagte Nele mit vollem Mund, »wenn die Brötchen und der Tee immer so schmecken! Ich komme auf jeden Fall wieder.« Ihr wurde gerade viel leichter ums Herz.
Franzi lachte auf, hell wie die Schäfchenwolken am Horizont. »Wunderbar. Bleibst du länger?«
»Nur ein paar Tage«, gab Nele zu. »Aber ihr schafft das ganz sicher. Solche Orte braucht man. Wo man sich auf Anhieb wohlfühlt.«
»Oh, danke! Das macht mir Mut.« Franzi strahlte.
»Kannst du mir sagen, wo man hier angelt?«, fragte Nele. Franzi nach Joram Grafunder zu fragen hatte wohl keinen Zweck, wenn sie hier so neu war.
»Du willst angeln?« Franzi musterte sie erstaunt.
»Nein, es interessiert mich nur. Für einen Verwandten«, improvisierte Nele, die nicht die ganze Geschichte erklären wollte.
»Och, ich denke, überall am Bodden. Am Hafen und am Steg, wo man eben ans Wasser kommt und nicht zu viel Schilf wächst. Ich sehe sie überall einmal sitzen, mal so, mal so. Warte kurz.« Sie ging hinein und wechselte ein paar Worte mit den Männern.
»Zwecklos«, sagte sie lachend, als sie zurückkam. »›Am Wasser‹, sagen sie. Mehr Worte bekommt man sonst auch nicht aus ihnen heraus. Lass es dir schmecken!«
Sie verschwand wieder drinnen. Kurze Zeit später sah Nele, wie sie dem Mann mit dem Hammer einen Kuss gab. Ja, die beiden schaffen es, dachte sie. Das spürt man einfach.
»Franzi, hast du eine Ahnung, wo ich hier große Stücke Pappe auftreiben könnte?«, fragte sie später, als sie bezahlte. »Hast du vielleicht Verpackungen übrig? Alte Kartons?« An dem Busch und den Palettensesseln sah man ja, dass Franzi kreativ war.
»Leider gerade nicht, aber die Jungs vom Fahrradladen sind nett, vorn beim Lebensmittelladen. Du kannst in beiden Läden fragen. Viel Glück!«
Nele holte ihr Auto. Wenig später erklomm sie die Treppe mit einem Stapel großer Pappen, einem nagelneuen Cuttermesser und einer Rolle Doppelklebeband. »Jetzt bekommst du was zu sehen!«, verkündete sie dem Nashorn. Es blickte unvermindert skeptisch drein, doch Nele machte sich ans Werk. Diese beschädigte Wand hatte eine Neugestaltung wahrlich nötig.
Wann auch immer in ihrem Leben etwas außer Kontrolle geriet, baute sie sich eine neue Kulisse, bis sie die Welt wieder geradegerückt hatte. Warum sollte das nicht auch diesmal funktionieren?