10

Sie hatte die junge Frau dort stehen sehen, wie sie sich an den Baum klammerte, als würde sie sonst umfallen. Erst hatte sie gedacht, die Fremde wäre alt, wie sie selbst. Das lag an den weißen Haaren. Doch als ein Sonnenstrahl durch das Blätterdach drang und für einen Moment den hellen, gebeugten Kopf streifte wie ein flüchtiger Segen, hatte Hella gesehen, dass sie blond waren, ein Blond, so hell wie das ausgebleichte Schilf nach dem Winter. Und dass sie Zöpfe trug, viele dünne Zöpfe, wie es eine alte Frau nicht tun würde.

Hella spielte für einen Moment mit dem Gedanken, ob so etwas Quentin wohl gefallen würde. Aber ihre Haare waren zu kurz. Sie ließen sich gerade so im Nacken mit der hölzernen Spange zusammenfassen, die Quentin ihr geschnitzt hatte. Und der junge Timon wäre nicht begeistert, wenn er sich auch noch lange mit ihrer Frisur beschäftigen müsste. Der hatte anderes zu tun, der Bursche, und Sorgen, von denen er ihnen nichts sagte.

Hella überlegte, ob sie die junge Frau ansprechen sollte, aber wozu? Sie hatte einen Baum gefunden, der sie stützte. Eine Eule schlief gerade in jener Buche, das konnte Gutes oder Schlechtes bedeuten. Auf jeden Fall war deutlich, dass etwas in Unordnung war mit der Fremden. Hella kannte das, die Haltung der Frau war ihr vertraut. Sie war selbst noch viel jünger als diese gewesen, als sie einmal ebenso ratlos und unglücklich unter einem Baum gestanden hatte. Lange war das her, sehr lange. Doch die Menschen und ihre Nöte änderten sich nicht, nicht die tiefen, inneren. Einsamkeit und Angst, Trauer und Liebe, Hoffnung und Sehnsucht, Ratlosigkeit und Wissbegier, das waren alles Gefühle, die gleich blieben, egal wie weit sich der Kreislauf der Jahre drehte. Sie waren so zeitlos wie die Bäume, die hier seit Jahrzehnten und Jahrhunderten standen und Zeuge von alledem wurden. An sie hatten sich schon Generationen gelehnt, sich in ihrem Schatten ausgeruht und in ihrem Schutz geliebt. Die Bäume wussten so viel mehr als ein einzelner Mensch, der zu ihnen aufsah. Sie schwiegen nur darüber. Doch wenn man sie auf die richtige Art etwas fragte und sich Zeit nahm, dann bekam man eine Antwort.

Oder auch nur Kraft für einen Moment, wie die junge Frau, die sicherlich vor einer Antwort davongelaufen war.

Sie würde wiederkommen.

Es ging Hella nichts an. Bäume waren genug da.

Sie machte sich auf den Rückweg, genoss dabei den Duft, der unter jedem Schritt vom Waldboden aufstieg. Bewunderte das Licht, das durch die Wipfel schlich und hier einen Farn, dort einen Pilz aufleuchten ließ. Das Licht in den Bäumen, das so grün und bewegt war, immer im Tanz mit dem Wind und den Blättern, hatte dieselbe Kraft wie immer schon und wies auf das Filigrane, Erstaunliche hin, das man sonst leicht übersah. Hella fühlte sich jung, wenn sie hier unterwegs war, kein bisschen anders als vor so langer Zeit. Hier hatte sich nichts verändert, in all den Jahrzehnten. Es ging dem Wald mal schlechter, mal besser, je nachdem, was die Menschen und das Wetter mit ihm anstellten. Aber das Grundlegende blieb immer gleich. Das langsame Wachsen und die dauerhaften Wunder darin.

In Hella hatte sich auch nichts verändert. Sie hatte nur mehr Erinnerungen.

Als sie das Gartentor öffnete, ging sie um das Haus herum und legte zärtlich eine Hand an den Stamm einer Kiefer. Dieser Baum war nicht alt. Zwanzig Jahre, nicht viel für einen Baum. Sie hatte ihn gepflanzt, als sie nach ihrer Berentung wieder hierhergekommen war. Es war das Erste, was sie getan hatte.

Jetzt holte sie eine Eichel aus ihrer Tasche und legte sie zu Füßen des Stammes. Das Bücken fiel ihr immer schwerer, aber oft ging es noch. »Für dich. Liebe Grüße von deinem Wald«, sagte sie leise.

Das würde ihr Gewissen nicht beruhigen, aber es war ihr trotzdem ein Bedürfnis. Der, in dessen Andenken sie die Kiefer gepflanzt hatte, würde ihr verzeihen, dass sie in einer bestimmten, einzigen Sache versagt hatte. Dafür hatte sie so viel anderes geschafft, das in seinem Sinne gewesen wäre.

Aber es nagte an ihr, nicht nur seinetwegen.

»Hella? Bist du zurück?« Die Frage mit einem leichten Zittern darin kam aus dem offenen Fenster.

»Ja, mein Schatz! Ich bin hier!« Hella beeilte sich hineinzugehen. Sie ließ Quentin nur noch ungern allein, doch sie brauchte diese selten gewordenen Ausflüge für ihre eigene Gesundheit, für Körper und Seele, solange es noch ging. Wer hätte auch gedacht, dass sie im hohen Alter noch einmal eine Liebe finden würde, die sie ganz bestimmt nicht gesucht hatte? Sie war hierher in die Gegend ihrer Kindheit gekommen, um in Ruhe und Besinnlichkeit den Rest ihrer Jahre zu verbringen. Stattdessen war sie noch einmal lange berufstätig gewesen. Und dann hatte eines Tages Quentin vor ihr gestanden, im Wald, tränenüberströmt.

Kaum zu glauben, dass sie nun schon sieben Jahre glücklich zusammenlebten, dachte sie, als sie schwerfällig ihren Mantel auszog. Quentin saß am Fenster in seinem verstellbaren Ohrensessel und blickte ihr sehnsüchtig entgegen. Sie war sich nicht sicher, was er noch sah. Viel war es nicht. Dafür sah sie aber die Liebe in diesen schwach gewordenen Augen. Und auch, dass das Rheuma ihn heute schmerzte. Das Wetter war launisch in diesen Tagen und Quentin in mehrfacher Hinsicht sehr feinfühlig.

Sie beugte sich hinunter, um ihn zu küssen. Er hielt sie fest. »Du riechst so gut! Anders. Es wird Herbst.«

»Findest du auch? Ich war mir nicht sicher, ob ich es mir nur einbilde.«

Er nickte nachdrücklich. »Doch. Da ist diese erste, glückliche Ahnung in der Luft. Ich habe es schon heute Morgen gerochen, als Timon das Fenster geöffnet hat. Ich freue mich darauf.« Er lachte. »Herbst passt jetzt einfach am besten zu uns. Und er bekommt mir. Dieser Sommer war zu heiß.«

»Und viel zu trocken. Die Bäume haben Durst, schon allzu lange.« Hella setzte sich und bemühte sich, ihre Schuhe auszuziehen. Verflixt! Es schien noch gar nicht lange her, dass sie sich über so etwas keine Gedanken hatte machen müssen.

Der Herbst passt am besten zu uns … Sie lächelte. Das liebte sie an Quentin. Eigentlich waren sie beide weit im Winter ihres Lebens. Aber sie fühlten sich nicht so. Quentin zog gar nicht in Betracht, es so auszudrücken. Für ihn würde dieses Leben noch an seinem letzten Tag bunt sein und stürmisch, nicht weiß und kahl und still. Sie selbst mochte den Winter auch, mit eben dieser Ruhe, wenn die nackten Bäume wie Schriftzeichen vor dem Himmel standen, die Nächte lang und voller Sterne waren und man im Mondlicht sichtbare Atemwolken zu ihnen hinaufschicken konnte.

»Hella, du bist schon da?« Timon eilte mit so viel Schwung herein, dass die Tür, die sie gegen die Zugluft geschlossen hatte, an die Wand schlug. »Warte, ich helfe dir doch! Ich war nur schnell einkaufen. Wir haben kein Brot mehr, ich will gleich welches backen.«

»Mach langsam, mein Lieber«, sagte Hella milde und blickte amüsiert auf seinen dunklen Scheitel, während er geschickt die Schuhe von ihren geschwollenen Knöcheln löste. »Wir verhungern schon nicht.«

»Aber es wird dann wieder so wunderbar duften im Haus«, sagte Quentin zufrieden. »Was probierst du diesmal aus?«

Timon richtete sich auf und strahlte ihn an. »Kürbisbrot. Das soll besonders saftig sein.«

»Gute Idee. Kürbisse haben wir jedenfalls genug«, meinte Hella.

Timon war ein Glücksfall. Sie wusste längst nicht mehr, was sie ohne ihn machen würden. Er zog ihnen nicht nur die Stützstrümpfe an, er kümmerte sich auch um Quentins Augentropfen und ihr Insulin, putzte Brillen und kochte. Aber sie machte sich Sorgen um den Jungen. Sie wusste nicht, warum er aus einer großen Klinik hierhergeflüchtet war, zu zwei uralten Leuten an einem abgelegenen Zipfel des Landes.

Sie hatte es kaum glauben können, als er auf ihre Annonce hin aufgetaucht war. »Pflegerin/ Pfleger gesucht …« Wochenlang waren kaum Bewerbungen gekommen, jedenfalls keine, die man ernst nehmen konnte. Dabei war es ein gutes Angebot, fand Hella. Kost und Logis an einem beliebten Ferienort, und da sie beide Rücklagen hatten und Pflegegeld bekamen, mit einem durchaus akzeptablen Gehalt. Ein paar Bewerbungsgespräche hatte es gegeben, ja, aber sie hatten durchaus noch ihre Ansprüche, sie und Quentin, trotz ihrer Hilfsbedürftigkeit. Nicht was das Kochen anging, aber den Charakter, den Umgang miteinander und mit der Umgebung auch. Wer vor dem Klingeln an der Tür erst seine Kippe ins Gras warf, der brauchte gar nicht erst hereinzukommen, und wer den Kaugummi im Gespräch nicht aus dem Mund nahm, konnte gleich wieder gehen.

Mit Timon hatte es sofort gepasst. Aber ein warmherziger, aufgeschlossener und intelligenter junger Mann wie er gehörte mitten ins Leben, nicht zu ihnen, nicht hierher. Doch das war seine Sache. Vielleicht benötigte er wie die Bäume im Winter einfach gerade Ruhe und Zeit, um sich zu regenerieren. Das war etwas, was Menschen und Wälder gemeinsam hatten, und es war am besten, sie nicht dabei zu stören. Er würde seinen Weg gehen, in seinem eigenen Tempo, und solange er hier war, genossen sie es.

Wenn Timon eine Antwort auf eine Frage wollte, standen die Chancen gut, dass er sie hier finden würde. Viele Menschen suchten unbewusst im Wald nach Antworten, ohne zu ahnen, was an einem solchen Ort um sie herum im Verborgenen alles geschah und welche Kräfte dort wirkten. Die Frau, die sie heute gesehen hatte, war sicherlich auch eine von ihnen. Hella wünschte ihr, dass der Wind und das Rauschen bald die Verlorenheit von ihrem jungen Gesicht wischen würden.

Timon wirkte nicht verloren, nur manchmal melancholisch. Und trotz seiner Größe und seiner Muskeln verletzlich. Aber er schien sich bei ihnen wohlzufühlen. Geborgenheit hatten sie wohl noch zu geben, da störte ihre Gebrechlichkeit wenig. Quentin war richtig aufgeblüht durch das viele Schachspielen mit Timon, und der freute sich, wie viel er dazugelernt hatte. Er sorgte rührend für sie beide und schien auch noch Freude daran zu haben.

Nur eines konnte der Junge leider nicht für sie tun, jedenfalls nicht allein. Sie hatte sich damit abgefunden.

»Ich habe Heidelbeerkuchen mitgebracht«, verkündete Timon. »Ich mache nur rasch Tee.«

»Mit Zimt und Honig und einem Schuss Rum?«, fragte Quentin hoffnungsvoll. »Wenn es Herbst wird, müssen wir das doch feiern.«

»Es wird Herbst?«, fragte Timon verblüfft. »Es ist doch noch so warm.«

Quentin und Hella tauschten ein Lächeln. »Ja. Aber er liegt schon in der Luft. Die Erde ahnt es, die Bäume sind müde, der Wind träumt davon«, sagte sie. »Die Vögel wissen es, und die Spinnen weben silberne Fäden in die Tage. Man muss im Wald aufgewachsen sein, um die ersten Anzeichen zu spüren. Du wirst sehen. Der Zauber beginnt!«

»Ich bin gespannt«, erklärte Timon und verschwand in der Küche.

Quentin streckte eine Hand nach Hella aus. »Ich bin so dankbar, dass wir das erleben dürfen! Noch einen Herbst. Zusammen. Hier.« Mit überraschender Kraft zog er sie auf seinen Schoß.

»Quentin! Dein Knie«, protestierte sie.

»Na und? Was schmerzt, lebt. Außerdem tut mir in deiner Nähe nichts weh.« Sie lehnte sich an ihn, und so saßen sie, bis Timon mit dem Tablett zurückkehrte.

»Störe ich?«, fragte der etwas verlegen.

Eine solche Zweisamkeit sollte ihm auch vergönnt sein, dachte Hella. Ich bin gespannt, was das Leben und er miteinander vorhaben. Aber da ich nichts daran ändern kann, essen wir erst einmal Heidelbeerkuchen, bis wir es herausfinden.