»Na, wie findest du das?«, fragte Nele das Nashorn am nächsten Vormittag und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu betrachten.
Sie hatte die Tapete dort, wo sie sich gelöst hatte, entfernt. Der Rest schien fest zu sein. Trocken war die Wand auch. Nur die unregelmäßigen, grün-braunen Verfärbungen, die Nele an eine Landschaft erinnerten, waren noch da. Genau genommen an die Landschaft von gestern. Dünen. Gräser. Büsche. Weich, angedeutet, wie auf einem Aquarell.
Aus der Pappe hatte Nele Bäume ausgeschnitten wie für das Theater, nur kleiner, in der Größe an den Raum angepasst. Sie reichten zum Teil bis knapp unter die Decke. Diesmal hatte sie sie nicht angemalt wie sonst, sondern das natürliche Braun der Pappe beibehalten, dafür aber die obere glatte Papierschicht an verschiedenen Stellen entfernt, so dass die darunterliegende Wellpappe erschien. Das wirkte erstaunlich genau wie Rinde. Mit diesem Einfall war sie sehr zufrieden. Ansonsten waren es Bäume, wie sie sie schon öfter hergestellt hatte, vertraute Silhouetten, in denen natürlich kein Wind unterwegs war und die nicht mit irgendwelchen Bewegungen Erinnerungen heraufbeschworen.
Hatte sie jedenfalls gedacht.
Doch nun fiel ihr auf, dass der eine Ast am Ende eine Verzweigung zeigte, die der Geste für »Hallo« ähnlich war. Ein anderer zeigte gerade die zweite Hälfte der Gebärde, die bedeutete: »Hab einen schönen Tag!«
Nele schluckte, ging ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, doch als sie zurückkehrte, fielen ihr dieselben Stellen ins Auge.
Noelie hätte das lustig gefunden.
Hysterisch werden hat noch nie jemandem genützt, hatte Vio oft gesagt, wenn Nele sich als Kind über etwas aufregte und dabei ganz außer Atem geriet. Sie hatten zusammen geübt, wie man sich in so einem Fall zusammennimmt. Am besten etwas Praktisches tun! Etwas erledigen, was ohnehin erledigt werden muss.
Nele lächelte unwillkürlich. Meist war dieses »Praktische« gewesen, einen Schrank aufzuräumen oder etwas ähnlich Lästiges. Der bloße Gedanke an Vio half ihr jetzt. Nele machte ein Bild von der umgestalteten Wand, zog ihre Jacke an und fuhr mit einem mulmigen Gefühl zum Büro der freundlichen Dame der Vermietungsagentur. Im Grunde war das, was sie getan hatte, wohl Sachbeschädigung. Sie musste die Beichte hinter sich bringen. Am besten mit Mut und etwas Dreistigkeit.
»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«, fragte diese.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich die Wand im Wohnzimmer provisorisch verschönert habe. Falls Ihre Handwerker noch weiterverschieben müssen, denke ich, Sie können die Wohnung nun ruhig einem weiteren Gast anbieten, wenn ich abgereist bin. Was meinen Sie?« Nele hielt ihr das Handy mit dem Bild der Bäume vor die Nase. »Ich habe die Pappe nur mit Doppelklebestreifen befestigt, die sich leicht wieder lösen lassen, und auch nur dort, wo sich die Tapete ohnehin abgelöst hatte.«
»Ach! Darf ich?« Die Frau nahm ihr das Handy ab und ging zu ihrer Kollegin. »Schau mal, Simone!«
»Das ist ja ein Ding!«, staunte die. »Hören Sie, Frau Sommer, was halten Sie davon, wenn wir Ihnen dafür den Mietpreis noch ein wenig mehr ermäßigen? Ich finde, das mit den Handwerkern können wir für diese Saison jetzt erst mal lassen. Das werden wir dann im Winter in Angriff nehmen.«
»Oh. Das … danke, das ist nett«, staunte Nele, die befürchtet hatte, eher Entsetzen zu ernten. Sie hatte nicht mit einem solchen Erfolg gerechnet. »Könnte ich dann ein paar Tage länger bleiben?«, platzte es aus ihr heraus.
Woher war diese Frage denn jetzt gekommen?
Vielleicht weil sie sich an das Nashorn gewöhnt hatte?
Nein, gab sie sich selbst gegenüber zu. Es war, weil sie anfing, sich in dieser Wohnung unter dem Himmel, an dem nachts das Licht des Leuchtturms kreiste und wo die Schwalben ihre Nachbarn waren, zu Hause zu fühlen. Weil es hier so still und anders war als in der Stadt. Weil mit ihrer neuen Frisur irgendetwas begonnen hatte, sich auch in ihrem Inneren zu verändern.
Nein, natürlich war es nicht die Frisur gewesen, sondern der Besuch des Geschichtengartens, der etwas in ihr geöffnet hatte.
All diese Geschichten von all diesen Menschen. Dann vor allem Vios Geschichte …
Was wohl ihre eigene Geschichte war? Mit Noelies Tod hatte Nele aufgehört, sich zuzuhören. Die Trauer hatte sie irgendwann zurückgelassen, aber sich selbst dabei vergessen. Jedenfalls einen wichtigen Teil. Sie hatte sich nie wieder ganz gefühlt. Kam daher die graue, nebelige Melancholie, die sie immer wieder einholte? Das musste sie ändern. Sie wollte leben, richtig leben! So wie früher. So wie es mit Noelie gewesen war, als sie so jung waren, auf der Suche nach allen sichtbaren und unsichtbaren Wundern und Abenteuern. Das musste auch allein gehen.
Nele wollte noch bleiben, weil die Bäume zu ihr sprachen. Jetzt auf einmal, nach all den Jahren.
Sie wollte herausfinden, was sie ihr zu sagen hatten.
Ihr Großvater hatte hier Frieden gefunden. Und Vio war ein Leben lang allein zurechtgekommen. Sie hatte nicht einmal besonders enge Freunde gehabt. Wenn jemand ganz in sich ruhte, dann war das ihre Großmutter. Sie hatte es vorgemacht. Warum sollte Nele das nicht auch gelingen?
Sie wanderte hinaus auf den Steg am Koppelstrom und ließ sich die Luft um die Ohren wehen. Es war ein milder, trockener Tag. Ein Boot lag verlassen im Schilfgürtel, und Nele dachte daran, wie sie in Remys Boot gerudert war, wie schön das Fest und wie wohltuend Marions Freundlichkeit gewesen waren. Sie vermisste diese Menschen, denen sie nur so kurz begegnet war. Ja, sie hatte wirklich zu wenige Freunde.
In der Ferne entdeckte sie einen Angler. Doch der war so in sich versunken, dass sie es nicht über sich brachte, ihn zu stören. Stattdessen beobachtete sie die Kormorane und die Fische, die gelegentlich silbern aus der Tiefe sprangen und wieder darin verschwanden.
Teddy war ein Schatz, aber doch eher Chefin und Lehrerin als Freundin. Und selbst ihre Mitbewohnerinnen in der WG waren immer nur das gewesen – Mitbewohnerinnen.
Ich habe sie alle mit Noelie verglichen, ging ihr auf. Dieses stille Verstehen, dieses Einssein in allem, das habe ich seitdem wie selbstverständlich von einer Freundschaft erwartet. Das ist zu viel. Das kann gar nicht funktionieren, und muss auch nicht. So geht das nicht weiter.
Der Angler in der Ferne warf seinen Köder aus. Nele sah, wie die dünne Leine mit elegantem Schwung in das Flimmern über dem Wasser flog und in das silberne Glitzern eintauchte.
Die Bäume haben mit ihren Ästen die Gedanken an Noelie aus den Tiefen der Vergangenheit gezogen wie dieser Angler die Fische, dachte sie. Sie wird ebenso wenig wieder darin verschwinden wie der Fisch, den er vorhin in den Eimer geworfen hat. Damit muss ich jetzt umgehen. Noelie ist der Anfang meiner eigenen Geschichte. Aber was kommt nun?
Nele warf gelbe Blätter vom Steg ins Wasser, sah zu, wie sie langsam davontrieben, und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Sie dachte an die Wand in der Ferienwohnung. Die Damen im Büro hatten sich wider Erwarten gefreut, aber sie selbst war auf einmal unzufrieden. Seit sie die Bäume gesehen hatte, die sich im Wind zu unterhalten schienen, hatte sie Zweifel, ob sie deren Charakter mit ihren Kulissen jemals gerecht geworden war. Bäume waren gar keine statischen Objekte. Sie waren ja lebendig, so wie Vio es immer schon behauptet hatte! Nele hatte es nur bisher nicht begriffen. Jetzt erschienen ihr ihre Darstellungen steif und leblos. Sie würde die Umrisse noch einmal ändern. Es brauchte viel mehr Kurven, und manchmal verschränkten sich die Zweige der Bäume ineinander.
Ein Schatten fiel auf sie. Sie fuhr zusammen und blickte hoch.
Es war der Angler. »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte er. »Sie haben vorhin so lange zu mir herübergeblickt. Wollten Sie etwas? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Nele zögerte. Er klang so freundlich. »Sind Sie von hier?«
»Darf ich?« Er setzte sich neben sie und lehnte seine Angel an das Geländer. Die alte Bank wackelte ein wenig, aber sie hielt. »Ja, ich lebe schon lange hier. Ich bin Jakob. Jakob Hellmond. Und Sie? Sind Sie ein Feriengast?«
»Ja. Ich heiße Nele.« Sie überlegte, wie sie ihre Frage hatte formulieren wollen.
»Sie erinnerten mich vorhin an meine Tochter, wie sie da so saßen«, sagte er etwas wehmütig. »Anna-Lisa. Sie ist auch so blond wie Sie. Sie lebt momentan nicht hier.«
»Ich weiß selbst nicht genau, was ich will«, entfuhr es Nele. »Aber wissen Sie vielleicht jemanden, der … der sich mit Bäumen auskennt? Der mir den Wald zeigen kann? Muss ich da jemanden vom Nationalpark fragen? Aber so offiziell wollte ich das gar nicht machen. Es ist mehr so … so …«
»Privat?«, schlug er vor.
»Ja, so könnte man es sagen. Ich suche auch Informationen über einen Joram Grafunder. Nicht so sehr über den Künstler, der er wohl gewesen ist, sondern über den Menschen.«
Er nickte und dachte nach. »Ich denke, wegen der Bäume, da weiß ich jemanden.« Er zog einen Notizblock aus einer Westentasche, schrieb etwas darauf und reichte ihn ihr mit einem Lächeln. »Meine Tochter kann nicht verstehen, dass ich nicht mit einem Handy zurechtkomme, aber ich schreibe Dinge immer noch am liebsten auf Papier. Wenn ich hier draußen einen guten Gedanken habe, gibt es sowieso kein Netz.«
»Hella«, las Nele, und eine Adresse. »Wer ist das?«
»Hella hat ihre Kindheit hier auf dem Darß verbracht. Viel später ist sie dann hierher zurückgekehrt und hat als Naturpädagogin gearbeitet. Führungen und so. Sie ist genau die Richtige, wenn es um Bäume und den Wald geht. Und was die andere Sache angeht … das ist privat, sagen Sie?«
»Joram Grafunder?« Nele nickte. »Ja, das ist eher was Persönliches.«
»Da fragen Sie doch auch einfach Hella. Sie wird Ihnen sicher weiterhelfen können.«
»Vielen Dank, Herr Hellmond.« Nele steckte den Zettel ein. Nun war sie etwas weitergekommen. Zumindest fühlte sie sich nicht mehr so ratlos, sondern kannte den nächsten Schritt.
»Sag ruhig Jakob. Wir sind hier nicht so förmlich. Sicher laufen wir uns wieder einmal über den Weg. Viel Glück bei deinem Vorhaben!«
Jakob hob die Hand zum Gruß, zog seine Schirmmütze in die Stirn, nahm seinen Eimer und die Angelrute und schritt gemächlich davon.
Ich mag es, wie hier alle Zeit haben, dachte Nele und sah ihm nach. Seine Gesellschaft hatte ihr gutgetan, fast wünschte sie sich, er wäre noch geblieben. Wo seine Tochter wohl lebte und ob Joram Grafunder einst auch so nett gewesen war?
Für heute war es jedenfalls zu spät, um die unbekannte Hella aufzusuchen. Auch bemerkte sie, dass Jakob weder einen Nachnamen noch eine Telefonnummer aufgeschrieben hatte. Nur eine Adresse. Sie würde also unangekündigt hingehen müssen. Dann erschien sie wohl am besten mit einem Blumenstrauß. Oder?
Nele verschob das Problem auf den nächsten Tag und beschloss, zum Strand zu fahren und den Sonnenuntergang anzusehen. Das gehörte doch sicher dazu, wenn man am Meer war? Vio hatte das jedenfalls behauptet, als Nele morgens mit ihr telefoniert hatte. »Das musst du unbedingt machen! Genieße es für mich mit«, hatte Vio gebeten.
Am Himmel waren vielversprechende Wölkchen unterwegs, die bereits jetzt einen leicht rosagoldenen Schimmer zeigten. Das gab sicher ein paar schöne Fotos, die sie Vio schicken konnte.
Doch als sie wenig später mit einer warmen Jacke und Mückenspray bewaffnet einem Pfad über die Dünen folgte und das Meer sah, vergaß sie beinahe, Bilder zu machen. Der Wind war frisch und blies vom Wasser herbstliche Aromen her, zerrte an Neles Schal und hatte die meisten Menschen vertrieben. Nur noch Einzelne liefen am Flutsaum entlang oder kauerten im Schutz eines Strandkorbs. Über dem Meer lag das, was wohl der sprichwörtliche Silberstreif am Horizont war, den Nele sich nie hatte vorstellen können. Auf einmal war ihr, als ob dieser hier und heute gerade ihr galt, als ob das Meer ebenso freundlich zu ihr war wie vorhin Jakob Hellmond. Das weiche Licht legte einen unwirklichen Zauber über Wellen, Strand und Dünen, der ihr zu ihrer Überraschung Tränen in die Augen trieb. Die Sonne sank schnell und ließ den weißen Schaum der Brandung erst golden, dann in Regenbogenfarben und schließlich glühend orange aufleuchten.
Nele war immer weitergelaufen. Sie hatte vergessen, die Schuhe auszuziehen, und gar nicht gemerkt, wie sie nass wurden. Ihr war, als würde sie ganz leicht und könnte direkt in dieses Licht hineinlaufen, wenn sie nur nicht stehen blieb.
Jetzt erst fielen ihr die Bilder für Vio ein. Sie kniete sich hin, um das Glitzern einzufangen, und dann das Rauschen von Wind und Wellen und Weite in einem Video. Immer wieder drückte sie ab, ganz versunken in diese unglaubliche Kulisse, die sich hier entfaltete, grandioser als in allen Theatern, die sie je besucht hatte. Die Wolkenbänke, teils grau, teils silberweiß, teils feurig, und die Gardinen aus wechselndem Licht, die hier vom Wind getrieben durch die Szene wehten, rollten und fegten, gestalteten eine Wucht gelungener Dramatik, wie sie es noch nie erlebt hatte.
Ihr eigenes Können kam ihr auf einmal klein und unzulänglich vor, doch das bedrückte sie nicht. Es erfüllte sie mit Aufregung, mit Aufbruchsstimmung, sie ahnte, dass sie bequem geworden war, dass sie mehr konnte, sich weiterentwickeln würde. Dass es höchste Zeit gewesen war für einen Anstoß wie diesen.
Auf dem Weg zurück zum Auto musste sie durch einen Streifen Wald, der jetzt in der Dämmerung voller tiefer Schatten, knackender und stöhnender Geräusche und lauernder Dunkelheit war. Sie wusste zwar, dass das Stöhnen nur von Bäumen kam, die sich im Wind aneinander rieben, und dennoch verflog ihre rauschähnliche Stimmung. Sie fühlte sich allein und war zutiefst erleichtert, als sie den Parkplatz erreichte.
Der Darßwald, eben noch Kulisse einer beglückenden Aufführung, konnte auch unheimlich sein.