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Nele stellte fest, dass sie zwar gut mit Kindern und Theatermenschen umgehen konnte, aber bei ganz normalen gesellschaftlichen Gepflogenheiten war sie aus der Übung. War eine Schachtel Konfekt nicht besser als ein Strauß Blumen, wenn man ein größeres Anliegen hatte? Andererseits war diese Hella ja schon alt. Was, wenn sie Diabetes hatte? Am Ende entschied sie sich für eine Aster im Topf. Da hatte die alte Dame lange etwas davon.

So bewaffnet, machte sie sich am nächsten Nachmittag auf zu der Adresse, die auf Jakobs Zettel stand und zu ihrer Freude gar nicht weit entfernt war. Das Haus befand sich ebenfalls in Born, nahe am Waldrand.

Auch diese Haustür war kunstvoll verziert, mit Kranichen und Fischen. Nele brauchte nicht zu klingeln. Eine Frau mit schneeweißen Haaren, die im Nacken von einer kunstvoll geschnitzten hölzernen Spange zusammengehalten wurden, stand im Vorgarten unter einer Pappel und blickte zum Wipfel hinauf. Sie stützte sich auf einen Stock. Ehe Nele etwas sagen konnte, wandte sie sich um, als hätte sie ihre Gegenwart gespürt. Sie kam nicht ans Tor, stand nur still, wartete und sah Nele aus dunklen Augen an, die ein erstaunlicher Kontrast zu den Haaren waren.

Es war die Frau, die sie im Wald gesehen und von der sie sich beobachtet gefühlt hatte. Das war ein wenig unheimlich gewesen, aber Nele wusste nicht, warum. Jetzt wirkte sie jedenfalls nicht unheimlich. Nur abwartend.

Nele wagte sich ans Tor. »Hallo!«, sagte sie vorsichtig. »Entschuldigen Sie die Störung. Ich habe Ihre Adresse von Jakob Hellmond erhalten. Ich heiße Nele Sommer und bin auf der Suche nach Informationen. Darum hat Jakob mich hierhergeschickt. Zu einer Hella. Leider hat er vergessen, mir den Nachnamen zu nennen. Und … ich hatte auch keine Telefonnummer, um mich anzumelden.«

»Wie kommen Sie darauf, dass Sie stören?«, fragte die Frau, ohne näherzukommen. Ihre Stimme war leise, aber so deutlich, als stünde sie direkt neben Nele. Als hätte der Wind ihre Worte geradewegs zu ihr herübergetrieben. »Immer benutzen die Menschen diese Floskeln! Bäume machen das nicht. Die verständigen sich still. Durch Duftstoffe. Und unterirdische Pilze. Die brauchen keine Worte.« Sie sagte es sachlich, keineswegs unfreundlich. Nele lief ein Schauer über den Rücken.

Stille Verständigung. Wie mit Noelie. Wie konnte diese Fremde so nahe an ihren Gedanken sein?

»Ich …« Sie wusste nicht, was sie jetzt noch sagen sollte.

»Hat Ihnen der Baum geholfen?«, fragte die Frau.

»Welcher Baum?«, fragte Nele, noch mehr aus dem Konzept gebracht.

»Der, an dem Sie sich festhielten, als ich Sie gesehen habe.«

»Irgendwie, ja«, sagte Nele. In diesem seltsamen Gespräch half wohl nur die Wahrheit. »Aber sie haben mich auch durcheinandergebracht, diese Bäume. Sind Sie Hella?«

»Ja.« Nun kam die Frau näher und öffnete schweigend das Tor. Nele sah, dass ihre Augen doch nicht so dunkel waren. Es schimmerten alle Brauntöne darin, von Honig bis Moorbraun, genau dieselben Farben wie in der Rinde der Kiefern.

Das war es unter anderem, was ihren Pappsilhouetten fehlte, dachte Nele. Das Muster und die Farben der Rinden! Die waren so vielfältig. Die Bäume hatten Gesichter, und die hatte sie immer weggelassen.

Hellas Augen waren weise, ohne etwas zu verraten, überraschend jung in ihrem Netz aus Falten, und schienen in Neles Innerstes zu blicken, ohne aufdringlich zu sein. Neles Unbehagen verflog restlos und machte Neugier Platz. Wer war diese Frau?

»Komm herein«, sagte Hella.

»Diese Aster ist für Sie«, sagte Nele.

»Sag doch bitte Hella. Wir sind hier nicht so förmlich. Das ist nur Zeitverschwendung.«

»Danke. Der Topf ist ein wenig schwer, möchten Sie … möchtest du mir sagen, wo ich ihn hinstellen darf?«

Hella betrachtete die Blütenfülle mit einer Mischung aus Wohlwollen und Verachtung. »Hormone!«, sagte sie.

»Wie bitte?«

»Hormone. Diese Pflanzen werden mit Hormonen vollgepumpt, damit sie vor der Zeit blühen, und das viel zu stark. Warum lässt man ihnen nicht ihre eigene Zeit und Weise? Stell den Topf dorthin, neben die Tür! Da wird es ihm gut gehen.«

»Ich wollte nicht …«

Hella winkte ab. »Das war keine Kritik an dir. Es ist nett, dass du mir Blumen bringst. Die meisten Besucher sind der irrigen Meinung, wer einen Garten hat, bräuchte keine mehr. Als ob man sich nicht gerade deswegen darüber freuen würde! Und von den Hormonen erholen sich die Astern. Sie brauchen nur Zeit und Ruhe, dann werden sie wieder sie selbst. Wie die Menschen meistens auch. Deswegen bist du ja hier.«

»Bin ich das?«, fragte Nele erstaunt.

»Komm mit«, sagte Hella, »und bring den Zweig mit, der von der Aster abgebrochen ist.«

Nele hatte das gar nicht bemerkt. Vorsichtig hob sie die tiefrote Blütendolde auf und folgte Hella um das Haus. Dort stand eine Kiefer. An ihrem Fuß lagen Muscheln, Steine, Hölzer und anderes.

»Leg die Blüte dazu«, sagte Hella. »Dieser Baum ist der beschützende Geist unseres Hauses. Er sollte dich kennenlernen.«

Zögernd legte Nele ihre Aster zu einer weißen Muschel.

»Die Kiefer steht für Langlebigkeit, Unsterblichkeit und Ausdauer«, erklärte Hella. »Das wussten schon die alten Germanen, und die Chinesen auch. Ihr Wesen hilft außerdem dabei, Unbeweglichkeit und Starrheit zu überwinden. Sie ist gut für Verständigung und Geselligkeit, und auch für Gelassenheit.«

Nun wurde Nele doch wieder etwas unheimlich zumute. Woher wusste Hella so viel über ihre Probleme? Dass Nele innerlich unbeweglich geworden war, sich festgefahren hatte. Dass ihr Verständigung anscheinend nicht einmal mit sich selbst richtig gelang und Geselligkeit schwierig geworden war.

Hella strich mit der flachen Hand zärtlich über den Stamm. Ein Stück Rinde löste sich. Hella fing es mit der anderen Hand auf und reichte es Nele. »Trag es bei dir.«

»Danke.« Nele steckte es verlegen in die Brusttasche ihres Poloshirts. Der Duft stieg ihr in die Nase. Unwillkürlich atmete sie tief ein. Er tat gut, war lebendig, holzig, harzig, sprach von Leben und von Schritten auf weichem Boden. Daran konnte sie sich aus den frühen Spaziergängen mit Vio und Noelie erinnern, wie der Boden unter ihren Kinderfüßen im Wald gefedert hatte, was für ein Abenteuer es gewesen war. Alles war ein Abenteuer, damals.

Genau dieses Gefühl wollte sie wiederhaben! Auf einmal verspürte sie eine unbändige Sehnsucht, die ihr die Tränen in die Augen trieb.

Hella betrachtete sie zufrieden. »Gut so«, sagte sie. »Fühl es! Komm, magst du Heidelbeerkuchen?«

»Ich glaube schon.« Nele gab es auf, Hellas Gedankengänge nachzuvollziehen, und folgte ihr.

Das Haus war weitläufig und hatte eine Fassade aus Holz, dunkelrot gestrichene breite Bretter, die sich mit schmalen, weißen abwechselten. Am Giebel gab es fein geschnitzte weiße Dekorationen, die wie aus Spitze wirkten. Die Fensterläden waren dunkelgrün gestrichen. Alles schien ein wenig verwittert, das Dach ausladend und reetgedeckt. Auf dem Reet wuchs Moos. Der Gesamteindruck sprach von bewährter und beständiger Gemütlichkeit.

Auf der Rückseite gab es eine großzügige Terrasse, zu der drei Stufen hinaufführten. Neben der Hintertür in einem Schaukelstuhl saß ein alter Mann, eine Decke über den Knien.

»Quentin, wir haben Besuch«, sagte Hella. Sie stützte sich auf ihren Stock und das Geländer, um etwas mühsam die Stufen zu erklimmen. »Das ist Nele. Nele, das ist meine letzte große Liebe, Quentin.« Sie sagte es ohne eine Spur von Verlegenheit oder Koketterie.

So möchte ich auch einmal werden, dachte Nele. Einfach sagen, was ich denke, egal, wie es wirkt. Sie ist ein bisschen wie Vio, völlig direkt. Wie viele Lieben mag sie in ihrem Leben gehabt haben?

»Hallo, Nele«, sagte Quentin. »Wie schön, dass sich wieder einmal jemand hierherverirrt hat.«

»Sie hat sich nicht verirrt. Sie hat gefunden. Timon?« Hella klopfte an ein Fenster, das sich kurz darauf öffnete. »Timon, gibt es noch Kuchen? Es ist Besuch gekommen.«

Ein dunkler Wuschelkopf erschien, darunter große graue Augen. »Klar, jede Menge. Hallo!«

»Das ist Nele«, wiederholte Hella. »Bringst du uns bitte was heraus?«

»Hallo«, sagte Nele. »Ich wollte wirklich keine Umstände machen.«

»Schon wieder so eine Floskel. Magst du Kuchen oder nicht?«

»Doch, gern.«

»Wir auch, also wo ist das Problem? Setz dich.« Hella zeigte mit ihrem Stock auf einen Tisch, um den vier Stühle standen.

»Vielleicht kann ich helfen?«, fragte Nele.

»Kannst du. Hier!« Timons Kopf erschien wieder am Fenster. Er reichte ihr ein Tablett hinaus. »Du könntest den Tisch decken. Ich muss Quentin helfen, er wartet nie auf mich.« Er kletterte kurzerhand zum Fenster hinaus und beeilte sich, Quentin zu stützen, der tatsächlich etwas wackelig aufgestanden war und beinahe ins Stolpern geriet.

»Ich sehe nicht mehr so gut«, sagte der alte Herr zu Nele. »Aber hören kann ich bestens. Sie haben eine liebe Stimme.«

»Bring sie nicht noch mehr in Verlegenheit, Schatz«, sagte Hella. »Sie hält uns sowieso für merkwürdig. Warum dieses nachdenkliche Lächeln, Nele?«

»Du hast mich an meine Großmutter erinnert. Merk-würdig ist gut, sagt Vio immer«, erklärte sie. »Sie meint, was wir uns nicht merken, ist sowieso nicht würdig genug, um Zeit damit zu verschwenden.«

Quentin nickte anerkennend. »Eine schlaue Frau, deine Großmutter.«

Hella fixierte Nele mit einem scharfen Blick. »Wie, sagtest du, heißt deine Großmutter?«

»Vio.«

»Wovon ist das eine Abkürzung?«, bohrte Hella nach und schien vergessen zu haben, sich zu setzen.

»Violaine«, sagte Nele verwundert. »Sie heißt Violaine Küfer.«

»Aha.« Jetzt setzte sich Hella doch, ein wenig zu plötzlich. Timon, der inzwischen Quentin auf seinen Platz bugsiert hatte, griff rasch zu, damit der Stuhl nicht kippte.

»Was für Informationen suchst du hier, Nele?«, fragte Hella.

»Trinkst du Tee oder Kaffee?«, erkundigte sich Timon gleichzeitig.

»Gerne Tee.« Das war sicher besser für ihre Nerven. Timon lächelte Nele beruhigend zu, als er mit dem leeren Tablett ins Haus ging. Sie war dankbar dafür und versuchte, sich zu erinnern, was sie Hella hatte fragen wollen.

Hella schob ihren Teller hin und her. Die Ruhe, die sie ausgestrahlt hatte, schien verflogen zu sein. »Was suchst du hier, Nele?«