13

»Es ist kompliziert«, sagte Nele.

Wie sollte sie Hella erklären, warum sie etwas über den Wald erfahren wollte – und vor allem, was? Wenn sie sich nur ohne Worte mitteilen könnte, wie es laut Hella die Bäume taten! Der Duft der Kiefernrinde in ihrer Tasche stieg ihr in die Nase und machte ihr Mut. Hatte Hella nicht auch gesagt, Kiefern förderten die Verständigung?

»Das Wenigste ist kompliziert«, sagte Hella, »wenn man es nicht dazu macht. Wie wäre es, wenn du am Anfang beginnst?«

»Wenn es eine Geschichte gibt, möchte ich erst Heidelbeerkuchen«, sagte Quentin.

»Bin schon da.« Timon kam mit Tee und Kuchen und gab jedem ein Stück auf den Teller. Dann setzte er sich dazu.

»Es fing zufällig auch mit einer Kiefer an«, begann Nele entschlossen.

»So was ist kein Zufall«, sagte Hella.

»Wie bitte?«

»Ach, nichts. Sprich weiter.«

Es störte Nele, dass Timon mit am Tisch saß. Hella und Quentin von sich zu erzählen war eine Sache. Sie waren wie Vio – alt, lebenserfahren, freundlich gesinnt. Aber dieser Mann mit den kurzen dunklen Locken und lichtvollen grauen Augen, der ungefähr in ihrem Alter sein musste, war etwas anderes.

Nele holte tief Luft. »Also, meine Großmutter wünschte sich, dass …«

Und weil sie alle, während sie ihren Kuchen verspeisten, so aufmerksam zuhörten, fiel ihr das Reden immer leichter. Sie berichtete nicht nur vom Geschichtengarten und dem, was Vio auf das Schild geschrieben hatte. Sondern auch vom Theater und ihren Kulissen, davon, wie sie in der Ferienwohnung die Wand gestaltet hatte und plötzlich nicht mehr zufrieden mit ihren Werken war, und zu ihrer eigenen Überraschung sogar von Noelie und wie die Bäume Nele an sie erinnert hatten.

Vielleicht lag es tatsächlich an der Wirkung der Kiefernrinde, oder am Ausdruck in Hellas Augen. Da waren Verständnis, Mitgefühl, Wehmut und etwas, das Nele nicht deuten konnte. Auch Quentin nickte immer wieder und beugte sich vor, wie um sie besser zu verstehen. Selbst Timon lauschte interessiert und schenkte nur ab und zu Tee nach.

Nele hatte sich Fremden gegenüber noch nie so geöffnet und fragte sich, was mit ihr los war. Sie wusste nur, dass es guttat. Nachdem sie alles ausgesprochen hatte, erschien es ihr nicht mehr so verwirrend.

»Und darum bin ich jetzt hier«, endete sie. »Ich möchte diesen Wald kennenlernen, in dem meine Großeltern sich verliebt haben, und ich möchte die Bäume verstehen und das, was sie sind und was sie mir sagen wollen. Ich glaube, das würde mir helfen. Ich kann es schlecht erklären, ich weiß nur, dass mich etwas dazu drängt. Als ich die Bäume vor dem Himmel sah, da war es, als ob sich etwas geöffnet hätte. Ich möchte wieder so lebendig sein wie damals, in der Zeit mit Noelie. Als die Welt so ein Abenteuer war.« Sie schluckte, sah verlegen auf ihren leeren Teller, dann von einem zum anderen. Hella nickte nachdenklich. Quentin wirkte bewegt und zufrieden zugleich. Timons Blick konnte sie nicht deuten.

»Deine Wand mit den Bäumen aus Pappe würde ich gern mal sehen«, sagte er in die Stille hinein. »In der Scheune stehen noch Farbreste. Vielleicht kann ich dir helfen. Oder wir könnten die Pappe mit echter Rinde aufpeppen.«

»Danke«, sagte Nele erstaunt. »Vielleicht werde ich die Formen ganz neu gestalten.«

»Deine Großmutter«, sagte Hella. »Macht sie noch selbst Musik?«

»Ihre Hände machen nicht mehr mit. Sie hat Gitarre gespielt und Akkordeon und Klavier. Ich kann leider nur Gitarre. Das mit dem Klavier lag mir nicht so.«

»Dann bist du auch musikalisch?« Hella fixierte sie mit einem durchdringenden Blick. Es klang fast wie eine Bitte. Quentin legte seine Hand auf ihre.

»Ja, schon. Ich denke mir manchmal Melodien aus, wir können das im Theater nutzen, und die Kinder mögen sie.«

»Würdest du mal für uns spielen? Ich höre so gern Musik, vor allem seit ich so schlecht sehen kann«, bat Quentin.

»Sehr gern, aber ich habe die Gitarre heute nicht dabei.«

»Dann kommst du eben wieder«, sagte Hella. »Du kommst doch wieder?«

»Natürlich, gern.«

»Ich kann dir etwas zu den Bäumen sagen. Aber ich kann nicht weit mit dir in den Wald gehen«, erklärte Hella bedauernd. »Nicht mehr. Man muss wandern oder besser Fahrrad fahren. Timon kann das übernehmen.«

»Klar, mach ich«, sagte Timon.

»Wir beide haben uns auch in diesem Wald verliebt, Hella und ich«, sagte Quentin. »Wie deine Großeltern.«

»Vielleicht solltet ihr das auch mal aufschreiben«, meinte Timon. »Das würde gut in diesen Geschichtengarten passen.«

»Ach, nein, es ist allzu persönlich.« Hella klang nicht begeistert.

»Meinetwegen? Weil du mich damals in Tränen aufgelöst vorgefunden hast? Doch, ich fände das schön!«, sagte Quentin bestimmt. »Davon können die Menschen ruhig lesen. Es gibt weiß Gott genug Grund zum Heulen, wenn man sieht, wie mit manchen Bäumen umgegangen wird! Ich habe mich schuldig gemacht. Zumindest fühlte es sich so an.«

»Du hast es wiedergutgemacht«, sagte Hella mit Leidenschaft.

Nele hätte zu gern gewusst, worum es ging, doch sie traute sich nicht nachzuhaken. Aber Timon lachte ein wenig und zeigte mit dem Finger auf sie. »Nele ist ein einziges Fragezeichen. Nach all den Andeutungen müsst ihr sie jetzt aufklären, das ist nur fair, nach allem, was sie selbst erzählt hat. Noch ein Stück Kuchen, Nele?«

»Ja. Er ist sehr lecker.« Sie fühlte sich jetzt leichter. Die Heidelbeeren schmeckten nach Erde, Herbst und Geheimnissen, dunkel wie ihre Farbe.

»Ich war früher mal Harzer«, sagte Quentin. »Weißt du, was das ist?«

»Äh … ich kenne nur Harzer Käse«, sagte Nele verlegen. »Und den Harz, natürlich.«

Quentin lehnte sich zurück. »Harzer waren die Arbeiter, die Baumharz aus den Kiefern zapften. Es war eine schwere Arbeit, und eine einsame. Nicht viele wollten es machen. Mir kam es entgegen, dachte ich. Ich war gern allein und am liebsten an der frischen Luft. Man verdiente auch ganz gut und konnte sich die Zeit frei einteilen. Das war noch in der DDR . Sie legten viel Wert auf die Harzproduktion, weil es Devisen einbrachte. Die Harzgewinnung wurde bereits im Mittelalter betrieben und auch in den Weltkriegen, als der Import schwierig wurde.«

»Wozu brauchte man das Harz?«, fragte Nele.

»Es war wichtig für die Industrie. Man stellte Terpentin daraus her, Farben und Lacke, dichtete Schiffe und Gefäße ab, es war in den Klebstoffen für Heftpflaster und in Kaugummi enthalten, und man behandelte die Bögen von Streichinstrumenten damit. Es gab unzählige Verwendungsmöglichkeiten.«

»Und was tut ein Harzer genau? Wird das immer noch gemacht?«

»Nein, das wurde 1990 eingestellt, und ich bin sehr froh darüber. Als ich damals anfing, dachte ich mir nichts dabei. Aber meine Arbeit bedeutete für viele Bäume einen langsamen Tod. Nach und nach begann ich, das zu spüren. Wenn du Tag für Tag im Wald verbringst, die Bäume berührst, ihnen lauschst, sie riechst, mit ihnen durch die Jahreszeiten gehst, sie wachsen und stürzen siehst, dich an ihren Farben berauschst, über ihre Wurzeln stolperst, unter ihnen Rast machst – dann wird dir bewusst, dass es Lebewesen sind. Du bekommst Respekt vor ihnen. Du freundest dich mit ihnen an. Am Ende schmerzte mich meine Tätigkeit mehr als sie, glaube ich.« Quentin fuhr sich über die Stirn. Hella berührte tröstend seine Schulter.

»Du musst das nicht erzählen«, sagte Nele hastig.

»Doch, schon gut.« Quentin richtete sich auf. »Ein Harzer begann im Winter bei Minustemperaturen mit den Vorbereitungen. Mit einem Bügelschaber entfernte er an großen Stellen am Stamm die Borke. Diese Stellen nannte man die ›Lachte‹. Dann später im April wurde in der Mitte der Lachte eine senkrechte Tropfrinne geschnitten, darunter kam ein Topf, in den das austretende Harz fließen konnte. Das wurde dann in Eimer und Fässer umgefüllt. In jeder der Wochen danach wurde mit dem Harzhobel rechts und links ein weiterer sogenannter Riss angebracht, der schräg nach unten verlief. So entsteht ein Fischgrätmuster. Ein Harzer hatte über dreitausend Bäume zu reißen, da kannst du dir denken, wie viel ich im Wald unterwegs war.« Quentin streckte mühsam ein Bein aus. »Wahrscheinlich geht es bei mir jetzt auch darum nicht mehr so gut mit dem Laufen. Es gab Jahre, da erntete ich neun Tonnen Rohharz. Aber es wurde mir immer mehr zuwider. Die Bäume bluteten langsam aus, und ich hatte ihre Wunden verursacht. Ich! Jeden Tag! Die Sonne ließ das Harz leuchten, wenn es herunterlief. Es duftete. Die Bäume waren schön, während ich sie verletzte. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich schob eine Hautallergie vor, die hatten viele von uns durch den Kontakt mit dem Harz. So wurde ich versetzt, als Gehilfe in ein Forstbüro in Brandenburg.« Quentin griff nach Hellas Hand. »Aber ich wurde das nicht los. Ich träumte nachts davon. Immer wieder. Egal wo ich unterwegs war, immer war mir, als sähen mich alle Bäume traurig an. Als ich einige Jahre nach der Wende hörte, dass die Produktion eingestellt worden war, da musste ich unbedingt wieder auf den Darß. Es mag für manchen merkwürdig klingen, aber ich wollte die Bäume, die ich damals verletzt hatte, um Verzeihung bitten, wenigstens die, die davon noch lebten. Viele waren das ja nicht.«

Nele kam zu dem Schluss, dass sie Quentin sehr mochte. Er war sensibel und stand zu seinen Gefühlen. Kein Wunder, dass Hella sich in ihn verliebt hatte. »Und wie habt ihr euch dann kennengelernt?«

Hella räusperte sich und legte ihre Hand auf Quentins. »Ich war im Wald unterwegs. Da war ich noch besser zu Fuß und gerade dabei, eine Führung für eine Schulklasse vorzubereiten. Und da stand Quentin unter einer Kiefer und weinte. Ich dachte, er bräuchte vielleicht Hilfe.«

»Sie stellte sich zu mir und fragte nichts. Sie war einfach nur da. Das war so angenehm«, ergänzte Quentin. »Als ich mich ausgeheult hatte, gab sie mir ein Taschentuch und fragte mich, ob ich mich setzen wollte. Am Ende saßen wir stundenlang auf einem Baumstamm zwischen den Farnen, und ich berichtete ihr alles, und wie es mich berührt hatte, dass doch noch viele Bäume lebten, die ich kannte. Dass ihre tiefen Narben noch so deutlich zu sehen waren und sie trotzdem aufrecht standen. Und dass ich das deutliche Gefühl hatte, dass sie mir verziehen, als ich meine Hände auf diese Narben legte. Dass ich nur eine Episode war in ihrem Leben, so wie bei uns eine Krankheit oder ein Verlust. Sie haben trotzdem den wohltuenden Regen gespürt, das Licht gesehen, die Vögel wahrgenommen, die Erde an den Wurzeln, jeden Tag aufs Neue. Sie sind trotzdem geblieben und geworden, was sie sind. Seitdem geht es auch mir besser.«

Timon war aufgestanden, um etwas aus der Küche zu holen. Jetzt legte er Quentin einen Moment die Hand auf die Schulter.

»Seitdem wusste ich, dass Quentin in mein Leben gehört«, sagte Hella einfach. »Er blieb auf dem Darß und half mir mit den Führungen und im Garten. Er lehrte mit mir die Kinder, die Bäume als Lebewesen zu sehen, und er legte mit Hand an bei Pflegemaßnahmen im Forst. Ein Jahr später zog er zu mir.« Die beiden lächelten sich zärtlich an, und Nele hatte einen Kloß im Hals. Sie hatte Vio immer bewundert für ihre Unabhängigkeit und hatte sich das zum Vorbild nehmen wollen. Aber war sie selbst vielleicht doch anders?

Das, was sie zwischen Quentin und Hella spürte, erfüllte sie mit einer unerwarteten Sehnsucht.

Sie hatte so viel in sich verdrängt, seit Noelie nicht mehr da war. Hatte sich eine enge Welt aus künstlichen Kulissen gebaut und dahinter verschanzt, um nichts fühlen zu müssen, was außerhalb ihrer Kontrolle lag. All ihre Kraft und ihr Ehrgeiz waren da hineingeflossen, bis sie nur noch funktionierte.

Das wollte sie nicht mehr! Nele wollte wieder fühlen. Sie wollte wieder lieben können. Die freie Natur, die Menschen, sich selbst. Seit jenem merkwürdigen, unerwarteten, erhellenden Augenblick der Erkenntnis zwischen Meer und Wald, als die Bäume mit ihren Gesten zu ihr gesprochen hatten wie einst ihre Freundin, wusste sie das. Sie wollte wieder weinen können wie Quentin, lachen wie Timon, tanzen wie die Gäste auf Remys Fest.

»Die Menschen beginnen gerade erst zu verstehen, was für Kräfte in einem Wald liegen«, sagte Hella. »Heilsame Kräfte. Mir war es schon immer bewusst, seit … seit es mich jemand gelehrt hat. Und auch dafür war ich nur offen, weil ich es schon als kleines Mädchen so empfunden habe. Der Wald besteht nicht einfach nur aus einer Ansammlung von Bäumen. Er ist ein Organismus voller Harmonie. Alles wirkt zusammen, damit das Ganze funktionieren kann. Es ist wie ein unglaubliches, großartiges Musikstück, eine phantastische Komposition. Wenn man sie nicht zerstört.«

Davon müsste mein Theaterstück handeln, wenn ich es jemals schreibe, dachte Nele. Aber davon bin ich weiter denn je entfernt. Da ist ein neues Samenkorn einer Idee in mir, aber wahrscheinlich braucht es ebenso lange, Gestalt anzunehmen, wie ein Baum. Vielleicht muss ich dazu so alt werden wie Hella …

Ein Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Sie fuhr zusammen. Ein mächtiger Schatten strich über das Gras, dann über den Tisch, wurde immer größer, sie vernahm ein Rauschen, dann noch einen Schrei, lauter diesmal.