15

»Unser Leben ist untrennbar mit Bäumen verknüpft, immer schon«, sagte Hella, die sich gesetzt hatte und zusah, wie Nele mit der Schaufel ein Loch grub. Einen Spaten brauchte es für die zarte Birke nicht, aber die Erde war fest, und Nele musste sich durch Graswurzeln arbeiten.

»Es beginnt mit den ganz einfachen Dingen. Menschen suchen Schutz unter Bäumen. Menschen ernten Früchte von Bäumen. Menschen bauen Häuser und Möbel und Schiffe aus ihnen, stützen sich auf Geh- und Wanderstöcke. Bäume markieren Orte, Bäume produzieren Sauerstoff, den wir atmen. Sie zeigen uns den Frühling an und den Herbst, und ihre Stimmung spiegelt sich in unserer wider. Warum sollte diese Beziehung aufhören, wenn wir sterben? Gerade dann, wenn unser Körper wieder zu Erde wird? Und warum ist uns diese Freundschaft nicht bewusster, während wir leben? Warum begegnen wir ihnen nicht mit demselben Respekt, mit dem wir uns gegenseitig begegnen?«

»Das tun wir ja auch oft nicht«, sagte Nele, die sich erinnerte, wie ihre Schulkameraden einst über Noelie und sie gelacht hatten. Sie dachte an die Frauen, die sich über Vio das Maul zerrissen hatten, weil sie ihrer Zeit voraus gewesen war und ihre uneheliche Tochter allein und mit Stolz großgezogen hatte. Daran, wie manche über Teddy herzogen, weil sie unkonventionell war, oder über das Theater im Allgemeinen, weil nicht jeder verstand, wozu es gut sein sollte.

»Siehst du. Genauso ist es, wenn die Menschen ihre Hunde im Nationalpark frei laufen lassen, wo diese die bodenbrütenden Vögel gefährden und Kranicheltern von ihren Jungen trennen. Wenn sie Zigarettenkippen und Bierflaschen in die Natur werfen, weil sie es nicht für nötig halten, ihren Müll wieder mitzunehmen. Aber ich habe bei meinen Führungen und Kursen auch erfahren, dass die meisten so etwas nur aus Gedankenlosigkeit tun oder aus Unwissen.« Hella wies mit dem Stock in die Grube. »Der Stein da muss weg. Du kannst ihn da hinüberlegen. Weißt du, ich habe Eltern erlebt, die mitten im Schutzgebiet ihre Kinder ermutigt haben, auf Mountainbikes laut jubelnd immer wieder über natürliche Sprungschanzen zu fahren, bis sie dabei Wurzeln zerfetzten, Frösche überfuhren, junge Bäume knickten und alle Vögel und das Rehwild im Umkreis in die Flucht schlugen«, fuhr sie fort. »Darauf angesprochen, fragten sie tatsächlich verwundert: ›Tiere? Hier sind doch keine Tiere!‹ Und dass Bäume Lebewesen sind, die man verletzen kann, war ihnen erst recht nicht klar. Die Kinder haben das meist schneller begriffen als die Erwachsenen. Ich glaube, der Respekt kommt von allein, wenn man nur versteht, dass ein Baum kein totes Objekt ist, nur weil er still steht.« Hella machte eine kleine Pause. Nele konnte sich inzwischen gut vorstellen, mit welchem Einsatz sie ihre Führungen geleitet hatte. »Manche denken, man sollte die Alleenbäume fällen, weil ein Auto dagegenrasen könnte. Aber ich glaube daran, dass wir es noch begreifen! Ich habe große Hoffnung, was die Jugend angeht. So, das Loch ist tief genug, nun kannst du die Birke einsetzen.«

»Ich fange ja auch gerade erst an, das alles zu verstehen«, gab Nele zu, hob die Birke vorsichtig aus der Tüte und setzte sie an ihren Platz. »Hast du es denn immer schon so empfunden, Hella? Diese innere Nähe zu Bäumen?«

»Ich bin wohl so geboren. Das war nicht leicht für mich damals, das kannst du mir glauben. Ich dachte selbst, ich bin nicht richtig im Kopf. Bis mich jemand gerettet und mir den Weg gewiesen hat. Das heißt …«

Nele wartete, doch es kam nichts mehr. Sie klopfte die Erde um die zarten Wurzeln herum sanft fest und dachte dabei an Noelie. Für einen Moment war es, als stünde ihre Freundin aus Kindertagen neben ihr. Nele machte die Gebärde, die sie immer für jede Art guter Wünsche gebraucht hatten, Zeige- und Mittelfinger an beiden erhobenen Händen gekreuzt. Vor Hella spürte sie keine Verlegenheit mehr. Die lächelte beifällig. »Jetzt gieß sie gut an, mit der Kanne am Regenfass da drüben. Und dann muss noch ein Stock dran, zur Stütze, und etwas Hasendraht drumherum gegen Wildfraß. Du findest beides da hinten im Schuppen.«

»Ich helfe dir, in Ordnung?«, fragte Timon, der mit einem Glas in der Hand durch den Garten kam. »Zeit für deine Pillen, Hella.«

»Oh, danke. Ja, es ist gut, wenn du Nele hilfst.« Sie schluckte die Tabletten widerspruchslos, auch wenn sie dabei das Gesicht verzog. »Ich werde mich nie daran gewöhnen, dass ich jetzt in einem Alter bin, in dem man angeblich dieses Zeugs braucht.«

Diesmal erschrak Nele nicht, als der Schatten sich näherte und der junge Kranich dicht bei ihnen landete.

»Ja, ja, Boreas, ich weiß«, sagte Timon. »Zeit für dein Mittagessen.« Er griff in die Tasche und streute dem Vogel seine Maiskörner hin.

Nele wischte ihre Hände am Gras ab und stand auf. »Hella, du wolltest mir doch noch verraten, wie Boreas zu seinem Namen kam. Hat er eine Bedeutung?«

»Ja, hat er. Aber das erkläre ich dir doch lieber in Verbindung mit einer großen Bitte, die ich an dich habe. Nur nicht jetzt. Für heute genügt es mir. Ich brauche Ruhe und Zeit für Quentin. Könntest du morgen Abend wiederkommen?«

»Das kann ich gern machen«, sagte Nele verwundert. »Dann bringe ich auch die Gitarre mit. Quentin hatte sich ja gewünscht, dass ich etwas spiele.« Was gab es wohl, das ausgerechnet sie für Hella tun konnte?

»Sehr schön. Ich gehe dann mal hinein«, sagte Hella. »Bis morgen, Nele.«

»Bis morgen. Und vielen Dank, Hella. Für den Spaziergang. Und vor allem für die schöne Idee mit der Birke und dass sie hier wachsen darf.«

Hella lächelte und nickte ihr zu. »Ich hoffe, du wirst mit ihr ins Gespräch kommen. Sie ist noch jung, ihr seid auf Augenhöhe. Sozusagen.«

Nele sah ihr nach.

»Darf ich die Stange für dich einschlagen, oder möchtest du?«, fragte Timon hinter ihr. Er hatte inzwischen die Sachen geholt. Nele nahm sie ihm aus der Hand. »Danke, aber ich mache das selbst. Wie weit vom Stamm muss sie rein?«

Er zeigte auf eine Stelle und reichte ihr einen Stein. »Der Hammer ist verschwunden, aber damit geht es auch.«

Nele brauchte einige Schläge, aber sie legte all ihre Kraft hinein. Das half ihr, sich zu sammeln. Das Pflanzen des Baumes für Noelie war doch emotional aufwühlender gewesen, als sie gedacht hatte.

»Hella ist eine ungewöhnliche Frau. So gern ich sie habe, manchmal überfordert sie mich«, sagte Timon. »Nicht in pflegerischer Hinsicht natürlich, aber mit dem, was sie so sagt und denkt.« Als Nele begann, den Draht um den Baum zu spannen, half Timon ihr doch. Dafür war ein zweites Paar Hände sehr nützlich.

»Pflegst du sie und Quentin schon lange? Und ganz allein?«

»Ich habe genug Freizeit. Sie sind nicht anspruchsvoll. Ich mache es erst seit einem halben Jahr.«

»Und vorher?«

»Da war ich in einer Klinik in Greifswald tätig.« Sein Gesicht verfinsterte sich. Nele stellte fest, dass sogar seine grauen Augen auf einmal dunkler wirkten.

»Das war doch sicher etwas völlig anderes? Viele Menschen, jede Menge interessante Herausforderungen. Warum bist du dort weggegangen? Hier ist es doch im Vergleich bestimmt sehr still und …« Sie brach ab. So war sie nie gewesen. Seit der Zeit mit Noelie, als sie beide sich von den anderen, die sie auslachten, abgeschottet hatten, hatte sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert. Sie wollte in Ruhe gelassen werden, und dafür ließ sie auch die anderen in Ruhe. Und jetzt? Was war das nur an den Menschen hier, dass sie sie so neugierig machten?

»Einsam, meinst du?« Timons Ton war abweisend, fast ärgerlich. »Stell dir vor, genau das wollte ich! Man kann doch mal das Bedürfnis nach einer Abwechslung haben, oder? Ich glaube, wir sind hier fertig.« Er prüfte den Stand des Gitters. »Der Baum wird sicher gut wachsen.« Eilig rollte er den Rest des Drahts auf, doch dann zögerte er. »Ich habe vorhin Farbreste gesehen, als ich den Hammer gesucht habe. Wenn du möchtest, könnte ich sie dir ins Auto tragen – oder dir sogar mit deiner Wand helfen? Dann fahre ich dir hinterher.«

Nele hatte den Eindruck, dass ihm seine Schroffheit leidtat und er es wiedergutmachen wollte. »Du musst mir nicht helfen. Ich wollte nicht neugierig sein. Es geht mich ja nichts an. Tut mir leid.«

»Muss es nicht. Ich bin gerade zu empfindlich. Das ist gefährlich, das mit dem nichts angehen. Hella würde sagen, genau das ist das Problem: Die Menschen gehen zu oft davon aus, dass sie etwas nicht angeht. Der Wald. Der Naturschutz. Die Menschen einander. Also, darf ich dir helfen? Ich hätte Lust, mal wieder etwas mit Farbe anzustellen.«

»Anstellen geht nicht, es ist ja nicht meine Wohnung. Aber …« Ihr fiel ihre Idee von vorhin ein. »Ist da auch Sprühfarbe dabei?«

»Ja, auch. Wenn sie noch funktioniert.«

»Dann lass uns das machen. Unterwegs muss ich noch etwas von dem Adlerfarn pflücken. Geht das?«

»Im Nationalpark darfst du nichts pflücken. Aber hier hinter dem Schuppen wuchert welcher, da können wir was abschneiden. Wofür denn?«

»Wirst du dann schon sehen.« Nele wusste nicht, ob das funktionieren würde. Sie arbeitete meist allein. Aber sie hatte ja beschlossen, dass sie Freunde brauchte. Da konnte sie nicht bei der erstbesten Gelegenheit kneifen. »Können wir hier auch irgendwo Zweige finden, die heruntergefallen sind? Und etwas Moos?«

Wenig später trugen sie die Farbeimer die steile Treppe hinauf. Zum Glück hatte Timon auch noch Pinsel gefunden. »Etwas struppig, aber es wird schon gehen«, meinte er hoffnungsvoll.

»Struppig ist in diesem Fall wahrscheinlich genau richtig. Der Anstrich soll ja unregelmäßig werden, damit es natürlich wirkt«, sagte Nele zufrieden.

Oben sah Timon sich um. »Wow, das gefällt mir. Aber du hast recht. Es wirkt noch zu kühl und statisch. Zu viel Graphik, zu wenig Atmosphäre.«

»Dann lass uns das ändern. Erst können wir die Baumstämme anmalen, damit sie so abwechslungsreich wirken wie die echten. Und dann mit den dünnen Zweigen die Pappäste ergänzen, aber so, dass sie sich biegen und überkreuzen wie im Wind.«

»Wird gemacht.« Er öffnete die Eimer und stellte sie in eine säuberliche Reihe. »Wenn wir raue Rinde darstellen wollen, ist es sicher sogar förderlich, dass hier Krümel in der Farbe sind.«

»Klar. Und das Moos drücken wir in die Farbe, ehe sie trocknet, das wird von allein halten.«

Eine Weile arbeiteten sie schweigend. Zwischendurch kochte Nele Tee. Sie fand die Stimmung überraschend angenehm. Timon redete anscheinend nicht viel, was ihr recht war. Aber seine Anwesenheit war unaufdringlich freundlich, und er hatte gute Ideen.

»Was machst du denn eigentlich selber hier?«, fragte er plötzlich. »Wo du es doch so still und einsam findest. Sicher nicht einfach Urlaub, sonst wärst du nicht bei Hella aufgetaucht. Bist du auf der Flucht vor etwas?«

Vor Überraschung zuckte Neles Hand, und sie setzte einen Klecks dahin, wo keiner hingehörte. Nun musste sie einen zusätzlichen Ast malen. Oder vielleicht ein Eichhörnchen? Ja, das war besser. Dann hatte das Nashorn Gesellschaft. »Schließt du da von dir auf andere?«, fragte sie.

»Wenn du es unbedingt wissen musst, ich bin es nicht, der weggelaufen ist!«, brach es unerwartet heftig aus ihm heraus. »Aber ich brauchte einen Tapetenwechsel. Meine Freundin ist fortgegangen! Sie hat sich von mir getrennt. Wir waren schon ewig zusammen. Wir wollten heiraten. Und dann sagt sie plötzlich, ihr ist das alles zu eng. Sie möchte mal etwas anderes ausprobieren.« Finster starrte er Nele an, als wäre sie schuld daran. »Liebe ist doch nichts, was man ausprobiert! Oder sehe ich das falsch?«

»So hätte ich das nicht ausgedrückt«, sagte sie vorsichtig. »Aber ganz unrichtig ist es auch nicht, oder? Man kann es doch nur probieren. Man weiß vorher nicht, ob es auf Dauer funktioniert. Bei mir ist es auch schon zweimal schief gegangen. Das heißt, es war einfach zu Ende. Vielleicht nicht so plötzlich wie bei dir. Es gab vorher jede Menge Diskussionen.«

»Bei uns nicht!« Er tauchte den Pinsel wieder ein. »Entschuldige, Nele. Ich wollte dich nicht anblaffen. Ich verstehe es nur einfach nicht. Seit sie fort ist, habe ich die meisten Nächte nur auf der Brücke über dem Ryck gesessen, ins Wasser gestarrt und mich gefragt, was passiert ist, was ich denn falsch gemacht habe. Die Lichter der Boote, die sich da spiegelten und die ich so geliebt habe, haben mich auf einmal völlig irre gemacht. Alles flimmerte nur noch vor meinen Augen. Das ging so nicht weiter.« Er pinselte wild, seine Augen waren jetzt ganz dunkel. »Ich hatte das Gefühl, in der Stadt keine Luft mehr zu bekommen. Als ich die Annonce von Hella und Quentin las, habe ich alles hingeschmissen und bin hergekommen. Hier gibt es jede Menge Luft. Und keine Menschen, die Fragen stellen. Dachte ich jedenfalls.« Er lächelte ihr traurig zu, und sie ertappte sich bei dem Wunsch, ihn zu trösten.

»Ist der Ryck ein Fluss?«, erkundigte sie sich, um das unerwartet persönliche Gespräch auf sachlichere Dinge zu lenken.

»Ja. Dort auf der Brücke haben wir uns zum ersten Mal geküsst. Das ist ewig her. Wir waren so oft zusammen dort. Ich dachte, es würde für immer so sein.«

»Nichts ist für immer. Nicht mal die Bäume.«

»Du redest schon wie Hella«, sagte er erstaunt.

»Bestimmt nicht! Komm, jetzt lass uns das mit den Farnen machen. Das wird gut. Übrigens, ich bin nicht auf der Flucht.«

Ihre inneren grauen Wolken verschwieg sie. Die schienen sich hier auch gerade in respektvoller Entfernung zu halten. Wie wohltuend das war, wurde ihr erst jetzt bewusst.

»Ich glaube, ich laufe zu etwas hin. Ich weiß nur noch nicht, was es ist. Momentan geht es mir eher wie ihm.« Sie deutete auf das ratlose Nashorn, das so gar nicht hierherpasste.

Timon lachte auf. »Na, dann viel Glück! Ich nicht. Ich brauche nichts Neues, ich muss erst mal mit dem Alten fertig werden. Aber wenn ich dich unterstützen kann, sag Bescheid. Das lenkt mich vielleicht ab.«

Sie reichte ihm das Klebeband. »Kannst du. Wenn du die Schilfhalme an der Wand fixierst, sprühe ich drüber. Hinterher machen wir sie wieder ab, und nur die farbigen, weichen Konturen bleiben übrig. Als Unterholz für die Bäume.«

»Super Idee«, sagte er anerkennend und begann, schmale Streifen vom Band abzureißen.

Nele öffnete die Balkontür, um den Farbgeruch hinauszulassen. Bald hörte man nur noch das Zischen der Sprühdosen und nebenan das fröhliche Zwitschern der Schwalben.