17

Nachts beobachtete Nele wieder eine Zeitlang den kreiselnden Lichtfinger des Leuchtturms, der über die Baumwipfel wischte. Der Wald war ihr nun schon nicht mehr so fremd. Keine dunkle, anonyme Masse unter den Sternen, eher eine Versammlung freundlich gesinnter Wesen, die sie endlich näher kennenlernen wollte.

Am nächsten Morgen wachte sie spät und mit einer ungewöhnlichen Zufriedenheit auf. Das lag sicher daran, wie gut die Wand geworden war, dachte sie, als sie im Nachthemd verschlafen die Treppe hinuntertappte, um sich erst einmal etwas Heißes zu trinken zu machen.

Oder etwa daran, dass es so viel Freude gemacht hatte, die Wand mit Timon zusammen zu gestalten? Sie mochte es, wie er über seine eigene Ungeschicklichkeit lachen konnte. Und wie sich, wenn er nachdenklich war, ganz langsam eine Stirnfalte über seiner rechten Augenbraue aufbaute, wie eine sanfte Welle …

Das Wetter schien heute eher grau und stürmisch zu sein. Selbst die Schwalben auf dem First nebenan wirkten noch etwas verschlafen und nicht allzu begierig, sich in den Himmel zu schwingen.

In die Waldszene an der Wand aber war nun ein geheimnisvolles Licht geraten, wohl durch die Mischung der alten Wasserflecken und die neu um die Schilfhalme aufgesprühten Farbreste. Die zarten Konturen wirkten, als bewegten sie sich leise im Wind. Für einen Augenblick vermeinte Nele, es im Schilf rauschen zu hören, bis sie bemerkte, dass es angefangen hatte zu regnen. Die Tropfen trommelten auf das Geländer und die Holzbohlen des Balkons. Sie fand es gemütlich. Mit einem Kaffee kuschelte sie sich auf das Sofa und rief Vio an. »Wie geht es dir?«

»Hervorragend. Ich habe meine Probewochen im Seniorenheim angetreten. Es gefällt mir. Noch schöner werde ich es natürlich finden, wenn ich meine eigenen Möbel hier habe. Aber viel werde ich nicht brauchen.«

»Was? Du bist schon dort?« Nele versuchte, sich das vorzustellen. Sie fand immer noch, dass ihre unabhängige Großmutter nicht in so ein Seniorenwohnheim passte.

»Ja. Du kannst dich unbesorgt daran gewöhnen. Ich habe hier nette Menschen kennengelernt. Stell dir vor, wir machen Sport mit so einer Spielkonsole. Da bekommt man eine Fernbedienung in die Hand und kann damit die Kegel auf einem Bildschirm umwerfen. Das ist richtig lustig, und man kommt in Bewegung.«

»Und das macht dir Spaß?«

Vio lachte. »Ich bin selbst überrascht. Aber du weißt doch, ich war immer dafür, Neues auszuprobieren. Warum soll ich das ändern, nur weil ich alt bin?«

Nele dachte an Hella und Quentin. »Das sollst du auf keinen Fall! Ich vermisse dich. Ich habe hier übrigens auch zwei sehr nette alte Leute kennengelernt.«

»Ich denke viel an dich, Liebes. Und ich bin sehr froh, dass du auch einmal etwas Neues machst. Außerdem …«

»Was, Vio?«

»Die Bilder vom Wald, die du mir schickst, tun mir gut. Er scheint vertraut, als wäre ich gestern erst dort gewesen und nicht vor einer Ewigkeit. Es ist, als ob sich ein Kreis schließt. Ich hatte schon manchmal Sehnsucht danach.«

Vielleicht auch nach Joram, dachte Nele. »Möchtest du nicht doch herkommen?«

»Nein, auf gar keinen Fall. Die Erinnerungen sollen bleiben, wie sie sind. Aber es freut mich ungemein, dass du jetzt dieses Stück unseres Landes und meiner Lebensgeschichte kennenlernst.« Sie zögerte. »Und auf diese Art auch ein bisschen deinen Großvater. Du erinnerst mich in vielem an ihn, weißt du. Umso mehr, je älter du wirst.«

»Das hast du nie erwähnt.« Nele war verblüfft.

»Man muss ja nicht alles zerquasseln. Es ist aber so. Du bist kreativ, unabhängig, oft gern allein. Manchmal ein bisschen verbohrt und eigensinnig, aber auf eine merkwürdig sympathische Art. Und ein bisschen wie der Wind.« In Vios Stimme lag Wehmut. »Frei und schwer zu fassen, oft nicht so ganz von dieser Welt, sondern mit den Gedanken ganz woanders unterwegs. Du siehst Dinge, die andere nicht sehen. Wie er.«

Darüber musste Nele nachdenken. »Du hast ihn sehr geliebt«, stellte sie fest.

»Sicher. Kurz ist ja nicht gleichbedeutend mit wenig. Ich finde immer noch, es ist gut so, wie es war. Genieße deine Zeit dort, Liebes! Ich muss los, ich bin verabredet.«

Nele genoss ihren Kaffee und versuchte, Vios erstaunliche Einschätzung zu verdauen. Verbohrt und eigensinnig? Doch, hin und wieder stimmte das wohl. Und alles andere? Klang nicht ganz schlimm und auch nicht ganz falsch. Dass sie einiges mit ihrem unbekannten Großvater gemeinsam haben sollte, war zumindest interessant. Vielleicht erklärte es, warum sie sich von den Bäumen zunehmend angezogen fühlte.

Neles Magen knurrte. Sie beschloss, bei Franzi zu frühstücken. Frische Brötchen schienen auf einmal sehr verlockend, und sie hatte ja bis zum Abend den ganzen Tag für sich. Auch ein ungewohntes, aber angenehmes Gefühl. Außerdem mochte sie Franzi.

Die Karten spielenden älteren Männer hockten wieder an ihrem Stammtisch. Nele fragte sich unwillkürlich, ob sie sich jemals von dort fortbewegt hatten. Franzi blickte erfreut auf. »Du bist ja noch hier!«

Da es draußen inzwischen regnete, setzte sich Nele auf einen der Hocker an dem Tresen, hinter dem Franzi Tomaten aufschnitt. »Ja, und ich bleibe sogar noch ein Weilchen.«

»Wunderbar. Was möchtest du gern? Tee war es bei dir, richtig?«

»Heute nicht. Heute ist ein Kaffeetag«, erklärte Nele.

»Wirklich? Du wechselst? Das tun Kunden selten.«

»Es kommt auf meine Laune an. Und bitte ein Käse- und ein Honigbrötchen.« Sie staunte selbst, wie wohl sie sich hier fühlte.

»Kommt sofort. Hat das mit der Pappe geklappt?« Franzi schien ein gutes Gedächtnis zu haben.

»Ja, der Tipp war super, vielen Dank. Genau was ich brauchte.« Nele zeigte ihr das Foto von der Wand, das sie für Vio gemacht hatte.

»Hui! Das sieht ja klasse aus.« Franzi wollte das Handy gar nicht wieder hergeben. »Du, kann ich das mal Matteo zeigen? Das ist mein Lebensgefährte. Und Geschäftspartner.«

»Ja, natürlich«, sagte Nele verwundert und biss in das Brötchen, das Franzi ihr mit abwesender Miene hinschob, ehe sie in einem hinteren Raum verschwand. Nele beugte sich hoffnungsvoll über den Tresen, auf der Suche nach Milch.

»Da rechts im roten Kännchen!«, rief einer der Männer.

»Danke!« Nele rührte zufrieden in ihrem Kaffee. Der Gastraum war gemütlich und geschmackvoll eingerichtet, bis auf den Wandteppich, dessen Farben Nele schon beim letzten Mal als aufdringlich und irgendwie unharmonisch empfunden hatte. Er war ein Widerspruch zu dem restlichen Stil. Wahrscheinlich ein Geschenk, das aus Höflichkeit dort hing.

Von hinten drangen angeregte Stimmen, dann kehrte Franzi zurück, den Mann von neulich im Schlepptau, diesmal ohne Hammer, dafür mit einem Rasierapparat. Er trug noch einen unrasierten Streifen im Gesicht und wirkte ergeben, als wäre er gewohnt, jederzeit unterbrochen zu werden. Aber er hatte auch einen zärtlichen Arm um Franzi gelegt, also schien es ihm nichts auszumachen.

»Hallo, ich bin Matteo«, begrüßte er sie. »Franzi hat mir gezeigt, was du mit dieser Wand gemacht hast.«

Hoffentlich war er nicht Eigentümer der Ferienwohnung oder irgendwie daran beteiligt? »Sie hatte einen Wasserschaden«, beeilte sich Nele zu erklären. »Ich hab das schon mit dem Vermieterbüro abgestimmt.«

»Wir haben ein ähnliches Problem«, sagte er und wies auf die Wand im Gastraum, dem Tresen gegenüber, wo der bunte Teppich hing. »Der Teppich war eine Notlösung.« Er ging hin und lupfte den Behang, so dass Nele die Wand darunter betrachten konnte.

»Oh!«, sagte sie.

»Wir wissen nicht, was der Vorbesitzer damit gemacht hat. Egal, womit wir gestrichen haben, diese Flecken kommen immer wieder durch. Feucht sind sie nicht, es muss irgendeine alte Farbe sein. Meinst du, du könntest etwas Ähnliches damit anstellen wie in deiner Ferienwohnung? Vielleicht was mit Schiffen? Wenn es nicht allzu teuer wird«, fügte Matteo hastig hinzu. »Wir stehen ja noch am Anfang. Große Sprünge sind nicht drin. Aber wir würden gern etwas Besonderes aus unserer Gaststube machen, so dass die Leute gern hier sitzen und sich später noch lange daran erinnern, dass sie sich wohlgefühlt haben. Da wäre so ein dreidimensionales Bild gut, das sich einprägt.«

»Was mit Schiffen wär fein«, stimmte einer der Kartenspielmänner zu, ohne den Blick von seinem Blatt zu heben.

Nele betrachtete die unregelmäßigen Flecken in rostbraunen, dunkelgrünen und bläulichen Farben. Das könnte passen, es wirkte fast wie das Wasser im Hafen. Wenn sie dazu Schiffe aus alten Kartons schnitt, hätten die Segel schon die braune Farbe der Zeesboote. Wenn Timon Lust hatte, ihr noch mal zu helfen, könnten sie dafür die letzten Farbreste verbrauchen, die noch in ihrer Wohnung standen. Sie würde ihn am Gewinn beteiligen und trotzdem nur wenig von Franzi und Matteo verlangen, denn es würde so gut wie keine Materialkosten verursachen. Und sie hätte einen Grund, noch ein wenig zu bleiben, ohne dass sie ihre komplizierten wirklichen Beweggründe erklären musste, die ihr selbst nicht ganz klar waren.

»Ja, das können wir versuchen. Ich mach das gerne«, sagte sie. Notfalls würde es auch ohne Timon gehen, sicher konnte Matteo ihr ebenso gut mit den großen Teilen helfen.

Später bummelte sie durch das Kunstmuseum in Ahrenshoop und stand lange vor den Bildern der Maler, die sich einst auf dem Darß angesiedelt hatten. Ihr Großvater musste einigen von ihnen noch begegnet sein. Sie waren auf Fischland-Darß geblieben, weil es hier ein bestimmtes Licht und Farben gab wie sonst nirgends, und das hatten sie auf vielfältige Art eingefangen. Zu dem Bild eines Vollmonds in einer Winternacht kehrte Nele immer wieder zurück. Ihr war, als könnte sie den Schnee riechen, die stille Magie der einsamen Szene spüren, als würde die klare, kühle Luft ihre Seele bis ins Innerste erfrischen. Aber auch die herbstlichen Dünenlandschaften hatten es ihr angetan, die See bei Sturm, eine Seemannswitwe auf einem Friedhof, ein Gehöft im Frühling zwischen blühenden Apfelbäumen. Diese Künstler mussten das Land ebenso tief geliebt haben wie ihr Großvater, man sah und spürte es in jedem Pinselstrich.

Neugierig geworden spazierte sie später durch Born und betrachtete die alten Häuser in ihren Gärten. Sie machte sich Notizen, skizzierte das eine oder andere in ihrem Heft. Vielleicht konnte sie diese Anregungen für ihre Kulissen verwenden. Bäume würde sie in Zukunft anders gestalten, aber es mussten ja nicht immer nur Bäume sein. Diese Art von Häusern, wie es sie hier gab, hatte sie vorher nicht gekannt, mit den Reetdächern und dem Holz, den Giebelbrettern in Form von Tierköpfen und den bunten Haustüren. Das eröffnete ganz neue Möglichkeiten. Während sie an einem Gartentor stand und zeichnete, hielt ein Fahrradfahrer neben ihr. Sie blickte auf und erkannte Jakob Hellmond.

»Hallo«, sagte er. »Wie geht’s dir denn hier so? Hast du mit Hella sprechen können?«

»Ja, das war ein wunderbarer Tipp! Ich bin Ihnen … dir sehr dankbar dafür.«

»Keine Ursache. Kann ich sonst noch irgendwie weiterhelfen?« Er lächelte sie an.

Nele lächelte zurück. »Im Moment nicht, vielen Dank!« Ihr fiel etwas ein. Hatte er nicht gesagt, sie erinnere ihn an seine Tochter, die nicht da wäre? Sicher fehlte sie ihm. »Jakob? Wo lebt denn deine Tochter eigentlich?«

»Anna-Lisa studiert Kunst. Mal in München, mal in Amerika. Sie ist hier aufgewachsen und hat von klein auf ihren Vorbildern nachgeeifert, den Malern, die hier tätig waren. Ich glaube, ihr beide würdet euch gut verstehen.« Er stieg wieder auf sein Rad. »Nele, einen schönen Aufenthalt noch! Vielleicht sieht man sich mal wieder.«

Nele sah ihm nach. Sie hatte sich bei der ersten Begegnung nicht getäuscht. Er wirkte wie ein durch und durch zufriedener Mensch, der mit sich und der Welt im Reinen war.

Vielleicht würde ihr das ja eines Tages auch gelingen.

Am Hafen holte sie sich ein Fischbrötchen und aß es auf dem Balkon bei den Schwalben, bevor sie eine ganze Weile später ihre Gitarre stimmte und zu Hella und Quentin fuhr.

Hella öffnete ihr selbst. Ihre Augen leuchteten auf, als sie die Gitarre sah. Die Freude in ihrem Gesicht war so deutlich, dass es Nele ganz warm uns Herz wurde. Quentin saß in einem Sessel neben einem bullernden Ofen aus Schmiedeeisen und bunten Kacheln. Er sah müde aus, lächelte ihr aber ebenso erfreut entgegen.

»War die Untersuchung sehr anstrengend?«, fragte sie ihn.

»Ja, aber nun bin ich ja wieder hier. Und meine Augen sind nicht schlechter geworden. Der Arzt macht sich keine Sorgen und ich auch nicht«, erwiderte er und hielt sie einen Moment fest. »Beugst du dich einmal herunter zu mir? Ich möchte dein Gesicht richtig sehen.«

Sie kniete sich neben ihn und sah zu ihm auf. Er betrachtete sie lange und nickte dann. Er sagte nichts, legte aber für einen Augenblick leicht die Hand auf ihren Kopf. Es fühlte sich an wie ein Segen.

Draußen ließ sich die Dämmerung um das Haus nieder. Gelegentlich fiel ein Regentropfen auf das Fensterbrett.

»Hi, Nele.« Timon kam mit einer Platte Häppchen und einem Teller Kekse herein. Nele betrachtete die phantasievoll belegten Cracker und Pumpernickelscheiben staunend. Käse, Weintrauben, Oliven, Zwiebeln, Ei, Kräuter, Fisch …

»Wer hat die denn gemacht – du?«

»Das ist seine Spezialität«, sagte Hella. »Wir lieben das. Genau das Richtige für alte Leute wie uns. Klein, aber fein und vielfältig, und man muss nicht mit Besteck hantieren.«

»Fingerfood«, ergänzte Quentin mit so viel Genuss in der Stimme, dass Nele lachen musste über diesen unerwarteten modernen Ausdruck von ihm. Schwerfällig stand er auf und humpelte zum Tisch hinüber.

»Sieht sehr schön und lecker aus«, fand Nele. »Und was duftet so?«

»Die Kekse sind noch warm«, erklärte Timon, während er einen leichten Weißwein öffnete. »Wir trinken Schorle, möchtest du lieber den Wein pur?«

»Nein, danke, Schorle ist prima. Was für Kekse sind das?«

»Mit Limone und Stückchen weißer Schokolade darin. Koste doch einfach.«

Sie konnte nicht widerstehen. Die Kekse waren ein Gedicht.

»Wow. Großartig.«

Er grinste sie erfreut an. »Fein, aber lass für die Häppchen auch noch Platz.«

»Ich kann Timons Keksen auch nie widerstehen«, sagte Quentin und tastete danach. Timon schob ihm den Teller in Reichweite.

Das Feuer im Ofen knisterte, während sie aßen, gelegentlich ein paar Worte wechselten oder Timon mit einer Bemerkung alle zum Lachen brachte. Nele fühlte sich immer wohler an diesem Ort und mit diesen Menschen. Es braucht so wenig, um glücklich zu sein, dachte sie. Keine Kulissen. Nur Menschen, bei denen man einfach so sein kann, wie man eigentlich ist, oder bei denen man überhaupt erst in Ruhe herausfinden kann, wer man ist. Ein bisschen Wärme und etwas Leckeres zu essen, interessante Gespräche und die Möglichkeit, etwas zu gestalten oder das zu tun, was einem wirklich liegt. Hm, eigentlich ist das gar nicht wenig. Das ist viel! Viel und sehr wertvoll.

»Nele, ist alles in Ordnung?«, fragte Quentin. »Du bist so still.«

»Ich muss das genießen. So viele Geschmacksrichtungen«, erklärte Nele. »Ist das Ziegenkäse auf diesem Cracker? Mit Marmelade?«

»Ja. Die Marmelade hat Jakobs Frau Ylvi gezaubert. Sie ist Gärtnerin. Mit Früchten aus ihrem Garten und Gewürzen, die nur sie kennt. Passt gut, oder? Schön, dass es dir schmeckt. Manche sagen, das kann man nicht kombinieren.«

»Wenn es so delikat ist, kann man das«, sagte Quentin. »Die Leute reden viel Unsinn, ohne es einfach mal auszuprobieren.«

Timon schnitt eine Grimasse. »Na, mir ist beim Ausprobieren auch schon viel schief gegangen.«

»Kochen ist wie Leben«, meinte Quentin gelassen. »Man muss es einfach tun. Und dabei für alles offen sein.«

Hella aß auch, erschien aber seltsam abwesend. Sie war diejenige, die still war, fand Nele. »Hella, geht es dir gut? Ich kann auch morgen wiederkommen, wenn Besuch heute für dich zu anstrengend ist!«

Hella setzte sich auf. »Auf gar keinen Fall! Nein, ich freue mich nur schon darauf, dass du uns gleich etwas spielst.«

Quentin nahm sich noch einen Keks und schob den Teller fort. »Also, ich für meinen Teil bin satt. Satt und sehr zufrieden! Vielen Dank, Timon. Du verstehst es, aus einem trüben Herbstabend einen Feiertag zu machen.«

»Danke für das Lob, Quentin.« Timon half ihm aufzustehen und geleitete ihn zurück zu seinem Sessel. Nele mochte es, wie aufmerksam er war. Sie half ihm, das Geschirr in die Küche zu bringen, die altmodisch und gemütlich war. »Die Kekse lassen wir noch stehen«, sagte er.

Hella machte es sich erwartungsvoll in dem anderen Sessel gemütlich. Timon legte Holz nach und zündete eine Kerze an, die inmitten eines Tellers mit Tannenzapfen, Eicheln, Kastanien in ihren stacheligen Hüllen, getrockneten Hortensienblüten und dicken, roten Hagebutten stand.

Keine Kulissen, dachte Nele. Alles echt. Nachdenklich rückte sie ihren Stuhl so zurecht, dass sie richtig saß, stimmte ihre Gitarre ein wenig nach, drehte am Wirbel der G-Saite, bis sie zufrieden war. Sie hatte nie ein Gerät oder eine App dazu gebraucht, ihr Gehör reichte völlig aus.

Timon streckte sich auf dem Sofa aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Nele war es gewöhnt, ein erwartungsvolles Publikum zu haben, aber dann saß sie meist hinter den Kulissen, um für die Soundeffekte zu sorgen. Oder es waren die Kinder, mit denen sie zur Entspannung nach der Aufführung noch etwas Musik machte.

Das hier war etwas ganz anderes, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Vielleicht war es die private, gemütliche Atmosphäre. Sie dachte an Timons eigenwillige Häppchenkreationen und begann einfach, so zu spielen, wie sie es zu Hause für sich tat. Ein bisschen Bach, ein bisschen Beatles. Ein paar alte Volkslieder und immer wieder die Sonaten von Corelli, die sie so liebte.

Hella sah ihr gebannt zu, beobachtete abwechselnd ihre Finger und ihr Gesicht, aber seltsamerweise störte Nele das nicht. Quentin hatte die Augen geschlossen und wippte leicht mit dem Fuß, ein Lächeln in den Mundwinkeln. Timons Gesicht konnte Nele nicht sehen. Darüber war sie froh, es hätte sie bestimmt nervös gemacht. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, warum.

Schließlich ließ Nele die Musik sanft ausklingen, weil Quentins Fuß sich schon länger nicht mehr bewegte. Die alten Leute mussten müde sein, und sie dachte, er wäre vielleicht eingeschlafen. Doch als es still wurde, öffnete er die Augen.

»Bitte spiel doch noch einmal das erste Stück, Nele! Diese heitere Sonate.« Er rappelte sich auf, ging zu Hella und streckte ihr die Hand hin. »Lass uns tanzen, mein Mädchen! Wen kümmert es, dass es in Zeitlupe sein wird? Das Leben mit dir ist so schön. Ich möchte dich spüren, und so jung kommen wir nie wieder zusammen.«

Timon setzte sich auf und sah besorgt aus, sagte aber nichts. Hella lächelte strahlend. Ihre Anspannung von vorhin schien verflogen.

Nele begann zu spielen, ein wenig langsamer als vorhin. Es erschien ihr wie im Traum, als würde sie die Szene von außen betrachten. Würde sehen, wie die Töne, die ihre Hände aus den Saiten und dem hölzernen Klangkörper lockten, in den warmen, von den Flammen erleuchtenden Raum flossen und den müden Füßen des Paares auf den abgetretenen Dielen für diese Minuten in der Gegenwart Leichtigkeit verliehen.

Holz!, dachte sie. Die Gitarre ist aus Holz, der Boden auch. Das waren einmal Bäume. Da ist immer noch Energie darin. Leben.

Ihr traten Tränen in die Augen, als sie Hella und Quentin zusah, wie sie sich langsam und innig zu der Melodie bewegten, ihr Alter und alles um sich herum vergaßen und nur noch sich gegenseitig wahrnahmen. Nele blickte zu Timon herüber und stellte fest, dass auch seine Augen glänzten. Er nickte ihr zu. »Danke«, formten seine Lippen lautlos.

Dafür nicht, dachte Nele. Der Zauber geht allein von Hella und Quentin aus.

Als das Stück endete, spielte sie spontan noch »Kein schöner Land in dieser Zeit« an, weil es so gut passte und so ruhig war. Hella und Quentin hielten sich fest, bis der letzte Ton verklungen war, dann half Hella ihm in seinen Sessel. Er atmete ein wenig schwer und ächzte beim Setzen, aber er strahlte. Hella küsste ihn, dann wandte sie sich Nele zu. »Danke!«, sagte auch sie. »Das hat mir sehr viel bedeutet.«

Nele stand auf und legte die Gitarre in ihren Kasten. »Mir auch. Vielen Dank für den schönen Abend. Ich gehe jetzt besser, ihr seid bestimmt sehr müde.«

»Nein!«, widersprach Hella so heftig, dass alle sie überrascht ansahen. »Nele, ich möchte dich doch noch etwas fragen. Wenn ich damit bis morgen warte, kann ich nicht schlafen, und außerdem verlässt mich dann der Mut. Bitte! Dich auch, Timon, obwohl es hauptsächlich Nele etwas angeht. Aber du bist ebenso wichtig dafür. Habt ihr noch etwas Zeit für mich? So spät ist es doch nicht.«

Nele warf Timon einen fragenden Blick zu, nicht sicher, ob so viel Aufregung nach dem langen Tag für die beiden gut war.

»Du kannst ruhig schon schlafen gehen, Quentin«, sagte Hella in dem Moment zärtlich. »Du weißt ja bereits alles.«

»Ist gut, Liebes. Das werde ich tatsächlich tun.«

Also half Timon Quentin ins Bett, während Nele in der Küche einen Kräutertee für alle machte.

Als Timon zurückkehrte und sich gespannt zu ihnen setzte, begann Hella zu erzählen, während im Ofen die Holzscheite zusammenfielen und die Asche nachglühte. Manchmal gab einer der Funken einen kleinen Knall von sich, wie ein Ausrufezeichen hinter Hellas Worten.