Nele

19

Das Feuer im Ofen war erloschen. Timon stand schweigend auf, berührte für einen Moment Hellas Schulter und zündete dann eine Kerze an, die er auf den Tisch stellte. Aus reinem Bienenwachs, bemerkte Nele. Auch Vio benutzte nur solche Kerzen. »Sie machen ein wärmeres Licht, und nur sie haben den richtigen, echten Duft«, pflegte sie zu sagen.

Timon schob Hella auffordernd ein Glas Wasser hin, aus dem sie einen Schluck nahm.

»Wie ging es weiter?«, fragte Nele leise. Sie war tief berührt. Als sie begonnen hatte, sich zu fragen, wie ihr Großvater gewesen war, hatte sie nicht damit gerechnet, ihm als jungem Mann zu begegnen. Nun war ihr, als wäre sie gemeinsam mit Hella und ihm in diesen Baum gestiegen.

»Ich begann zu leben«, sagte Hella. »Das wurde der erste Sommer, in dem ich mich und alles um mich herum richtig zu sehen und zu spüren begann.« Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Niemand hat mich je wieder dermaßen geprägt wie Joram, nicht nur weil man in der Pubertät beeinflussbar ist und sich Vorbilder sucht. Das war es auch, aber nicht nur. Joram war so ein Mensch, den man nicht vergisst. Er gab jenen, denen er begegnete, unweigerlich einen kleinen Stups in eine andere Richtung. Er gab einem die Erlaubnis, man selbst zu sein. Dass dies jedem zusteht, hielt er für selbstverständlich. Damit war er seiner Zeit weit voraus. Mich hat das gerettet.« Sie räusperte sich und nahm noch einen Schluck. Sie sah müde aus, aber weder Nele noch Timon wagten es, sie zu unterbrechen. »Manchmal war er mit Freunden unterwegs, jungen Männern wie er selbst. Dann mied ich die Gegend. Aber das war nicht oft. Meistens wanderte er allein herum und hatte Zeit. Er zeigte mir in jenem Jahr den Wald und lehrte mich dabei unglaublich viel. Er war noch so jung. Woher er all sein Wissen hatte, weiß ich nicht. Das meiste war bei Joram wohl Instinkt, und er trug auch immer Bücher in seinem alten Rucksack bei sich. Was er nicht kannte, suchte er darin, bis er den Namen herausgefunden hatte, und die Bedürfnisse und Eigenarten. Ganz gleich, ob es ein Pilz war oder ein Vogel, ein Kraut, Stein oder Baum, eine Blume, Kröte, Fliege oder eine Muschel. Für ihn waren das alles ausnahmslos Wesen, die man mit Respekt zu behandeln hatte.

›Der Wald ist wie ein einziges großes Lebewesen‹, sagte er. ›Alles gehört zusammen. Alle brauchen einander, als Schutz, als Futter oder als Partner. Jedes hat seine Funktion, und obendrauf ist auf alles noch ein gewaltiger Klecks Schönheit gekommen wie Schlagsahne auf ein Eis. Die Natur hat Humor, Skogsrå, Humor und einen Sinn für Schönheit. Aber sprich nicht davon, dafür werden sie dich noch mehr auslachen!‹ Er kniete sich vor mich hin und sah mir in die Augen. ›Aber du weißt es! Vergiss es niemals. Lass dir nie die Freude daran nehmen und lass es dir nicht ausreden. Du besitzt eine gutwillige Macht, die keiner von denen hat, die lachen. Du verstehst die Bäume, du bist eins mit dem Wald. So wirst du immer Freunde haben und niemals einsam sein. Wenn andere über Kälte und den Winter jammern, wirst du in Wind und Regen unter den Bäumen stehen und jubeln, weil du ihre Kraft und Ruhe aufsaugen wirst. Sie sind deine Verbindung zu Erde und Himmel.‹«

»Skogsrå?«, fragte Nele vorsichtig. In diesem Moment war Hella keine gebrechliche alte Frau. Sie strahlte genau jene Kraft aus, von der sie gerade gesprochen hatte, dieselbe, die Nele in den Baumstämmen gespürt hatte, die sie berührte.

»Das Wort stammt aus der schwedischen Folklore«, erklärte Hella. »Joram hatte eine Vorliebe für Nordisches. Die Skogsrå ist eine Waldnymphe. Er begann, mich so zu nennen, nachdem wir uns immer öfter trafen. Wir verabredeten uns nie, aber wir wichen uns nicht mehr aus, im Gegenteil, und die Landschaft, die uns glücklich machte, führte uns zusammen. Ich war bald schneller auf den Bäumen als er, weil mir meine geringe Größe und die Leichtigkeit zugutekamen. Einmal tanzte ich auf einer Lichtung in einem Sonnenkegel, der durch das Kronendach in den Farn fiel, während ich auf Joram wartete. Ich hatte meine Hemmungen verloren. In der Schule ließ ich alles an mir abtropfen wie Blätter im Regen. Im Wald und am Weststrand, wo die Bäume sich mit dem Meer trafen, lebte ich mit allen Fasern. Joram sah mir eine Weile zu, bevor ich ihn bemerkte. Das war der Tag, an dem er mir diesen Namen gab.« Hella lächelte vor sich hin. »Später, als es Herbst wurde, flocht er mir einen Kranz aus goldenen und roten Blättern und setzte ihn mir auf. ›Einer Waldnymphe würdig‹, sagte er. Der Herbst war unsere schönste Zeit, wir wussten gar nicht, wohin mit all dem Glück über die Farben und Gerüche und den wilden Vogelzug über uns. So ungleich wir waren, wir waren froh darüber, das teilen zu können, sonst wäre es vielleicht zu viel geworden, zu groß für uns. Manchmal spielte er Gitarre, und wenn ich ihm zuhörte, hoffte ich, es würde alles für immer so bleiben.«

Ihr Blick war in eine ferne Zeit gerichtet gewesen, nun richtete sie ihn scharf auf Nele, dann auf Timon. »Ich weiß, was ihr denkt!« Sie schwieg einen Augenblick. »Ja, ich war ein wenig in ihn verliebt. Irgendwann war das unausweichlich. Wir waren über ein Jahr zusammen unterwegs. Ich wurde in unserem zweiten Sommer dreizehn. Verknallt nennt man es heute. Aber nicht in ihn als Mann, sondern als den Menschen, der mich verstand und der so war, wie er eben war. Ich verstand ihn auch, und er war dankbar dafür. Vielleicht ersetzte ich ihm den verlorenen Bruder, auf meine Art. Er hat mich nie auch nur berührt. Und am Ende jenes Sommers war er oft mit einer jungen Frau unterwegs. Sie war schön, und manchmal hielt er ihre Hand und küsste sie. Sie hatte auch eine Gitarre, und manchmal saßen sie im Wald oder am Strand und musizierten zu zweit. Ich war eifersüchtig, aber nur weil Joram weniger Zeit für mich hatte. Doch ich sah, dass er glücklich war, und im Grunde freute mich das.« Hella sah zum Fenster hinaus. »Außerdem wusste ich da schon, dass wir fortgehen würden. Mein Vater gab sein Geschäft auf, das nicht lief, und würde das seines Onkels in der Ruppiner Schweiz in Brandenburg übernehmen. Für mich brach eine Welt zusammen. Ich konnte mir nicht vorstellen, meinen Wald, meinen Strand zu verlassen. Ich sprach mit Joram darüber, und er tröstete mich.

›Bald werde ich auch fortgehen, kleine Skogsrå‹, sagte er. ›Ich ziehe weiter in den Norden, wo die Wälder größer sind und die Strände weiter und es Trolle und Elfen und Nymphen gibt, deine Seelenverwandten. Aber die Ruppiner Schweiz ist wunderschön! Du ahnst nicht, was es dort für Wälder gibt. Sie werden dich verzaubern. Ich glaube, Bäume werden immer um dich sein. Sie kennen dich.‹

›Geht deine Freundin mit dir?‹, fragte ich ihn und hoffte, dass ich nicht weinen musste. ›Wirst du sie heiraten?‹

›Violaine? Nein!‹, sagte er. ›Ich kann sie nicht mitnehmen, sie muss ihr eigenes Leben leben. Für eine Familie bin ich absolut nicht gemacht, und das habe ich ihr auch gesagt. Ich möchte dafür keine Verantwortung übernehmen. Ich konnte meinem kleinen Bruder nicht helfen, das war für mich kaum zu ertragen. Es macht mir immer noch zu schaffen. Das will ich bei eigenen Kindern nicht noch einmal erleben. Außerdem werde ich wahrscheinlich nie lange an einem Ort bleiben. Ich bin zu hungrig auf neue Küsten.‹ Er gab mir ein Taschentuch, denn nun musste ich doch weinen. ›Nicht traurig sein, Skogsrå. Wir beide hatten doch eine gute Zeit, findest du nicht? Freunde kommen und gehen, aber eine besondere Freundschaft ist etwas, das ein Leben lang eine gute Erinnerung bleiben kann. Ehe wir uns trennen, habe ich noch einen wichtigen Auftrag für dich‹, sagte er. ›Ich zeige es dir, wenn es so weit ist.‹«

»Violaine«, wiederholte Nele leise.

»Ja. Ich habe gleich gewusst, wer sie ist, als du den Namen deiner Großmutter nanntest.« Hella sah bekümmert aus, doch dann setzte sie sich wieder gerader hin. »Joram erklärte mir damals, dass die Wurzeln der Bäume die Erde zusammenhalten, dass sie es sind, die verhindern, dass der Wind den fruchtbaren Boden davonträgt.

›Und wenn du es zulässt, dann halten sie auch dich zusammen. Wenn du das Gefühl hast, dass alles in deinem Leben zusammenbricht oder auseinanderfällt, dann berühre die Wurzeln alter Bäume‹, sagte er. ›Sieh dir an, wie sie sich ausbreiten, wie sie sich festhalten.‹

Und er wusste auch, dass Bäume kommunizieren. Nicht was wir heute wissen – dass sie sich über Duftstoffe verständigen, wenn sich Schädlinge nähern. Oder dass sie unterirdische Pilzgeflechte nutzen wie wir das Internet. Das konnte Joram damals nicht wissen, aber er ahnte es.

›Glaub mir, sie unterhalten sich‹, sagte er. ›Eines Tages wird man herausfinden, wie es funktioniert. Es spielt sich nicht in Worten ab wie bei uns. Eher in der Stille und der Tiefe. Der ganze Wald ist im Gespräch. Aber nur über das Nötige, das alle weiterbringt. So was wie Auslachen oder Schimpfen kennen sie nicht.‹

›Aber der Eichelhäher schimpft, wenn wir kommen, und die Amseln auch, und das Eichhörnchen‹, wandte ich ein, und er lachte. ›Stimmt, aber sie schimpfen nicht, sie warnen die anderen nur. Die Bäume hast du aber nicht schimpfen gehört, oder?‹

Nein, das hatte ich nicht.

Seither habe ich oft an seine Worte gedacht, wenn mein Leben auseinanderzufallen drohte. Die Bäume haben mir immer geholfen. Ich hatte ein gutes Leben.« Hella fuhr sich über die Stirn. »Nur eines bedrückt mich sehr, schon lange. Und dass nun ausgerechnet du hier aufgetaucht bist, Nele, Violaines und Jorams Enkelin – damit schließt sich ein Kreis. Und darum möchte ich dich um etwas bitten, das mir außerordentlich wichtig ist.«

»Hat es mit Jorams Auftrag für dich zu tun?«, fragte Nele.

»Ja, das hat es.«

»Hella«, unterbrach Timon, »können wir das nicht morgen besprechen? Ich glaube, dass du sehr erschöpft bist. Und für Nele war das auch ganz schön viel. Sie sieht aus, als ob ihr jeden Moment die Augen zufallen.«

»Stimmt«, sagte Nele. Eigentlich war sie viel zu neugierig, aber Timon hatte recht. Hella war erschöpft.

»Aber ihr wolltet doch morgen in den Wald fahren.« Hella griff mit überraschender Kraft nach Neles Arm. »Ihr müsst das unbedingt tun! Und ich muss euch noch sagen, warum. Und wohin.«

»Es ist so spät. Wie wäre es denn, wenn Nele hier übernachtet? Im Gästezimmer?«, schlug Timon vor. »Dann können wir morgen zusammen frühstücken, und du erzählst es uns. Und danach können wir starten.«

»Aber ich hatte doch versprochen, mich um das Picknick zu kümmern«, wandte Nele ein. Der Gedanke, hier im gemütlichen Forsthaus zu bleiben, gefiel ihr jedoch insgeheim. Sie merkte jetzt erst, wie müde sie tatsächlich war.

»Das Picknick können wir gemeinsam zusammenstellen, es ist genug da.«

»Das ist eine gute Idee!« Hellas Miene heiterte sich auf. »Ja, bitte bleib, Nele!«

»Dann zeige ich Nele rasch das Zimmer, und danach helfe ich dir ins Bett.« Timon stand auf. Nele folgte ihm, blieb aber in der Tür stehen. Eines musste sie noch wissen. »Hella, die Kiefer im Garten, dort wo ich die Blume hinlegen sollte. Von der du gesagt hast, sie ist der gute Hausgeist. Hast du sie für Joram gepflanzt?«

Hella nickte. »Ja. Gleich, nachdem ich hier eingezogen bin, nach meiner Rückkehr auf den Darß. Es war das Erste, was ich getan habe.«

Das Zimmer unter dem Dach war klein und hatte zwei schräge Wände, ähnlich wie ihr Schlafzimmer im Sandregenpfeiferhaus. Wenn ich einmal ein eigenes Haus habe oder jedenfalls eine richtige Wohnung, dann soll mein Schlafzimmer schräge Wände haben, beschloss Nele. Man fühlt sich so geborgen.

Die Bettwäsche trug ein buntes Herbstblättermuster, und auf dem Tisch stand eine Vase mit Gräsern, Hagebutten und Eichenlaub, das sich gerade gelb zu färben begann. Darunter ein Teller mit Äpfeln und Trauben.

»Sieht es hier immer so aus, als ob ihr gerade Besuch erwartet?«, fragte Nele. »Oder kommt morgen jemand?«

Timon lächelte. »Es ist immer so. Manchmal kommen hier Wanderer vorbei, die zu lange vom Leuchtturm hierher unterwegs waren und den letzten Bus verpasst haben. Oder Touristen, die dachten, man findet hier jederzeit eine Unterkunft, und dann feststellen müssen, dass alles ausgebucht ist, sie es aber nicht mehr bis nach Hause schaffen. Dieses Haus zieht sie an wie Blütenstaub die Bienen. Wenn Hella die Leute mag, bietet sie ihnen für eine Nacht Obdach und lässt sie dafür eine Arbeit im Garten oder im Wald erledigen. So lernen sie noch was nebenbei, ohne es zu merken. Hella ist und bleibt eine Naturpädagogin. Die Ausbildung dafür hat sie gemacht, nachdem sie Rentnerin wurde.«

»Und vorher?« Nele setzte sich auf die Bettkante. Ein Duft stieg auf, aber sie war zu müde, um darüber nachzudenken. Sicher das Waschmittel.

»Das kannst du sie morgen selbst fragen. Dort im Bad ist eine Zahnbürste, und Handtücher sind auch da. Ich kümmere mich jetzt besser um Hella.«

»Brauchst du Hilfe?«

»Nein, wir haben unsere gewohnte Routine. Kein Problem. Gute Nacht, Nele.«

»Gute Nacht.«

Auch von hier konnte man den kreiselnden Lichtfinger des Leuchtturmes sehen, stellte sie fest. Sogar noch deutlicher. Morgen würde sie ihn vielleicht von nahem betrachten können! Bei diesem Gedanken kribbelte eine kleine Aufregung in ihr, trotz aller Müdigkeit.

Auch weil Nele bei dem Gedanken an Hellas geheimnisvolle Bitte etwas beklommen zumute war. Was, wenn sie diese Bitte nicht würde erfüllen können? Wenn sie diese besondere Frau enttäuschen würde? Und wenn es mit Vio und ihrem Großvater zu tun hatte, womöglich auch die?

Du kanntest ihn nicht, mahnte sie sich selbst. Du bist ihnen nichts schuldig.

Aber sie stehen mir nahe. Auch Joram, nach allem, was ich über ihn gehört habe. Hella hat ihn für mich so lebendig gemacht. Vio auch, mit ihrer Geschichte. Sie waren alle einmal jung, jünger als ich jetzt. Es fühlt sich an, als wären sie meine Freunde. Und als ob auch mir dieser Wald etwas zu sagen hätte.

Ihr fiel ein, wie Hella sie an jenem Tag im Wald gefragt hatte: »Hörst du das?«, und dann enttäuscht war, als Nele nicht gewusst hatte, was sie meinte. Nun wusste sie es. All das, was Hella beschrieben hatte, jenen Zauber, den Joram ihr eröffnet hatte, die Stimme des Waldes, der Wind in den Kronen, der dem Licht eine Musik hinzuzufügen schien. Fortan würde sie es auch hören, als ein verspätetes Geschenk ihres Großvaters.

Nele war froh, heute nicht allein zu sein. Sie sah dem Licht lange zu, wie es über die Baumwipfel strich und dann verblasste, weil der Mond aufging und den Wald in einen silbernen Schein tauchte, so hell, dass sie einzelne höherstehende Äste erkennen konnte. Zeigte der eine nicht die Gebärde für Okay?

»Ach, Noelie. Ich bin gespannt, wo das alles hinführt!«, sprach sie leise in die Nacht. »Wo werde ich nächstes Jahr sein, wenn die Vogelbeeren reif sind und die Blätter fallen?«

Der Wind trug ihre Worte über den Wald hinweg hinaus auf das Meer, zusammen mit ein paar goldenen Birkenblättern.