20

Träume von Grün und Gold durchzogen Neles Nacht.

Barfuß lief sie auf weichem Boden durch einen lichten Wald, erst zwischen Farnen und Gräsern, dann wechselten sich uralte Eichen und Buchen ab mit den Kiefern, durch die der Wind fuhr und etwas flüsterte, was sie doch noch nicht verstand. Wenn sie lange genug zuhörte, dann, ja dann würde das Rauschen zu Worten werden, da war sie sich sicher. Aber sie hatte ja Zeit, es gab keine Eile hier, alles war ihr freundlich gesinnt. Vom Boden stieg Duft auf, jeder Schritt, den sie tat, verstärkte ihn. Er trug sie sanft, wie ein Kissen, fast hatte sie den Eindruck, darauf zu schweben …

Sie wachte von dem Lied einer Amsel vor dem Fenster auf, die den Morgen begrüßte, aber das wohlige Gefühl verschwand nicht gleich mit dem Traum. Auch der Duft war noch da. Erst als sie richtig wach wurde, bemerkte sie, dass dieser Geruch nach Wald und Kiefern gar nicht aus dem Traum kam. Er stieg aus der Matratze, auf der sie lag, und auch aus der Decke. Nele steckte die Nase tief in das Kissen. Ja, auch darin war er. Sie musste Hella unbedingt nach diesem Waschmittel fragen! In diesem Duft wollte sie am liebsten für immer schlafen. Bestimmt würde das auch Vio gefallen.

Als sie hinunterging, hatte Timon schon den Frühstückstisch gedeckt. Hella saß bereits dort, und Timon geleitete gerade Quentin auf seinen Stuhl.

»Guten Morgen, Nele. Gut geschlafen?«, fragte Hella.

»Was für eine nette Gesellschaft zum Tagesbeginn«, bemerkte Quentin zufrieden. »Nele, ich habe von deiner Musik geträumt!«

Unter diesem Dach schienen jede Menge freundliche Träume unterwegs zu sein, dachte Nele.

»Ja, ich habe wunderbar geschlafen. Hella, würdest du mir verraten, womit ihr eure Wäsche wascht? Dieser Duft ist einfach himmlisch.«

Hella lächelte. »Das kommt von keinem Waschmittel.«

»Das ist Hellas persönlicher Zauber«, verkündete Quentin. »Ich freue mich auch jeden Abend darauf, wenn ich ins Bett gehe.«

»Setz dich doch, Nele.« Timon schob ihr einen Stuhl zurecht. »Vollkornbrot oder Brötchen?«

»Brötchen«, entschied Nele. An so einem schönen Morgen passte das einfach besser. Ihr war danach zumute, das Leben zu feiern. So kannte sie sich gar nicht, schon lange nicht mehr. Die Sonne fiel ins Zimmer und ließ Quentins und Hellas weiße Haare aufleuchten, und die Tischdecke, die mit einem feinen Farnmuster bestickt war. »Verratet ihr mir, was Hellas Zauber ist?« Nele griff mit Appetit nach einem Sesambrötchen.

»Natürlich kein Zauber, jedenfalls nicht meiner«, erklärte Hella. »In der Matratze, den Kissen und Decken ist Waldwolle das Füllmaterial, statt Federn oder dergleichen. Du riechst die ätherischen Öle darin. Man wusste schon vor hundertfünfzig Jahren, dass das bei Gicht und Rheuma eine wohltuende Wirkung hat. Aber es hilft auch bei Schlafproblemen, Nervosität, Erkältung, Erschöpfung und ist überhaupt einfach wohltuend.«

»Vielleicht hast du auf Weihnachtsmärkten oder anderswo schon diese kleinen Kissen gesehen, die mit Zirbenholzspänen gefüllt sind«, sagte Timon. »Das entdeckt man gerade wieder. Die sind auch prima. Aber an Hellas Waldwolle kommen deren Wirkung und vor allem deren Duft nicht ran.«

»Es handelt sich ja um ein ganz anderes Herstellungsverfahren«, sagte Hella. »Die Waldwolle ist eine sehr alte Methode. Sie wird nicht aus Holz gemacht, sondern aus frischen Kiefernnadeln.«

»Wie geht das mit der Herstellung?«, fragte Nele fasziniert. Davon hatte sie noch nie gehört. »Und verkaufst du sie?«

Hella betrachtete sie amüsiert. »Eher nicht. Es ist aufwendig. Aber für gute Freunde und liebe Menschen ist immer welche übrig. Für dich ließe sich da etwas machen, wenn Timon hilft. Ich habe noch Vorräte. Er kann dir auch meine Werkstatt zeigen. Aber es wäre mir lieb, wenn ihr euch erst um die andere Angelegenheit kümmert.«

»Natürlich!«, beeilte sich Nele zu versichern. »Verrätst du uns, worum es geht?«

»Nach dem Frühstück«, sagte Timon bestimmt. »Reden und essen ist nicht gut. Da verschluckt sie sich zu leicht.«

Hella lächelte. »Ich werde zum ersten Mal in meinem Leben bemuttert, und das von einem jungen Kerl! Aber er hat recht. Außerdem ist sein Frühstück es wert, genossen zu werden.«

Das stimmte. Die Brötchen waren frisch. Das Sanddorn-Birnen-Gelee schmeckte himmlisch. Das Rührei auch.

»Machst du dir immer so viel Arbeit?«, fragte Nele.

»Nur wenn Besuch da ist«, meinte Timon.

»Stimmt nicht, er verwöhnt uns immer«, widersprach Quentin. »Er wird mir fehlen, wenn er weiterzieht.«

»Vorerst bin ich ja hier. Noch ein Brötchen?«

»Gerne.« Quentin tastete im Brotkorb nach einem Mohnhörnchen. »Ja, aber du wirst nicht bleiben. Nicht hier. Jedenfalls noch nicht.«

Timon warf Nele einen Blick zu und zuckte mit den Schultern. »Manchmal wird Quentin zum Hellseher. Glaubt er.«

»Ich weiß, was ich weiß«, sagte Quentin seelenruhig. »Ich war auch mal jung und hatte Liebeskummer.«

Timon wurde rot. Nele fand das anrührend. Er wirkte wie ein Schuljunge, den man bei etwas ertappt hatte.

»Damals hätte ich nie gedacht, dass ich noch einmal so glücklich werde. Und das mit beinahe achtzig«, fuhr Quentin fort und griff nach Hellas Hand.

»Wollen wir draußen sitzen? Es ist mild«, schlug Timon vor, als sie abgeräumt hatten. Tatsächlich war es erstaunlich warm, obwohl es noch früh am Tag war. Tau glitzerte im Gras und Spinnweben in den Astern, als sie auf die Terrasse gingen. Nele half Timon, Kissen auf den Stühlen zu verteilen. Boreas stolzierte über die Wiese und startete dann in den Himmel, wahrscheinlich auf dem Weg zu irgendeinem Feld, auf dem es noch etwas zu holen gab.

Als Hella zu reden anfing, war Nele, als ob die Kiefer sich etwas herniederbeugte, um besser zu hören. Aber es war sicher nur der Wind, der die Äste niederdrückte.

»In jenem letzten Jahr meiner Kindheit auf dem Darß war ich einmal allein am Strand unterwegs. Ein Sturm hatte große Haufen Seetang auf den Weststrand geworfen, und ich suchte nach Muscheln und Steinen für meine Sammlung. Der Wind war immer noch heftig. Ich habe das schon immer geliebt. Je stürmischer, desto besser. Dann hörte ich einen seltsamen Ton, einen, der mir bis ins Innerste fuhr. Er war melodisch und doch auch wieder nicht, so wild und geheimnisvoll. Er wurde mal lauter, mal leiser, wie die Wellen, mal tiefer, mal höher, wie die Möwen im Flug. Ich lauschte gebannt, und dann wollte ich wissen, woher er kam. Ein Tier, dachte ich erst. Kein Vogel – eine Robbe vielleicht, oder ein verletzter Hirsch? Ich lief in die Richtung, aus der der Ton kam, doch er narrte mich. Mal schien ich mich zu entfernen, dann wieder war er ganz nahe. Geräusche am oder auf dem Wasser sind eigenartig. Es trägt sie weit oder verschluckt sie ganz. Dann dachte ich, nein, ein Tier ist es nicht. Ein Baum vielleicht, der sich an einem anderen reibt? Aber ich war ja unten am Strand und der Wald weiter oben. Schließlich fand ich heraus, woher der Ton kam. Der Wind hatte ein Stück Treibholz an den Strand geworfen, oder vielleicht lag es schon länger da, und der Winter hatte es ausgehöhlt und poliert. Es war ein dicker, hohler Ast, der schräg im Sand steckte. Der Wind fuhr darüber hinweg und benutzte ihn als Klangkörper, so wie man in eine leere Flasche blasen kann. Ich legte mich daneben, schloss die Augen und lauschte. Ich vergaß die Zeit, und als ich die Augen wieder öffnete, stand Joram da und sah auf mich herunter, mit einem merkwürdigen Ausdruck. ›Du siehst so glücklich aus‹, sagte er.

Ich setzte mich auf. ›Es ist diese Windmusik in dem Holz‹, sagte ich. ›Es fühlte sich an, als ob ich auf dem Ton fliegen konnte! Und als ob er mich tief innen drin ganz warm macht.‹ Zu Joram konnte ich so etwas sagen. Er war der Einzige, der es verstand und der so fühlte wie ich.

Er hockte sich neben mich, spähte in den hohlen Ast und legte die Hände darum. Das veränderte den Ton. ›Ja! Ich habe es kürzlich schon einmal gehört. Der Klang spricht von allen Geheimnissen des Waldes und der See‹, meinte er nachdenklich. ›Es verleiht ihnen eine Stimme. Das Holz ist tot und doch lebendig. Spürst du, wie es vibriert?‹ Ich legte meine Hände neben seine, und zusammen veränderten wir den Ton noch mehr. Ja, ich spürte es! Die Geheimnisse, die Lebendigkeit … Es war so klar, so tief, so einfach und so groß. Als ob in diesem Ton alles enthalten war, was ich an diesem Strand erlebt hatte, wo sich das Meer und der Wald an ihren Rändern trafen wie Tag und Nacht, wie Heute und Morgen.

Joram sagte an jenem Tag nichts mehr dazu. Wir lauschten noch eine Weile, dann gingen wir weiter und kümmerten uns um einen Baum, dessen Wurzeln der Sturm freigelegt hatte und dem wir zu Hilfe kommen wollten.

Ich ging noch manches Mal dorthin, aber es gab nicht immer genug Wind, um den Ton zu wecken, der darin schlief, und bald hatte der Sand das Holz ganz verschüttet. Aber Joram wäre nicht Joram gewesen, wenn ihn die Entdeckung nicht auf eine Idee gebracht hätte. Er war bei weitem noch nicht der Künstler, der er später wurde, der einzigartige Möbel aus Treibholz baute oder Reliefs zusammensetzte. Doch er fertigte bereits Schalen und kleine Skulpturen oder Anhänger aus Wurzelholz. In diesem Herbst, bevor er den Darß verließ, schmiedete er einen Plan für etwas Größeres. Seine drei Freunde sollten ihm dabei helfen. Er berichtete mir davon.

›Sie werden alle fortgehen, bevor das Jahr um ist‹, sagte er. ›Der eine wird wohl studieren, der andere heiraten, einer ins Ausland ziehen. Ich will, dass sie und ich uns gemeinsam ein geheimes Denkmal setzen für unsere Jugendzeit hier. Und du hast mich auf den richtigen Einfall gebracht!‹

›Ich?‹

›Ja, Skogsrå. Es war der Ausdruck in deinem Gesicht, als dich dieser Ton verzückt hat, den der Wind aus dem Holz lockte. Violaine hat der Ton auch gefallen, sie war genauso fasziniert davon, aber du hast mir gezeigt, was er bedeutet. Du bist noch so jung, dass man sehen kann, was du fühlst. Ich möchte etwas hinterlassen, das die Menschen für Augenblicke glücklich macht, so dass sie innerlich wieder Kind werden und mit Geist und Seele fliegen können wie die Möwen. Weißt du, was eine Windharfe ist?‹

Ich schüttelte den Kopf. Davon hatte ich noch nie etwas gehört.

›Man nennt es auch Äolsharfe, nach Äolus, dem Herrscher des Windes in der griechischen Mythologie‹, erklärte er. ›Das ist ein Instrument, auf dem der Wind spielt. So ähnlich wie bei deinem hohlen Ast. Der Wind ist wichtig, für den Wald und für das Meer. Beides ist undenkbar ohne ihn. Es gäbe keine Wellen, kein Rauschen, keinen Samenflug. Der Wind formt die Küste, und den Wald auch. Denk nur daran, wie er die Kiefern so krumm wachsen lässt, dass man sie Windflüchter nennt. Wie er die alten Bäume umstürzt und den jungen Platz macht und wie er im Herbst die Blätter von den Ästen nimmt. Er ist die Stimme dieser Landschaft. Denn das zweistimmige Rauschen von Brandung und Wald ist die perfekte Melodie, die uns Frieden gibt und zugleich in Bewegung bringt. Sie fließt durch Geist und Seele wie das Blut in den Adern, eine Melodie wie das Leben selbst, wenn es im Einklang mit sich und voller Energie ist.‹«

»Das hat er genauso auch zu Vio gesagt. Es steht auf ihrem Schild im Geschichtengarten«, sagte Nele leise.

Hella nickte. »Ja. Das bewegte ihn. ›Vor allem gibt es seelische Verbindungen zwischen dem Wind und den Menschen. Der wohltuende laue Frühlingswind, die erfrischende Brise, den Aufwind, Wind in den Haaren, das geheimnisvolle Raunen, Rückenwind, Papierflieger, das Betrachten ziehender Wolken. Fernweh, Freiheit, Aufbruch, Heimkehr und die Sehnsucht, mit den Zugvögeln zu fliegen. Von all dem soll die Windharfe singen!‹, verkündete er. ›Ich habe so was noch nie gemacht, aber ich war in der Bibliothek. Es gibt viele Möglichkeiten, eine zu bauen‹.

Ich sah das Leuchten in seinen Augen, während er sprach. Da wusste ich, wie sehr ich ihn vermissen würde, Joram und diese Leidenschaft, die in ihm brannte, die Küste, meinen Wald und meinen Strand, alles. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich woanders glücklich werden würde. Aber ich würde mich erinnern, wie es war, wenn man mit der Seele fliegen konnte wie die Möwen. Und es würde immer und überall einen Baum geben, mit dem ich sprechen konnte.

›Wir werden sie in der Kiefer bauen‹, sagte er. ›Der erste Baum, in den du geklettert bist, weißt du noch? Unter dieser Kiefer habe ich mich auch oft mit Violaine verabredet. Dort habe ich Trost gefunden, wenn ich welchen brauchte. Dort habe ich Entscheidungen getroffen. Es ist genau der richtige Platz. Sie steht im Schutz des Waldes, versteckt zwischen ihren Artgenossen und doch nahe genug am Strand, um das Meer sehen zu können. In diesem Baum werden meine Freunde und ich eine Windharfe konstruieren, eine ganz besondere. Ich möchte, dass du den Ort meidest, bis wir fertig sind. Ich will sie dir erst zeigen, wenn sie vollendet ist, und dann werde ich eine Bitte an dich haben. Geht das in Ordnung?‹

Ich nickte, was sollte ich sonst tun? Ich fühlte mich ausgeschlossen und geehrt zugleich. Außerdem musste ich mich daran gewöhnen, dass sich unsere Wege bald trennten und ich wieder allein sein würde.

Doch ich war kein kleines Kind mehr. Und ich hatte die Bäume. Ich wusste inzwischen, dass es keine Schwäche war, dass sie mir so viel bedeuteten und zu geben hatten. Jetzt machte es mich stark. Das hatte ich Joram zu verdanken.« Hella schwieg und lächelte vor sich hin.

Quentin spielte mit einem feuerroten Weinblatt, das ihm der Wind in den Schoß geweht hatte. Er hielt es gegen die Sonne, ganz dicht vor seine Augen. Nele hoffte, dass er die Farbe noch erkennen konnte, selbst wenn sie unscharf sein mochte. Sie selbst nahm das filigrane Netz aus zarten Adern, das es durchzog, zum ersten Mal so genau wahr. Wie ein kleines gläsernes Kirchenfenster leuchtete es im Gegenlicht. Was für ein Wunderwerk, und jedes Jahr entsteht es neu, dachte Nele. Auch das hatte bei der Gestaltung ihrer Kulissen keine Rolle gespielt. Sie hatte die Blätter vernachlässigt, sie waren, wenn überhaupt vorhanden, einförmig grün gewesen und hatten zwar eine – eher beliebige als naturgetreue – Form besessen, aber niemals eine Zeichnung. Im Stillen entschuldigte sie sich dafür, bei den Bäumen und bei der Evolution, die all die verblüffende feine Vielfalt entstehen ließ.

»Und? Hat er sie gebaut? Die Windharfe?«, fragte Timon und riss damit sowohl Hella als auch Nele aus ihren Gedanken. Er sah unauffällig auf die Uhr. Richtig, sie wollten ja noch den Ausflug machen. Das hatte Nele ganz vergessen.