Hella, die aussah, als lausche sie Tönen, die nur sie allein hörte, kehrte in die Gegenwart zurück.
»Ja, das hat er. Es war bereits weit im November, als die vier Männer damit fertig wurden. Jene Woche, in der die Farben des Herbstes oft ihren Höhepunkt erreichen. Die meisten Menschen denken, im November ist alles Schöne vorbei. Joram und ich wussten es besser. Das Leuchten der gelben und roten Blätter, kurz bevor sie fallen, vor dem Hintergrund eines schweren grauen Himmels, ist unvergleichlich. Ein Rausch, ein Zauber, vergänglich, glückselig, so intensiv und grandios und melancholisch schön, dass einem die Tränen kommen, wenn man mitten drinsteht. Der Wind lässt das Gold um einen herumwirbeln, dass man mittanzen möchte und sich leicht fühlt. Das ist der wahre Reichtum, genau dieses Gold, und es kostet nicht einmal etwas.«
»Uns musst du nicht überzeugen, Hella«, sagte Quentin zärtlich.
»Ein Glück.« Sie lehnte sich zu ihm hin und küsste ihn. »So ein Tag war es jedenfalls, als Joram mich am Weststrand suchte. Ich war dort nun viel unterwegs, um noch mehr Steine zu sammeln und Muscheln, die mich an meine alte Heimat erinnern würden, wenn ich fort war. Ich klammerte mich an diesen Gedanken. Dabei begegnete ich einer großen Frau, die tief im Wasser stand und mir etwas unheimlich vorkam. Sie sagte, sie hieße Myra, und schenkte mir einen Bernstein, den sie mit einem Netz aus den Wellen fischte. ›Du siehst traurig aus, Mädchen‹, sagte sie. ›Wenn du traurig bist, sieh in diesen Bernstein. Darin ist immer Licht und Gold aus einem uralten Wald. Den Wald gibt es nicht mehr, aber das Licht bleibt immer jung und lebendig.‹ Ich bewunderte den Bernstein und steckte ihn ein, und als ich wieder aufblickte, war sie bereits nur noch klein in der Ferne zu sehen. Ich habe den Bernstein immer noch. Er hat mich oft aufgeheitert«, sagte Hella. »Und er erinnert mich an diesen Tag. Denn wenig später kam mir Joram entgegen. Ich sah schon von weitem an seiner gespannten Haltung, dass er aufgeregt war.
›Wir sind fertig!‹, verkündete er. ›Meine Freunde sind schon gegangen, und heute stimmt der Wind. Jetzt möchte ich dir zeigen, was wir geschaffen haben!‹ Ich folgte ihm zu der Kiefer. Wir waren noch nicht ganz dort, da hörte ich ein unbekanntes Geräusch. Es klang ein wenig wie Gitarre und ein wenig wie jener Ton im hohlen Treibholz damals, aber doch sehr eigen und anders und viel größer. Es waren mehrere Töne, die ineinandergriffen, meist harmonisch, nur manchmal etwas schräg. Sie wechselten dabei in der Lautstärke und in der Höhe. Mal flüsterten sie leise, mal klangen sie tief, ruhig und geheimnisvoll, dann wieder hoch und drängend. Es hatte wenig mit der Entfernung zu tun, wurde nicht lauter, als wir uns näherten, sondern änderte sich mit dem Wind, der mal sanft, mal böig durch die Baumkronen fuhr.
Dann standen wir unter der Kiefer. ›Kannst du etwas sehen?‹, fragte Joram.
Ich spähte hinauf. ›Nein. Es sieht alles aus wie immer.‹
›Das ist gut!‹, sagte er zufrieden. ›Sehr gut. Ich möchte, dass niemand herausfindet, wo die Töne herkommen. Menschen neigen dazu, vieles zu zerstören. Das bleibt unser Geheimnis. Die meisten werden es gar nicht wahrnehmen oder aber denken, es ist eben der Wind in den Bäumen, vielleicht auch ein Spiel der Brandung mit den Steinen oder im Treibholz. Es wird sowieso meist zu leise sein. Nur wenn der Wind stark genug ist, wird es lauter. Aber egal wie bescheiden es auch ist, es wird von uns erzählen und von unserer Freude an all diesen Wundern singen, und die Bäume werden es hören und verstehen, selbst wenn wir nicht mehr da sind. Lass uns noch einmal hinaufklettern, dann zeige ich dir, wie wir es gemacht haben.‹ Timon, würdest du mir bitte das Buch holen, das drinnen auf dem Wohnzimmertisch liegt?«, unterbrach sich Hella.
Nele hob ein Kissen auf, das Quentin heruntergefallen war, und legte es ihm wieder in den Rücken, da war Timon schon wieder zurück und reichte Hella das Buch. Sie nahm ein vergilbtes Stück Papier heraus.
»Ich habe es damals aufgezeichnet. Die Harfe funktionierte nach dem Prinzip, das einst ein Instrumentenbauer namens Peter Melhop konstruiert hatte. Es wird ein flacher Holztrichter gebaut, der sich hinten nochmals erweitert. Der Wind fährt in den Trichter, und der Luftstrom wird so zusammengedrückt und dann beschleunigt. An die Stelle, wo er sich wieder weitet und der Luftdruck abnimmt, werden fünf Saiten gespannt. Jede Saite wird von einem anderen Winddruck in Schwingung versetzt, die sich auf die Resonanzdecke des Klangkörpers überträgt. Gar nicht so anders als bei einer Gitarre, nur dass der Wind darauf spielt und keine menschliche Hand.«
Timon und Nele beugten sich über die Zeichnung. »Ich habe die Äste nicht so dick und dicht gemalt, wie sie waren, damit man die Holztrichter erkennt, die man in Wirklichkeit von unten im Geäst nicht sehen kann«, erklärte Hella.
»Es sind mehrere«, stellte Timon fest.
»Ja. Vier. Jeder der Männer hat einen gebaut. Für jede Windrichtung eine. Joram saß da oben rittlings auf einem Ast und ich auf einem anderen, und er erzählte mir noch mehr aus der griechischen Mythologie, die ihn so faszinierte, nämlich von den Anemoi.«
»Anemoi.« Nele wiederholte das Wort. Es klang selbst wie ein Wind, fand sie, ein lauer Abendwind oder eine sanfte Frühlingsbrise.
»Die Anemoi waren Götter des Windes in Menschengestalt, welche die verschiedenen Winde symbolisierten. Man hielt sie für Kinder von Astraios, dem Gott der Abenddämmerung, und Eos, der Göttin der Morgenröte.«
Das wäre ein wunderbares Thema für ein Theaterstück, ging es Nele durch den Kopf. Sie sah bereits die Kulisse vor sich, der beste und lebendigste Wald, den sie je dargestellt hatte, mit dem Meer im Hintergrund. Und die Kostüme. Astraios, mit einem dunklen, abendblauen Gewand und Sternen. Eos, in Apricot und Silberblau und goldgelb. Teddy könnte Eos spielen, es bräuchte für diese beiden Schauspieler mit einer imposanten Figur. Die Kinder konnten die Winde sein, und es gab ja noch die Wolkenkostüme, die man nur geringfügig ändern müsste …
Sie ärgerte sich über sich selbst. Hier ging es doch um etwas ganz anderes. Es gefiel ihr nicht, dass sie alles innerlich beinahe automatisch in ein Theaterstück verwandelte. Das Leben war doch echt! Es hatte sich noch nie so wirklich angefühlt wie seit dem Moment, als sie Vios Baum in den Geschichtengarten gepflanzt hatte.
Vielleicht brauchte sie eine viel längere Auszeit vom Theater. Vielleicht wäre es besser für sie, zur Abwechslung etwas ganz anderes zu machen?
»Der Name des Nordwindes ist Boreas«, fuhr Hella fort. »Auf alten Abbildungen wurde er als Mann mit einem Mantel dargestellt, der in eine Muschel bläst und die kalte Winterluft bringt. Das war Jorams Lieblingswind. Er hatte den Holztrichter gebaut, der den Nordwind auffing und ihm in der Kiefer eine Stimme gab. Dorthin würde Joram nun selbst gehen, nach Norden.«
»Ah. Darum heißt der Kranich also Boreas«, begriff Nele, mit einem Schlag wieder ganz auf Hellas Erzählung konzentriert.
Hella lächelte. »Ja. Es passte. Der Kranich wird zwar bald in den Süden fliegen, aber wenn der Frühling wiederkehrt, zieht es ihn wieder zu uns in den Norden. Außerdem wehte der Nordwind an dem Tag, als er uns gebracht wurde, damit wir ihn aufziehen.«
»Wie heißen die anderen Anemoi?«, wollte Timon wissen. Er studierte immer noch die Zeichnung.
»Zephyros, der Westwind, der den Frühling mit seinen sanften Brisen bringt, ein Junge, der ein mit Blumen gefülltes Tuch trägt. Dann Notos, der Südwind, der den Sommer mit seinen Gewittern bringt, ein Mann, der eine Kanne entleert«, zählte Hella auf. »Und schließlich Apheliotes, der Ostwind, ein Jugendlicher, der Getreide und Früchte trägt. Der Wind in den Trichtern sang ein Lied von alledem, vom Leben und Vergehen, von Sehnsucht und Hoffnung, von Liebe zwischen Menschen und Liebe zum Land, mit dem Wellenrauschen und dem Rauschen des Waldes als zweistimmigem Chor im Hintergrund. So hatte Joram sich das vorgestellt, und so war es nun. Wir saßen da oben und lauschten und waren uns dabei nahe wie noch nie. Violaine hatte den Darß schon verlassen. Sie musste dem Plan ihrer Ausbildung folgen. Joram und sie hatten sich geliebt, aber sie hatten Worte gebraucht, um sich zu verstehen. Er und ich waren anders verbunden. Wir brauchten die Worte nicht. Es war wie die Wurzeln unter der Erde, stumm und tief.
Keiner von uns wollte, dass der Augenblick endete. Als wir schließlich nach einer langen Weile wieder unter dem Baum standen, stellte ich fest, wie leise die Töne von hier unten waren. Man musste gut hinhören. Ein Fremder würde sie vielleicht gar nicht bemerken.
›Das mag sein, aber sie werden ihn berühren, ohne dass er es merkt‹, sagte Joram auf meinen Einwand hin.
›Was ist denn nun der Auftrag, den du für mich hast?‹, fragte ich ihn.
›Lass uns an den Strand gehen‹, sagte er.
Dort saßen wir eine Weile auf einem Baumstamm und sahen den Wellen zu. Das war so beruhigend. Ich glaube, es half ihm, seine Bitte zu formulieren.
›Der Wald ist auch ein Meer‹, sagte Joram. ›Ein grünes, großes, ebenso voller Lebewesen wie das Wasser. Er ist so viel stärker, als es ein Baum allein wäre. Das Meer und der Wald, sie unterhalten sich an der Küste, weil sie sich ähnlich sind und dieselbe Sprache sprechen, das Rauschen. Und du und ich, wir haben das Glück, etwas davon zu verstehen. Vergiss das nicht, wenn du dich einsam fühlst. Du bist auch immer ein Teil von etwas, aber anders als ein Baum kannst du dir aussuchen, wovon. Und wenn du das Rauschen hörst, dann bist du an einem Ort, wo deine Sehnsucht Luft zum Atmen hat, wie auch immer sie aussieht.‹
›Ich werde es versuchen‹, sagte ich zaghaft.
›Morgen werde ich Richtung Dänemark fortgehen‹, verkündete er schließlich.
›Morgen schon?‹ Ich war nicht überrascht, aber es tat weh. In diesem Augenblick fühlte ich mich bodenlos einsam. Es war das endgültige Ende einer Zeit. Ich konnte förmlich spüren, wie ich erwachsen wurde.
›Ja‹, sagte er. ›Und ich möchte dich bitten, dafür zu sorgen, dass die Windharfe weitersingt, wenn ich es einmal nicht mehr kann. Sie soll nicht nur an uns alle erinnern, an meine Freunde und an mich, an Violaine und dich. Aber noch wichtiger ist: Solange sie singt, wird es dem Wald gut gehen, weil man seine Stimme hört und diese leise, langsame Musik ein Band schmiedet zwischen den Menschen und ihm, auch wenn es wohl kaum jemandem bewusst sein wird. Doch irgendwann wird sie verstummen, und es wird wieder eine Zeit kommen, da es dem Wald schlechter gehen wird und die Menschen nicht mehr auf ihn achten.‹ Joram wandte sich zu mir und nahm meine Hände. ›Dann ist es wichtig, dass sie wieder zum Klingen gebracht wird. Wirst du dafür sorgen?‹
›Aber ich gehe doch auch fort!‹, widersprach ich, ratlos, wie ich tun sollte, was er verlangte.
›Ich weiß. Wir haben solides Holz verwendet und es gründlich geölt, und es wurde wasserfester Leim benutzt. Für die nächsten Jahre wird alles in Ordnung sein. Danach werde ich hin und wieder vorbeischauen und mich um die Wartung kümmern, jedoch nur vorübergehend. Du aber wirst eines Tages wiederkehren, um zu bleiben.‹
›Woher willst du das wissen?‹ Ich wollte ihm so gern glauben. Der Gedanke war tröstlich.
›Weil du bist, wie du bist. Deine Wurzeln hier gehen tief. Ich kenne dich, Skogsrå. Du wirst mich aller Wahrscheinlichkeit nach überleben. Ich wünsche mir, dass du dann dafür sorgst, dass die Windharfe weitersingen kann, solange wie möglich und solange die Kiefer steht.‹
›Wie alt werden Kiefern?‹, fragte ich.
›Achthundert bis tausend Jahre können sie an manchen Orten werden, wenn die Bedingungen stimmen und ihnen nichts zustößt. Unsere hier wird nicht so lange stehen, schon weil das Meer an der Küste nagt, aber ich denke, sie wird uns beide überleben. So leicht kommst du also nicht davon.‹ Er blickte mich mit seinem seltenen Lächeln an, und ich wusste, ich würde ihm alles versprechen. ›In China betrachtet man die Kiefer als Symbol für ein langes Leben, Beständigkeit und Selbstdisziplin‹, sagte er. ›In Korea glauben sie, dass Kiefern die Seelen der Verstorbenen in den Himmel führen, weil sie so aufrecht stehen und ihre Wipfel manchmal im Nebel hängen, so dass sie bis in die Wolken zu reichen scheinen. Aber sie bringen auch den Lebenden Glück, denn die Nadeln, die immer paarweise wachsen, stehen für die glückliche Zweisamkeit einer Beziehung. Ich hoffe, du wirst auch einmal glücklich, Skogsrå. Bleib dir selbst treu! Lass die anderen über dich lachen, wenn sie wollen. Das schmälert den Zauber nicht, den du kennst. Apropos Zauber. Da ist noch etwas, was du wissen musst.‹
›Was?‹, fragte ich. Ich konnte alle Hinweise brauchen, die er mir gab, denn ich war nicht musikalisch und auch nicht handwerklich begabt. Wie ich seinen Wunsch erfüllen sollte, war mir ein Rätsel, auch wenn das noch in beruhigend weiter Ferne lag.
›Hör gut zu. Wenn die Harfe eines Tages verstummt und du lässt sie reparieren, und wenn dann die Melodie in einigen Teilen dennoch nicht erklingt und die Saiten keinen Ton von sich geben, dann hat das einen Grund. Wenn es der Teil ist, der dem Nordwind gewidmet ist, dann muss meine Geschichte erzählt werden, weil sie vergessen worden ist. Dasselbe gilt für die anderen drei Trichter. Wenn von ihnen einer stumm bleibt, ist die Geschichte von demjenigen meiner Freunde vergessen worden, der ihn gebaut hat, und sie muss gefunden werden. Das ist das, was wir einander versprochen haben, bevor wir auseinandergingen, ein jeder in seine Richtung.‹ Er beugte sich vor und legte mir eine Hand auf das Knie. ›Geschichten haben eine Macht, sie sind das, was unser Leben zusammenhält und uns daran erinnert, dass wir Menschen sind. Der Baum war unser Zeuge. Er wird den Wind erst wieder ganz zwischen seine Zweige lassen, wenn diese Bedingung erfüllt ist. Aber das ist noch lange hin. Wir alle stehen erst am Anfang.‹ Er drückte meine Hände, und ich war beruhigt, doch das verflog, als er anfügte: ›Du bist jetzt die Einzige außer uns und der Kiefer, die das Geheimnis kennt. Bei einer Skogsrå ist es am besten aufgehoben, findest du nicht?‹
Ich fand die Geschichte schön, die er sich da ausgedacht hatte, um mich zu überzeugen, aber sie wäre nicht nötig gewesen. Er hatte eben noch mehr Phantasie als ich, schließlich war er Künstler. Ich war für so was dann doch schon zu erwachsen. Auch ohne solche Märchen hätte ich ihn nicht vergessen, und wenn er mich bat, auf die Windharfe aufzupassen, dann würde ich das natürlich tun, soweit es mir möglich war. Ich war zugleich stolz und voller Zweifel, ob ich an dieser Verpflichtung nicht zu schwer tragen würde. Doch ich war ihm etwas schuldig. Er hatte mir so viel gegeben.« Hella hob den Blick und sah Nele an, und ihr Blick war klar wie der eines jungen Mädchens.
»Er hat recht behalten. Ich bin zurückgekehrt, und er ist schon lange tot. Zunächst habe ich getan, was ich ihm versprochen habe, aber nun bin ich mittlerweile zu alt, um seine Bitte noch weiterzuerfüllen. Das belastet mich seit Jahren sehr. Die Harfe ist längst verstummt. Ich finde keinen Frieden. Ich wollte Timon fragen, ob er sich um die Reparatur kümmert, doch ich merkte, dass er zwar handwerklich geschickt, aber in keiner Weise musikalisch ist. Und nun kommst du, Nele, und erzählst mir vom Geschichtengarten, und es erinnert mich an die Macht der Geschichten. Du bist Jorams Enkelin, und du spielst Gitarre und kannst Saiten stimmen. Das ist kein Zufall. Das ist die Lösung!«