»Wie meinst du das?«, fragte Nele verwirrt. Timon sah nachdenklich aus.
»Ich meine, dass ihr beide zusammen die Harfe reparieren könnt!«
»Hella, aber weißt du denn, ob sie überhaupt noch existiert?«, fragte Timon vorsichtig. »Das ist doch nun weit über ein halbes Jahrhundert her. Der Baum muss mächtig gewachsen sein. Holz verwittert. Leim auch und Saiten sowieso. Das hat doch unmöglich so lange gehalten.«
»Ich sagte doch, ganz so lange her ist es nicht«, erwiderte Hella. »Ich weiß, dass Joram eine Weile vor seinem Tod hierher zurückgekommen ist. Er muss mit irgendwem oben gewesen sein, denn als ich vor fünfzehn Jahren wieder herkam, konnte ich die Harfe noch hören. Sie war verstimmt, aber der Klang war noch da. Ich habe damals einen jungen Forstpraktikanten gekannt, aus Kanada. Ich habe ihn hinaufgeschickt, und er hat das Holz geölt und etwas Leim und ein paar Nägel und Saiten erneuert. Er spielte auch Gitarre. Aber dann ging er zurück nach Kanada. Seither habe ich niemanden getroffen, dem ich vertraut oder der es gekonnt hätte. Ich habe sie noch einige Jahre gehört, aber dann verstummte sie nach und nach, und seither liegt mir das unerfüllte Versprechen auf der Seele. Ich habe das Gefühl, Joram verraten zu haben. Ihr würdet mir wirklich eine sehr große Last abnehmen, wenn ihr euch darum kümmern könntet.«
»Bitte!«, sagte Quentin leise. Es war die Art, wie er dieses eine Wort sprach. Nele wusste, dass sie Hellas Wunsch erfüllen musste. Sie wechselte einen Blick mit Timon und sah, dass er dasselbe dachte. »Die Kiefer muss seit damals aber wirklich gewachsen sein«, sagte er.
Hella nickte. »Joram hatte das mit einberechnet. Sie haben die Teile so befestigt, dass sie dabei nicht auseinandergerissen werden. Ihr werdet allerdings eine lange Leiter brauchen. Von den unteren Ästen sind etliche verlorengegangen.«
»Wann warst du das letzte Mal dort?«, fragte Nele.
»Vor fünf Jahren. Danach habe ich es nicht mehr geschafft. So weit kann man auch mit der Kutsche nicht fahren, auch nicht mit Sondergenehmigung. Die Kiefer steht ja abseits vom Weg, man muss durch viel Sand und Riegen …«
»Das musst du erklären, Hella. Der Darßer Urwald ist geprägt von sogenannten Reffen, das sind Wälle, auf denen die Kiefern, Steileichen und Rotbuchen wachsen, und Riegen, das sind die sumpfigen Niederungen, wo Erlen gedeihen«, ergänzte Quentin.
»Bist du sicher, dass der Baum noch steht?«, fragte Timon. »Und würden wir ihn finden?«
»Ich weiß nicht, ob er noch steht«, sagte Hella. »Aber damals sah er sehr gesund aus. Ich weiß, wir hatten sehr trockene Sommer. Aber Kiefern halten so viel aus. Ich bitte euch, es herauszufinden. Seht es euch wenigstens an! Dreh bitte mal das Blatt um.«
Timon tat es. Nele blickte über seine Schulter. »Ist das die Küstenlinie?«, fragte Timon.
»Ja, so habe ich es damals aus einer Seekarte abgezeichnet. Der Baum ist da, wo das Kreuz ist.«
Timon rief eine Karte auf seinem Handy auf und verglich die Küste des Weststrands mit der alten Bleistiftzeichnung. »Der Verlauf hat sich aber ganz schön verändert seit damals.«
»Ich weiß«, sagte Hella. »Aber ich weiß trotzdem, wo das ist. Zeig mal her.« Sie sah angestrengt auf das kleine Display. »Da. Da ungefähr. Außerdem werdet ihr den Baum erkennen. Er ist zwar gewachsen, aber er hat immer noch diese Balance. Oben zum Land hin, weg vom Wind, aber unten lehnt er sich hinaus, wie um das Meer zu sehen. Nele wird ihn erkennen. Sie wird es spüren, da bin ich mir sicher.«
Wie sollte das denn gehen? Nele wünschte, sie wäre sich ebenso sicher. Hella war alt und glaubte daran, dass ein Baum ein guter Geist sein und ein Haus beschützen konnte. Vielleicht war das ja so. Aber dass in Nele so viel von ihrem Großvater weiterlebte, den sie nie gekannt hatte? Das war eher unwahrscheinlich. Doch in den Wald wollten sie ja heute sowieso, vielleicht würden sie den Baum anhand der Karte tatsächlich finden. Ein Bild davon würde bestimmt auch Vio Freude machen, wenn sie sich dort mit Joram getroffen hatte. »Wusste meine Großmutter von dieser Windharfe?«, fragte sie.
Hella schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Violaine war ja schon fort, als Joram die Idee hatte. Ich denke, es war seine Art, mit dem Abschied fertigzuwerden. Er machte so etwas mit sich selbst aus. Mich hat er nur eingeweiht, weil ich in seinen Augen noch ein Kind war und weil er sonst niemanden hatte. Werdet ihr den Baum suchen und nachsehen, ob noch etwas zu machen ist? Bitte?«
»Ich nehme mein Fernglas mit. Damit werde ich wohl sehen können, ob von der Windharfe noch etwas übrig ist«, erklärte Timon. »Und wenn das heute noch etwas werden soll, machen wir uns jetzt ein kleines Picknick zurecht und brechen auf, in Ordnung, Nele?«
»Na klar, unbedingt.« Sie stand bereitwillig auf, erleichtert, sich bewegen zu können. Die lange Zeit und all die Gefühle, von denen Hella erzählt hatte, lagen auf einmal wie eine Last auf ihr. Und sie wollte endlich ihren fernen Freund, den Leuchtturm kennenlernen.
»Was kann ich tun?«, fragte sie in der Küche und sah sich um. Timon schob ihr den Brotkorb zu. »Schmier uns einfach noch ein paar Brötchen, im Kühlschrank ist Wurst und Käse. Ich packe inzwischen ein paar Sachen ein.« Sie sah, dass er einen Rucksack bereitgestellt hatte, in dem er jetzt Emailletassen, eine Thermoskanne und einige Schachteln verstaute. Er war völlig darauf konzentriert. So machte sie schweigend die Brötchen fertig und stellte fest, dass sich ihr aufgewühltes Inneres dabei beruhigte. Die Tätigkeit hatte so etwas Normales, Erdendes an sich. Auch Timons Gegenwart war angenehm. Seine ruhige Art, mit Freude Praktisches zu erledigen, hatte ihr bereits gefallen, als sie zusammen an ihrer Wand gearbeitet hatten. Was sie von ihrer überraschenden Vorfreude, Zeit mit Timon allein zu verbringen, halten sollte und ob das gut oder jetzt gerade eher schlecht war, wusste sie nicht. Daher beschloss sie, nicht darüber nachzudenken und den Tag zu genießen. Sie wollte mehr vom Wald und der Küste sehen, wo Joram und Vio unterwegs gewesen waren, auch weil ihr diese Landschaft immer besser gefiel. Die zusätzliche Aufgabe, den Baum zu finden, gab ihnen genug zu tun, ohne es noch komplizierter zu machen.
Timon stellte ihr den Sattel eines Fahrrads aus dem Schuppen passend ein, dann ging es los.
»Ein kurzes Stück müssen wir die Straße entlang«, sagte er. »Sei vorsichtig, manchmal rasen sie hier wie die Verrückten. Bald sind wir im Wald. Dann fahren wir bis zum Leuchtturm, dort müssen wir die Räder abstellen und zu Fuß weitergehen.«
»Wie weit ist es bis dahin?«
»Ungefähr vierzig Minuten, schätze ich.«
Da allerdings hatte er nicht mit Nele gerechnet und auch nicht mit dem Zauber, den der Herbst jetzt über den Wald legte.
Den Straßenabschnitt hatten sie rasch hinter sich gelassen. »Rosengang«, las Nele auf einem schön geschnitzten hölzernen Schild am Beginn des Waldweges. »Wie romantisch!«
»Schon, aber Rosen gibt es hier weniger«, meinte Timon. Und dann tauchten sie in eine andere Welt ein, die grün war und still. Dachte Nele jedenfalls, doch dann hörte sie immer mehr Klänge. Krähen, Singvögel und oben gelegentlich Möwen, hier ein Knistern, da ein leises Quietschen der Bäume, die sich im leichten Wind aneinanderrieben. Vor allem aber immer wieder ein geheimnisvolles Plätschern, das aus zum Teil unsichtbaren Tümpeln erklang. Was Hella und Quentin mit den Reffen und Riegen gemeint hatten, wurde jetzt klar. Zwischendurch ging es immer wieder bergauf, so dass Nele mächtig strampeln musste. Das hier waren noch Fahrräder ohne Elektromotor. Und anscheinend war sie nicht mehr so richtig in Form. Doch es tat gut, sich mal wieder richtig auszupowern. Vielleicht lag ihr das mehr, als sie ahnte. Muss ich öfter machen, beschloss sie.
Nur machte das in der Stadt längst nicht so viel Freude wie hier, wo man sich an der Luft beinahe betrinken konnte. Die war nicht nur sauber, sie duftete auch nach Kiefern, feuchter Erde, Pilzen und Meer. Und noch etwas, das süß roch und eher nach Sommer als nach Herbst – ein wenig wie Lindenblüten und Honig. Himmlisch. »Was riecht hier so lecker?«, erkundigte sie sich.
Timon lachte. »Das hat mich auch erst irritiert. Es ist der Efeu an den Bäumen, der blüht. Das macht die Insekten glücklich. Sie haben sonst nicht mehr so viel Nahrung um diese Jahreszeit. Sieh mal, hier.« Er hielt an und wies auf einen toten Baum, an dem Efeu emporgerankt war und ihn wie einen Mantel umhüllte. Auch von den Ästen hingen lange grüne Ranken, es sah aus wie ein königliches Gewand. Nele entdeckte, dass in den scheinbar grünen Blättern ein grandioses Muster aus Gelb- und Rottönen verborgen war. Und dazwischen die grüngelben Blütendolden wie winzige Feuerwerke. Bienen, Käfer und allerhand Getier summten eifrig darin herum.
»Die feiern eine Party!«, stellte sie erstaunt fest.
»Ganz genau.« Timon wartete geduldig, bis sie sich sattgesehen hatte. Dann fuhren sie weiter, bergauf, bergab. Nicht sehr steil, aber auf dem weichen Boden anstrengend. In den Tälern musste Nele auch immer wieder anhalten. Die Riegen waren voller Tümpel und Gräben, in denen das moorige Wasser honigbraun in den Sonnenflecken glänzte, die das Licht durch das Blätterdach mogelte. Goldene Birkenblätter trieben in den größeren herum, glänzend wie Wunschmünzen, die jemand hineingeworfen hatte. Ein Frosch blinzelte träge zwischen hellgrüner Entengrütze hervor und trug ein Blatt schief auf dem Kopf. Nele musste lachen und machte für Vio ein Bild davon.
»Fall mir nicht in den Sumpf«, warnte Timon. »Ist doch ganz schön frisch heute.«
Nele stieg wieder auf. »Hast du diese Wasserpflanzen gesehen, die aussehen wie hellgrüne Sterne? Es ist hier alles wie verzaubert für mich. Sei nachsichtig mit mir.«
»Ist völlig in Ordnung, dafür sind wir ja hier. Es gibt keinen Grund, warum wir schnell vorankommen müssen. Der Weg ist das Ziel. Früher hielt ich das für einen alten, abgegriffenen Spruch, aber seit ich allein bin, erscheint er mir immer vernünftiger.« Er stieg rasch auf und strampelte vorweg, als hätte er zu viel von sich verraten. Aber Nele bremste bald wieder so plötzlich ab, dass das Quietschen der Bremse durch den Wald hallte und selbst der Specht zu klopfen aufhörte.
»Was um Himmels willen ist das denn?«
Timon kehrte um. »Was denn? Hast du ein Gespenst gesehen?«
»So was Ähnliches. Das ist total gruselig!« Nele deutet auf etwas vor ihr auf dem Weg, das aussah wie geradewegs aus einem Horrorfilm entsprungen.
»Pilze, liebes Stadtkind! Das sind Pilze«, erklärte Timon und grinste. »Aber ich gebe zu, beim ersten Mal hat mich der Anblick auch sehr seltsam berührt.«
»Im Ernst? Wie heißen sie?« Auf den zweiten Blick waren die Gebilde tatsächlich als eine Gruppe Pilze erkennbar, auf langen hellen Stängeln – aber ihre Kappen waren pechschwarz und im Auflösen begriffen. Schwarze Tropfen hingen von den Rändern herab. Sie erinnerten Nele stark an die zerfließenden Uhren in Salvador Dalis »Zerrinnende Zeit«. Nur eben noch viel unheimlicher.
»Das sind Schopftintlinge. Hella hat es mir damals erklärt. Man kann sie essen. Und vor allem macht man Tinte aus ihnen, schon seit Jahrhunderten. Man hat sie in uralten Dokumenten nachgewiesen. Die Tinte ist licht- und dokumentenecht und wird heute noch gern für Kalligraphie verwendet.«
»Essen? Das da?«
Timon lachte. »Nicht, wenn sie so reif sind. Aber sieh mal hier.« Er ließ das Fahrrad stehen, ging ein paar Schritte weiter vorn zum Wegrand und schob einen Farnwedel beiseite. »So sehen sie aus, wenn sie ganz jung sind. Deshalb nennt man sie auch Spargelpilze.« Nele sah ein paar schneeweiße Pilze, fast wie längliche Eier. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass das dieselbe Art Pilz war. Timon bückte sich, schnitt einen ab und dann der Länge nach durch. »Siehst du, der ist ganz glatt und noch nichts Braunes dadrin. Solange sie so weiß sind, kann man sie gut essen. Sie sind mit den Champignons verwandt. Sie zerfließen nur sehr schnell, deshalb sind sie schlecht zum Verkauf geeignet.«
»Und wie geht das mit der Tinte?«
»Hella hat ein Rezept. Frag sie. Ich hab es mir nicht genau gemerkt. Hauptsächlich muss man wohl einfach die Pilze in eine Schale legen und ein paar Tage warten, bis sie zerfließen.«
»Hast du eine Tüte? Ich möchte welche mitnehmen und das ausprobieren!« Nele spürte das vertraute Prickeln eines kreativen Impulses. Wenn sie das überkam, ließ es ihr keine Ruhe, bevor sie es nicht in die Tat umsetzte. Timon schüttelte bedauernd den Kopf. »Geht nicht. Wir sind im Nationalpark. Da darf man keine Pilze ernten. Aber ich weiß, wo zu Hause am Rand vom Garten oft welche stehen.«
Nele sah ihn bestürzt an. »Stimmt ja! Das hab ich ganz vergessen.«
»Macht doch nichts. Dafür hast du ja mich.« Timon stieg wieder auf.
Der schulterhohe Adlerfarn hatte das Sommergrün endgültig abgelegt und war voller Gold- und Bronzetöne. Er wechselte sich mit Flächen von Blaubeersträuchern ab, an denen längst keine Beeren mehr hingen. An anderen Stellen gab es vereinzelt noch Brombeeren an wilden Ranken. Nele konnte nicht widerstehen und kostete den herbsüßen Geschmack aus. An den Ufern der Tümpel gediehen Schwertlilien so hoch, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Kein Vergleich zu jenen, die in manchen Stadtgärten wuchsen. »Das muss wundervoll aussehen, wenn sie blühen«, sagte sie sehnsüchtig.
»Das tut es«, versicherte Timon. Dann war er es, der bremste. »Guck mal, diese Kiefer. Siehst du das?«
An dem Stamm des dicken Baumes war eine große Wunde in die Rinde gerissen. Sie war so breit wie Neles Hände, so lang wie ihr Arm und zeigte wie ein Pfeil nach unten. Im blanken Holz war noch ein Fischgrätmuster zu erkennen.
»Ist es das – das, was Quentin gemacht hat? Bei der Harzgewinnung?«, fragte Nele leise. Vorsichtig berührte sie die Vertiefung, die erschreckend deutlich wie eine Wunde wirkte, die bis auf den Knochen ging. Was ja auch stimmte. Für einen Moment war Nele, als würde sie die Verletzung der Haut des Baumes schmerzhaft auf ihrer eigenen spüren.
»Ja. Sieht schlimm aus, oder? Aber der Baum hat überlebt. Siehst du hier, an den Rändern, wie die Rinde zum Teil wieder über die Verletzung wächst? Sie kann nicht ganz heilen, aber der Baum versucht es. Und er blutet schon lange nicht mehr.«
Jetzt konnte sie verstehen, dass Quentin das nicht losgelassen hatte. Noch nie war für sie so deutlich spürbar geworden, dass ein Baum ein atmendes Lebewesen war. Nur dass es länger und langsamer lebte als Menschen oder Tiere.
»Quentin hat sich jedes Mal sehr gefreut, wenn er einen solchen Baum gefunden hat, der noch lebt und der heilt«, sagte Timon. »Kommst du?«
So viele Menschen haben ähnliche Wunden, nur unsichtbar, dachte Nele beim Weiterradeln. Die sind Teil von ihnen und bleiben es für immer, aber sie heilen am Rand, und man lernt, damit zu leben und darüber hinauszuwachsen. Quentin und seine Schuldgefühle. Vio und wie schwer es war, damals allein mit einem unehelichen Kind. Hella, die aus ihrer Heimat wegmusste und zu jung war für ihre heimliche Liebe. Meine eigene Trauer um Noelie. Timon und seine gescheiterten Beziehungen. Solche Verletzungen sind unsichtbar. Es ist gut, sie anhand dieser Bäume mal so deutlich zu sehen und zu verstehen, dass man trotzdem wachsen und aufrecht stehen bleiben kann.
Am Rand des Weges entdeckte sie noch viele solche gezeichneten Kiefern und hörte den Wind darin leise rauschen. Sie bewegten die Äste sanft. Es war wie ein ermutigender Gruß.