Durch den Wald führten kreuz und quer jede Menge Wege wie ein Netz. Nele hatte die Orientierung verloren. Auch Timon hielt an den vielen Kreuzungen immer wieder an und studierte die Wegweiser. Manchmal nahm er auch sein Handy zu Hilfe.
»Ich war jetzt schon so oft hier, aber ich verfahre mich immer wieder«, sagte er. »Wir müssten längst an ›Peters Kreuz‹ sein. Das ist eine von den Kreuzungen mit einem großen Wegweiser, von da aus kann nicht mehr viel schiefgehen. Nele?« Er sah sich um.
»Hier. Sieh doch mal. Diese beiden Bäume!«
Sie stand ehrfürchtig unter einer uralten Eiche, die sehr dicht neben einer ebenfalls alten Kiefer wuchs. Sie neigten sich beide zueinander, und weiter oben waren die Stämme an einer Stelle zusammengewachsen. Das hatte Neles Aufmerksamkeit erregt. »Die sehen aus wie ein Paar!« Fast zärtlich wirkte es, wie sie da beisammenstanden und wohl seit Jahrhunderten den Stürmen der Natur und jenen der Geschichte standgehalten hatten. Gemeinsam.
»Beeindruckend, nicht wahr?« Timon stellte sich neben Nele und sah ebenfalls hinauf. Das Eichenlaub färbte sich gerade leuchtend rot und bronzen, die dunklen Äste der Kiefer mit ihren Nadeln flochten sich durch die heiteren Farben. »Hella und Quentin lieben die. Früher sind sie gern hierhergekommen. Hella hat mir Bilder davon gezeigt, wie sie hier gesessen haben. Ich denke, die Kiefer am Weststrand mit der Windharfe erinnert sie an Joram, diese Bäume hier aber stehen für ihre späte Liebe zu Quentin.«
»War sie denn nie verheiratet?« Nele berührte die Rinde der Eiche mit der einen Hand, den Stamm der Kiefer mit der anderen und schloss die Augen. Sie hätte schwören können, dass sie eine Kraft spürte, die von einem zum anderen und zurückfloss.
»Doch. Aber das war in der Ruppiner Schweiz, nachdem ihre Familie den Darß verlassen hatte. Das hier ist ihre Gegenwart.«
»Ich wüsste gern, was diese beiden verbundenen Bäume alles erlebt haben«, sagte Nele nachdenklich. »Wenn die in Remys Geschichtengarten stünden – stell dir vor, was man da alles auf das Schild schreiben müsste!«
»Du kannst ja recherchieren. Dann könnte man das zumindest anhand einiger Abschnitte der Geschichte so ähnlich gestalten, auch hier. Hella hat schon einmal mit diesem Gedanken gespielt, als sie noch die Führungen für die Schulklassen machte. Aber sie wusste nicht, wie sie es angehen sollte. ›Joram hätte das gekonnt‹, hat sie nur gesagt und es nicht länger verfolgt. Wollen wir weiter? Nele?«
»Hmmm, was? Ach so. Ja, gleich.« Nele schrak aus ihren Gedanken und machte hastig noch einige Bilder von den beiden Bäumen. Sie hatte eine Idee.
Langsam spürte sie vom Radfahren ein Ziehen in den Oberschenkeln. Diese Wege zogen sich verblüffend lang hin, und man musste mächtig auf den Boden achten, um nicht in eine Vertiefung zu geraten oder an einer Wurzel hängen zu bleiben. Kein Wunder, dass das für Hella und Quentin zu viel geworden war. Hier in einer holpernden Kutsche zu sitzen musste unerträglich für alte Knochen sein.
Schließlich passierten sie »Peters Kreuz«. Hier trafen sich viele Wege, aber auch jede Menge Wanderer und Radfahrer, die alle dasselbe Ziel zu haben schienen und von denen sich viele auf Bänken ausruhten.
»Hier ist es meistens recht voll«, sagte Timon bedauernd. »Alle Menschen mögen wohl Leuchttürme.«
Voll war es in der Tat. Als sie auf dem dafür vorgesehenen Parkplatz ihre Fahrräder anschlossen, fragte sich Nele, ob sie diese in der Masse je wiederfinden würden. Eben war es noch so still und schön im Wald gewesen, nun fühlte sie sich überwältigt von den Mengen an Metall und Menschen. Kutschen standen auch herum. Doch als sie ein paar Schritte gegangen waren und die Bäume plötzlich den Blick auf den Leuchtturm freigaben, vergaß sie schlagartig ihr Unbehagen. Das also war der bisher unbekannte Freund, der ihr die Nächte erhellte und ihre Träume auf seinem kreisenden Lichtstrahl über die Baumwipfel trug! Es war berührend, ihm einmal so nahe zu sein.
Ehrwürdig und unerschütterlich wirkte er, wie er dastand, aus rötlichen Backsteinen gemauert. Hier und da war die Färbung unregelmäßig, was wie Altersflecken aussah, die ihm gewiss zustanden. Oben trug er ein gemütliches Dach, das einer Teemütze ähnelte, mit einem runden Knauf. Ja, er sah wirklich aus wie ein Freund. So musste auch sein Licht auf die Schiffe gewirkt haben, als es noch lebenswichtig war. Wahrscheinlich war es jetzt nicht viel anders. An Leuchttürmen war wohl tatsächlich etwas, das einen inneren Instinkt befriedigte.
Vio und Joram mussten dasselbe Licht einst ja auch gesehen haben. Das schuf eine eigenartig zeitlose Verbindung zu ihnen. Nele schickte noch ein Foto an ihre Großmutter, die bisher angesichts der Bilderflut noch nicht protestiert hatte.
Timon betrachtete die endlose schnatternde Schlange der Leute, die an der Kasse anstanden, mit Widerwillen. »Sag mal, möchtest du unbedingt da rauf?«
Nele dachte nach. »Nein, eigentlich nicht. Ich habe ja schon von meinem Dachfenster aus einen schönen Blick. Ich wollte den Turm nur unbedingt mal aus der Nähe sehen. Außerdem haben wir ganz schön lange gebraucht bis hierher. Wenn wir Hellas Baum suchen wollen, machen wir uns besser auf den Weg.«
»Prima«, sagte Timon erleichtert. »Dann also hier entlang.«
Nele warf ihm einen Blick zu. »Ich mag Menschenmengen auch nicht.«
»Dann ist ja gut. Ich bin froh, dass du nicht enttäuscht bist. Aber ich muss hier einfach weg!«
Sie mochte das sehr an ihm, dass er so offen über seine Empfindungen sprach. Nele atmete selbst auf, als sie ihm einen Pfad entlang folgte und die Stimmen und das Gedränge rasch hinter ihnen zurückblieben.
»Das Wetter ist heute einfach zu gut«, meinte Timon. »An einem grauen, stürmischen Tag ist es hier richtig schön einsam.«
»Dafür ist das Licht so herrlich.« Nele sah das Meer blausilbern durch die Bäume glitzern. Auf den Dünen gedieh hier zu ihrer Überraschung Schilf anstatt des üblichen Strandhafers. Es glänzte, tanzte und wisperte im Seewind. Dazwischen wuchsen Kartoffelrosen. Ihre Blätter glühten zitronengelb und flammend orange, große violette Blüten flatterten wie Schmetterlinge und dicke knallrote Hagebutten leuchteten dazwischen. Nele konnte die Farbenvielfalt kaum fassen.
Der schmale Pfad folgte im Schutz der Dünen der Küstenlinie, mal tiefer in den Wald, dann wieder unter offenem Himmel. Timon blieb stehen und blickte auf sein Handy. Er hatte Hellas Zeichnung abfotografiert und über die aktuelle Karte gelegt.
»Ich denke, hier müsste der Wald gleich dichter werden. Die Kiefer steht ja laut Hella zwischen vielen anderen. Ich glaube, Joram hat sie nicht nur aus sentimentalen Gründen gewählt. Er hoffte, sie würde in der Menge nicht auffallen, wenn man sie nicht gezielt sucht. Die Töne der Harfe sind dann auch schwerer zuzuordnen. Lass uns da entlanggehen.« Neles Magen knurrte. Belustigt wandte er sich um. »Hunger? Wenn du es noch aushältst, dachte ich, wir suchen erst den Baum und finden heraus, ob von der Harfe noch etwas übrig ist. Dann gehen wir zum Strand runter und finden ein nettes Plätzchen mit Aussicht aufs Meer, bevor wir am Strand entlang zurücklaufen. Dann kannst du deine müden Füße dabei im Wasser kühlen.«
»Sehr guter Plan. Appetit habe ich schon, aber ich halte es noch aus. Ich bin wahnsinnig neugierig, ob man die Windharfe noch hören kann. Hast du eine Vorstellung, wie sie klingt?«
»Ja, ich habe mir vorhin rasch etwas aus dem Internet runtergeladen. Da gibt es eine Aufnahme von einer, die nach demselben Prinzip gebaut wurde, wenn auch nicht in einem Baum. Hier.« Er hielt ihr sein Handy ans Ohr. »Der Lautsprecher ist miserabel, sorry, aber man bekommt zumindest eine Ahnung.«
Bis jetzt hatte sich Nele nichts darunter vorstellen können. Hellas Geschichte war romantisch gewesen, aber trotz der Zeichnung sehr abstrakt. Dabei war Musik etwas, was Nele im Innersten treffen konnte. Der langsame, geheimnisvolle Ton, der mal höher, mal tiefer, mal melancholisch klang und dann wieder hoffnungsvoll, berührte sie trotz des quäkenden Lautsprechers. Jetzt wollte sie so etwas unbedingt im Original hören.
»Toll. Danke! Lass uns den Baum finden!«
Was eben noch einfach ein schöner Ausflug gewesen war, wurde unerwartet zu einem Abenteuer, das in ihr kribbelte. So war es früher mit Noelie, dachte sie, als hinter jeder Ecke ein Wunder auf sie wartete.
Sie untersuchten viele Bäume. Manche hätten sich zum Klettern geeignet, und wenn sie mehr Zeit gehabt hätten, hätte Nele es gern versucht. Aber keiner entsprach genau der Beschreibung, und wenn doch, so konnten sie in den Ästen nichts erkennen, egal, wie genau Timon sie mit dem Fernglas absuchte. Und auch Hellas gewagte Hoffnung, dass Nele als Jorams Enkelin instinktiv erkennen würde, welche der Kiefern eine solche Bedeutung für ihn gehabt hatte, erfüllte sich nicht.
Immer wieder blieben sie stehen und lauschten, aber sie vernahmen nichts, was dem Ton einer Windharfe ähnelte. Vielleicht waren auch die Stimmen der Menschen am Strand zu laut oder das Rauschen der Wellen, auch wenn das heute sehr gedämpft war.
»Ich fürchte, das wird nichts. Wir haben alles versucht. Der Wald ist hier zu dicht geworden. Und wahrscheinlich ist von der Windharfe einfach nichts mehr übrig. Das kann ja auch sehr gut sein.« Timon sah auf die Uhr. »Wenn wir noch picknicken und uns auf dem Rückweg nicht hetzen wollen, sollten wir jetzt runter zum Strand. Es wird ja schon ziemlich früh dunkel.«
»Da hast du wohl recht. Aber Hella …« Nele war traurig.
»Quentin wird sie trösten. Sie hat schon Schlimmeres erlebt. Komm.«
»Warte! Dann will ich doch wenigstens einmal ein Stück auf einen Baum klettern. Dieser hier sieht gut aus. Hilfst du mir mal bitte? Der unterste Ast ist immer noch zu hoch für mich.«
»Aber sieh dich vor, Stadtkind!« Schmunzelnd machte er ihr die Räuberleiter.
»Selber Stadtkind!« Nele zog sich auf den Ast. Oben im Baum schimpfte ein Eichhörnchen und wedelte empört mit dem Schwanz. »Entschuldige«, sagte Nele zu ihm. »Ich bin ja gleich wieder weg! Ich möchte nur einen kurzen Blick in deine Welt werfen.«
Das Klettern, einmal begonnen, war leichter als gedacht. Einige trockene Nadeln rieselten um sie her zu Boden. Sie pflückte einen Zapfen und warf ihn auf Timon herab.
»He! Nicht frech werden!«, rief er lachend. »Denk lieber dran, dass du auch wieder runtermusst. Und ich hab Hunger!«
»Gut, ich komme.« Doch sie zögerte. Der Blick von hier war etwas Besonderes. Das Meer lag ihr lichtblau zu Füßen, und um sie herum bewegte sich ein grünes Ballett aus leise schwankenden Zweigen und vielen flirrenden Farben. Hella hatte recht. Der Wald bestand nicht aus einzelnen Bäumen. Das hier war ein gewaltiges Lebewesen, luftig und locker und dennoch so verwoben wie ein feiner Stoff. Nele fühlte sich wohl hier oben. Das musste sie an einem anderen Tag noch einmal länger ausprobieren. Auf jeden Fall glaubte sie zu ahnen, warum Joram und auch Vio diesen Ort so geliebt hatten. Sie spürte selbst eine Verbundenheit, auch wenn sie den Baum ihres Großvaters nicht gefunden hatte.
Nele sah hinunter, um Halt für ihren Fuß zu suchen, und stellte fest, dass Timons Warnung berechtigt gewesen war. Sie befand sich höher, als sie gedacht hatte, und der Weg nach unten sah längst nicht so einfach aus wie umgekehrt. Als sie noch darüber nachdachte, fiel ihr Blick auf einen der anderen Bäume. Da waren ja einige große Vogelnester drin … sie stutzte. Diese Nester, von denen sie gegen das Licht nur die Silhouetten sah, hatten aber eine eigenartige Form! Sie kniff die Augen zusammen. »Timon?«
»Was, brauchst du doch Hilfe?«
»Nein, aber dein Fernglas!«
»Warum? Ich werfe es dir ganz bestimmt nicht rauf. Es ist ein Gutes!«
»Dann musst du auch hochkommen. Ich sehe was. Da drüben.«
»Wo?«
»Von unten kannst du es, glaube ich, nicht sehen. Die Zweige darunter sind zu dicht.«
»Na gut.« Behände schwang sich Timon hoch und kletterte zu ihr hinauf. Mit heimlicher Bewunderung sah sie zu. Es wirkte, als mache er so was jeden Tag. »Ich war mal eine Zeitlang öfter in der Kletterhalle«, sagte er, als er ihren Blick bemerkte. »Natalie wollte, dass ich mitkomme. Aber war nicht so mein Ding, in der Halle. So künstlich. Wo muss ich gucken?«
»Dort. Diese Formen auf den Ästen! Die haben so auffällig glatte Kanten. Wenn es ist, was ich denke, dass es ist – also, es kann doch sein, dass die Zweige inzwischen so dicht geworden sind, dass man es von unten eben nicht mal mit dem Fernglas sehen kann.«
»Möglich, dass Joram sich das genau so gedacht hat. Darauf hätte ich gleich kommen können.« Timon spähte durch das Glas, nickte und reichte es Nele.
Ja. Da war ein flacher Trichter und in einer anderen Richtung auf einem anderen Ast ein zweiter. Sie waren zum Teil mit Efeu überwachsen und von Zweigen verdeckt, aber doch erkennbar. Die anderen beiden konnte man von hier nicht sehen, wenn sie noch da waren.
Nele machte ein Bild, aber das nützte nicht viel. Auch darauf sah man praktisch nichts. »Ich speichere auf dem Handy die Stelle«, sagte Timon und rief die Karte auf. »Den Baum selbst möchte ich auf keinen Fall markieren.« Er warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Gute Arbeit, Sherlock.«
Sie freute sich, vor allem darüber, dass sie Hella nicht völlig enttäuschen mussten. Aber sie war mit dem Abstieg zu beschäftigt, um zu antworten.