25

»Ihr habt tatsächlich die Windharfe gefunden? Und der Baum steht noch?«, fragte Hella zum dritten Mal, obwohl Nele ihr die zugegeben undeutlichen Bilder gezeigt hatte, die sie mit der Zoomfunktion des Handys aufgenommen hatte. Hellas Augen leuchteten, ihr ganzes Gesicht wirkte um Jahre jünger.

Wie viel die Menschen uns doch bedeuten, die unser Leben besonders beeinflusst haben, dachte Nele beeindruckt. Bei mir ist es Noelie. Bei Hella Joram, bei Vio auch. Man sollte es ihnen erzählen, solange sie noch leben. Ich muss Teddy anrufen und ihr sagen, wie sehr sie mir geholfen hat. Und dass ich noch Zeit brauche.

»Ich habe sogar einen Ton gehört. Eine Saite klingt noch. Glaube ich jedenfalls. Kannst du es auch hören?« Nele hielt ihr das Handy ans Ohr.

Hella lauschte angestrengt. Dann lächelte sie beglückt. »Ja! O ja!«

»Hier ist eure Medizin«, sagte Timon, der aus der Küche kam.

»Es riecht gut«, meinte Quentin und schnupperte hoffnungsvoll.

»Ich mache gerade eine Suppe warm und backe Pasteten auf. Für mehr ist es schon zu spät«, entschuldigte sich Timon.

»Lieber Junge, das genügt doch vollkommen, vor allem wenn es schmeckt, wie es duftet!«

»Das sind die frischen Kräuter«, erklärte Timon.

»Kann ich dir helfen?«, erkundigte sich Nele.

»Nein, danke, bin fast fertig. Und du bist lange genug auf den Beinen gewesen.«

»Dann werde ich mal nach Hause fahren. Ich meine, ins Sandregenpfeiferhaus. Ich muss einige Anrufe und Mails erledigen.« Sie konnte ja nicht immer hier herumhängen, so gemütlich es auch war.

»Bitte, spiel uns noch etwas vor, bis Timon fertig ist. Und dann isst du noch mit uns«, bat Quentin.

»Ja, es ist reichlich da«, ermutigte Timon sie.

»Du kannst jetzt nicht gehen! Wir müssen nachher besprechen, wie ihr die Harfe wieder instand setzt!«, protestierte auch Hella.

Aus der Küche duftete es tatsächlich herrlich. Obwohl sie eigentlich noch vom Picknick satt war, fügte sich Nele und nahm die Gitarre zur Hand. Ihr spukte schon seit dem Nachmittag eine Melodie im Kopf herum, ruhig und geheimnisvoll, die vom Dialog von Wind und Meer sprach und dem, was sie einander zu sagen hatten.

»Das gefällt mir«, sagte Timon, der mit der Suppenschüssel hereinkam, als sie die letzten Töne verklingen ließ.

»Mir war, als wäre ich im Wald und blickte auf das Meer.« Quentin hatte mit geschlossenen Augen zugehört. »Vielen Dank, Nele!«

»Das ging mir ähnlich.« Hella setzte sich an den Tisch und reichte Timon ihren Teller. »Ihr zwei, ich wünsche mir, dass ihr die Windharfe mit derselben Leidenschaft repariert, wie du auf der Gitarre spielst, Nele.«

»Nele macht alles mit Leidenschaft«, erklärte Timon. »Ich weiß es, seit ich mit ihr an der Wand in ihrer Ferienwohnung gearbeitet habe.«

Nele wurde vor Freude rot und biss voreilig in eine noch etwas zu heiße Pastete, damit es niemand merkte.

»Genau wie Joram.« Hella freute sich. »Wie wollt ihr es anfangen? Und wann?«

»Am nächsten grauen, kühlen Tag«, erklärte Timon. »Sonst sind dort viel zu viele Menschen.«

»Joram hat deswegen immer frühmorgens daran gearbeitet«, erinnerte sich Hella. »Aber damals waren auch nur wenige Menschen unterwegs. Das wurde von der DDR ja nicht gerade begrüßt. Die Offiziere der Nationalen Volksarmee jagten dort das Wild, und die Harzgewinnung war wichtig. Ein Nationalpark wurde das Gebiet erst später.«

»Frühmorgens wäre eine Idee«, sagte Quentin. »Ihr braucht aber ein Fahrzeug mit Genehmigung für den Nationalpark und eine Leiter.«

»Ich will nicht, dass noch mehr Leute von der Harfe erfahren«, sagte Hella.

»Ohne zusätzliche Hilfe werden wir das nicht schaffen«, sagte Timon bestimmt. »Es muss hier in der Gegend doch noch jemanden geben, dem du vertraust! Du kennst genug Leute.«

»Ich habe zwar Führungen für Schulklassen und Feriengäste gemacht, aber ich habe trotzdem immer zurückgezogen gelebt«, erklärte Hella. »Ruhe ist mir wichtig. Ich mag keine Skatrunden und dergleichen.«

Nele fiel etwas ein. »Was ist mit Jakob Hellmond? Den musst du doch kennen. Er war es ja, der mich zu dir geschickt hat. Ich finde ihn sehr sympathisch.«

»Sie hat recht«, stimmte Quentin zu. »Es gibt auf dem Darß niemanden, der Jakob nicht vertraut. Einer der anständigsten Menschen, die mir jemals begegnet sind.«

»Mag sein. Wir haben einige Male bei Waldarbeiten miteinander zu tun gehabt. Näher kennen wir uns nicht, aber ich habe nur Gutes von ihm gehört«, gab Hella zu.

»Dem bin ich schon begegnet. Er bietet Zeesbootfahrten an, ich habe eine mitgemacht«, sagte Timon. »Er war wirklich sympathisch. Er macht neuerdings auch Kutschfahrten in den Wald, stand auf seinem Flyer.«

»Dann frage ich ihn«, entschied Nele. »Ich weiß, wo er angelt. Ist das in Ordnung für dich, Hella?«

»Er könnte uns mit seiner Kutsche sehr helfen, und da Zeesboote aus Holz sind, hat er bestimmt das richtige Werkzeug und weiß, wo wir gutes Material bekommen«, hakte Timon nach. »Hella, wenn dir so viel daran liegt, diese Harfe in Ordnung zu bringen, dann lass uns mal machen! Allein schaffen wir das beim besten Willen nicht. Das ist zu knifflig da oben auf dem Baum.«

»Na schön«, sagte Hella widerstrebend.

»Übrigens, du hast doch mal Tinte aus Schopftintlingen gemacht«, sagte Timon und zwinkerte Nele zu. »Nele wollte gern wissen, wie das geht.«

»Ja, das möchte ich unbedingt! Ich könnte die Tinte für ein neues Wandprojekt gebrauchen.« Was für eine gute Idee, Hella damit abzulenken.

»Schopftintlinge?«, fragte Hella, erfolgreich aus dem Konzept gebracht. »Ja, das geht sehr gut. Ich habe mit der Tinte früher Weihnachtskarten beschrieben. Damals fand ich Kalligraphie interessant. Das Rezept ist bestimmt noch da, wartet … sieh mal bitte da in die Schreibtischschublade, Timon. Da müsste ein blaues Heft liegen.«

»Ja, hier ist es.« Er reichte es ihr, und sie blätterte darin. »Da.« Sie gab das Heft an Nele weiter.

»Darf ich mir das abfotografieren?«, fragte sie.

»Sicher. Es ist gar nicht kompliziert. Timon, hinter dem Komposthaufen habe ich gestern Schopftintlinge gesehen. Wenn du Nele zum Auto bringst, könnt ihr welche abschneiden. Ich möchte dann bald ins Bett gehen. Die Aufregung war doch ein wenig anstrengend.« Sie griff nach Neles Hand. »Danke, Nele! Es bedeutet mir unendlich viel, dass ihr den Baum gefunden habt. Und dass ihr die Windharfe wieder richten werdet und mich nicht für senil haltet. Ich weiß, du hast deinen Großvater nicht gekannt. Aber mir ist wichtig, dass sein Wunsch erfüllt wird. Nicht nur weil ich ihn so mochte. Er hatte auch recht mit seiner Voraussage, wisst ihr. Die Wälder sind jetzt so gefährdet. Diese Dürre mit anzusehen und wie die Bäume leiden, das tut mir in der Seele weh. Sicher wird es nichts retten, wenn die Harfe wieder klingt. Aber …« Hella sah Nele bittend an. »Du weißt doch, dass Musik Hoffnung macht. Wir brauchen ein bisschen Hoffnung. Die Menschen und der Wald. Welcher Klang könnte dafür besser geeignet sein als einer, der von Wind und Holz gemacht wird und das Meer als Begleitung hat? Dort, wo Wald und Meer zusammentreffen und im Gespräch bleiben, da entsteht eine Kraft. Deshalb kommen so viele Menschen hierher. Sie spüren es, auch wenn sie es nicht verstehen. Sie werden auch die Musik spüren, selbst wenn sie sie nur unbewusst wahrnehmen oder nicht wissen, woher sie kommt!« Erschöpft lehnte sie sich zurück.

»Außerdem setzen wir ein Zeichen«, fügte Quentin in seiner ruhigen Art hinzu. »Selbst wenn es sonst nichts bewirkt. Ein Zeichen für die Hoffnung. Einen Beweis, dass es so viel Schönes gibt, wenn man einen Einklang herstellt.«

»Natürlich machen wir das«, bekräftigte Nele. Jetzt gab es ohnehin kein Zurück mehr. Jetzt wollte sie es auch. Für Hella, für Vio, für Joram. Für sich selbst, weil sie etwas Neues, Verrücktes und trotzdem Sinnvolles machen wollte und es ihr vielleicht einen Hinweis darauf geben mochte, was danach kommen konnte. Und weil sie dabei mit Timon zusammenarbeiten würde.

»Ach, Nele«, rief Hella ihnen nach, als sie schon fast zur Tür hinaus waren. »In der Schublade liegt auch ein alter Füllfederhalter. Den kannst du gern haben. Ich komme nicht mehr damit zurecht. Meine Hände, du weißt schon. Damit ging das mit der Kalligraphie sehr gut und normales Schreiben auch. Jede Schrift sah damit schöner aus. Geheimnisvoll und ein wenig plastisch.«

Bewundernd drehte Nele den Federhalter im Licht. »Ist der Griff etwa aus Bernstein?«

»Ja. Ich habe ihn einmal geschenkt bekommen.«

»Von Joram?«

»Nein. Von meinem Mann. Da ist auch noch eine Schachtel mit Federn verschiedener Stärken.«

»Das kann ich doch nicht annehmen!«

»Doch, Nele. Das ist ein Geschenk dafür, dass du den Baum gefunden hast. Und dass ich heute zum ersten Mal nach so langer Zeit wenigstens einen Ton der Harfe hören konnte. Du ahnst nicht, wie viel mir das bedeutet!« Ihre Augen glänzten.

Nele musste schlucken. »Dann vielen Dank. Ich werde ihn in Ehren halten.«

»Mach einfach schöne Dinge damit. Das wahre Geschenk ist, dass du den Kopf so voller Ideen hast. Wie dein Großvater. Mach was draus. Und jetzt raus mit euch!«

Der Lichtkegel von Timons Taschenlampe wanderte durch den Garten und ließ die Tautropfen im Gras glitzern. »Hoffentlich wirkt das Mückenspray noch«, sagte er. »Da hinten ist der Kompost. Vorsicht, Brennnesseln.«

Es dauerte eine Weile, bis das Licht zwischen Farnen, verblühten Goldruten und Disteln auf die Pilze traf. Bei Nacht sahen sie noch gruseliger aus. Die Stiele leuchteten schneeweiß auf, doch von den in Auflösung begriffenen Schirmen hingen pechschwarze glänzende Tropfen. Spinnweben waren dazwischen drapiert, als hätte ein Regisseur sein Bestes gegeben, um sie unheimlich wirken zu lassen.

»Ich habe hier zwei leere Marmeladengläser. Halt mal, dann schneide ich die Pilze direkt rein. Sonst gibt das eine riesige Schweinerei.« Timon drückte ihr die Gläser in die Hand und zückte ein Messer.

»Da ist noch was, was ich dich fragen muss«, sagte Nele, während er die tropfenden Schirme in die Öffnungen bugsierte. Sie erzählte ihm von Franzis Bitte um das Motiv an ihrer Wand im Bistro. »Hast du Lust, mir dabei zu helfen?«, erkundigte sich Nele vorsichtig. »Das würde mich sehr freuen. Wenn wir mit der Harfe fertig sind natürlich«, fügte sie hastig hinzu.

Timon wischte das Messer im nassen Gras ab und sah sie an. Sie konnte seinen Blick im Dunkeln nicht deuten. Sie sah nur die Reflexionen der Außenleuchten am Haus, die sich mehrfach in seiner Brille spiegelten wie Glühwürmchen.

»Mit dir wird es nie langweilig, was?«, fragte er. »Da sitzt man wohl wortwörtlich in der Tinte. Kommst du eigentlich auch mal zur Ruhe?«

»Keine Ahnung. Vielleicht wenn ich so alt bin wie Hella und Quentin?«

»Ich vermute, ich werde dir helfen«, sagt er nach einer Pause und schraubte das eine Glas zu. Nele mühte sich mit dem anderen ab, das klemmte. Schließlich gelang es ihr.

Beim Abschied am Auto blieb Timon einen langen Moment stehen. Sie bemerkte die Anspannung in der Haltung seiner Silhouette und dachte für einen Augenblick unwillkürlich, er würde sie vielleicht küssen. Doch dann sagte er nur: »Gute Nacht!« und drehte sich abrupt um.

»Ich melde mich morgen, wenn ich mit Jakob gesprochen habe!«, rief sie ihm nach. Er hob eine Hand zum Gruß, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Als Nele im Sandregenpfeiferhaus das Licht einschaltete und wegen der plötzlichen Helligkeit blinzeln musste, schienen sich die Baumsilhouetten an der Wand für einen Augenblick zu bewegen. Es waren aber nur die Schatten der Vorhänge, die sich in der leichten Zugluft bewegten. Die Balkontür war nicht dicht.

Nele stand eine Weile davor und dachte nach.

Dann betrachtete sie ihre Ernte, ein immer noch unheimliches Gemisch aus weißen und schwarzen Pilzstücken und zäher Masse. Sie stellte die Gläser auf den Küchentresen und las das Rezept aus Hellas Heft.

Man musste ein paar Tage warten, bis die Pilze ganz zerflossen waren. Dann goss man die Flüssigkeit durch ein Sieb, um Krümel zu entfernen. Das war eigentlich schon alles. Besser war es aber, ein wenig Gummi Arabicum hinzuzufügen, was auch immer das war, damit die Tinte dicker wurde, und ein paar Tropfen Nelkenöl, um sie haltbarer zu machen. Dann gründlich schütteln.

Schwierig klang das nicht. Nele konnte kaum erwarten, es auszuprobieren. Waldtinte, dachte sie. Damit könnte man etwas anfangen, vielleicht Postkarten zeichnen und damit für den Wald werben, für Achtsamkeit …

Das Nashorn blickte so verloren wie immer und irgendwie missbilligend. Verzettle dich nicht, Nele!, schien es zu mahnen.

»Aber Hella meint, ich soll etwas aus meinen Ideen machen. Wie Joram«, sagte sie laut, um auszuprobieren, wie sich das anhörte.

Über dem First gegenüber waren statt der Schwalben jetzt Fledermäuse unterwegs. Weiter oben blinkte der Abendstern.

Nele wählte Teddys Nummer.