»Alles läuft hier, Nele. Auch ohne dich.« Teddy klang gelassen. Nele hatte ohnehin noch nie erlebt, dass irgendetwas diese Frau aus dem Gleichgewicht brachte. »Auch die Premiere wird klappen, jedenfalls so gut, wie es bei Premieren üblich ist. Du brauchst absolut kein schlechtes Gewissen haben.«
»Ich habe hier einfach so viel zu tun. Es haben sich unerwartet mehrere interessante Projekte ergeben …«
»… denen du nicht widerstehen kannst. Das war noch niemals anders. Nele, wegen dieser Eigenschaft habe ich dich ursprünglich gefördert und dann eingestellt! Ich wusste, dass man mit dir ein Theater auf die Beine stellen kann. Aber ich habe nie erwartet, dass du für immer dabeibleibst. Im Gegenteil, das würde mich sehr enttäuschen. In deinem kreativen Kopf ist viel zu viel los. Erhalte dir deine Neugier und den Drang, alles auszuprobieren, denn solche Menschen braucht die Welt. Bleib, solange du willst, oder geh nach Australien oder an den Nordpol, wenn du das brauchst, meinen Segen hast du. Hier bist du natürlich immer willkommen. Und nun lass mich arbeiten.«
Nele wischte sich die Augen und war froh, dass es kein Videogespräch war. »Ach, Teddy. Du bist unglaublich! Habe ich dir schon mal gesagt, wie viel ich dir zu verdanken habe und was mir das bedeutet?«
»Jetzt werd nicht sentimental, Mädchen. Ich hab immer nur meinen Job gemacht. Und das mach ich jetzt weiter mit den Kindern, darum hab ich jetzt keine Zeit mehr für dich.« Teddy klang barsch, aber Nele kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich auch gleich schnäuzen würde.
»Mach’s gut, liebe Teddy. Ich melde mich!«
»Ich bitte darum. Wehe, du erzählst mir dann nicht, was du alles angestellt hast.«
Nele holte sich ein Taschentuch, dann rief sie Vio an.
»Natürlich kannst du bleiben, meine Nele, es geht mir hervorragend hier. Du glaubst nicht, was für nette Menschen ich kennengelernt habe. Ich werde auf meine alten Tage noch richtig gesellig. Es macht mich glücklich, dass es dir dort gefällt. Ich habe immer gewusst, dass viel von Joram in dir steckt! So kreativ, wie du als Kind schon warst. Und genauso gern allein, seit deine Freundin nicht mehr da war. Hast du denn dort Leute kennengelernt?«
»Jede Menge, Vio. Und du brauchst mich wirklich nicht?«
»Kein bisschen. Und wenn doch, sage ich Bescheid. Ehrenwort. Ich habe doch so viel Freude an den Bildern, die du mir schickst. Das ist, als ob ich wieder mit Joram dort wäre. Dass er diese Windharfe gebaut hat … das bedeutet mir sehr viel. Und wenn du sie wirklich reparieren kannst – wie hätte er sich gefreut! Das ist das Beste, was du für mich tun kannst.«
»Ich vermisse dich. Ich komme wieder, sobald ich mit allem fertig bin.«
Vio gluckste in den Hörer. »Liebes Kind, du wirst niemals mit allem fertig sein. Zum Glück. Das war Joram auch nie, da bin ich mir sicher.«
»Dann komme ich trotzdem bald wieder.«
»Lass dir Zeit! Ich bin beschäftigt. Sei einfach glücklich. Und schick mehr Bilder! Ich habe mir ein neues Smartphone gekauft. Hier ist so eine nette junge Pflegerin, die hat mich beraten.«
Nele fühlte sich ein wenig verloren, als das Gespräch beendet war. Anscheinend wurde sie nicht gebraucht. Doch nach einer Weile übernahm ein anderes Gefühl. Es dauerte eine Weile, bis sie es deuten konnte.
Frei! Sie fühlte sich frei. Und voller Tatendrang.
Genauso, wie es in Vios Geschichte gestanden hatte, auf dem Schild:
Denn das zweistimmige Rauschen von Brandung und Wald ist die perfekte Melodie, die uns Frieden gibt und zugleich in Bewegung bringt … Sie fließt wie das Blut in den Adern, wie das Leben selbst, wenn es im Einklang mit sich und voller Energie ist.
Energie. Genau. Es musste an diesem Ort liegen. Nele beschloss, das Geschenk anzunehmen und diesen Zustand zu genießen. Sie hätte Timon gern gefragt, ob es ihm genauso ging, ob er das auch spürte. Aber er war nicht hier, also setzte sie sich stattdessen an den wackeligen Schreibtisch und überlegte. Die beiden Bäume, die zusammengewachsen waren, ließen sie nicht los. Es musste doch einen Weg geben, etwas über sie zu erzählen, ähnlich wie im Geschichtengarten, aber in einer anderen Form, noch passender.
»Joram hätte es gekonnt«, hatte Hella gesagt. Nun, da war er nicht der Einzige. Sie konnte so was auch.
Zufrieden mit sich selbst und müde von ihrem Tag ging Nele später ins Bett. Kurz bevor sie einschlief, in diesem seltsam durchsichtigen, schwebenden Zustand zwischen Wachen und Träumen, hatte sie den Gedanken, dass alle Projekte, die sie in ihrem Leben umgesetzt hatte und noch umsetzen würde, für sie wie Jahresringe waren, die man in abgesägten Baumstümpfen erkennen konnte. Von außen sah man sie dem Baum nicht an, und doch waren sie da. Vio hatte sie ihr bereits gezeigt, als sie klein gewesen war. Jahr für Jahr baute ein Baum eine Schicht auf, die sich um seinen Kern legte, wurde dicker, höher, fester und standhafter. Je nach Wetter, Nährstoffzufuhr und anderen Ereignissen war die Schicht dünner oder breiter, dunkler oder heller. Das Leben und das Wachsen hinterließen geheime Spuren im Stamm. Erst später, wenn der Baum gefällt wurde, sah man sie im Querschnitt des Holzes und konnte daraus lesen. Die Ringe bildeten das Wesen und die Geschichte des Baumes ab wie Falten im Gesicht eines Menschen. Jede Schicht machte ihn stärker.
All das galt auch für Neles Projekte. Mit diesem tröstlichen Gedanken schlief sie ein.
Am nächsten Morgen wurde sie von dem nun schon vertrauten Gezwitscher der Schwalben geweckt. »Die quasseln schon über ihre große Reise nach Süden«, hatte Quentin mit einem Lächeln erklärt, als Nele ihre geschwätzigen kleinen Nachbarn erwähnt hatte. »Für die Jungen ist das aufregend. In den nächsten Tagen werden sie fort sein.«
Nele zog sich hastig an, füllte eine Thermoskanne mit Tee, steckte diese zusammen mit zwei Bechern in den Rucksack und lief zum Steg am Bodden. Dort atmete sie die würzige Luft tief ein und beobachtete, wie die Sonne gelegentlich einen Lichtfinger durch die Wolken schob und silberne Streifen auf das Wasser malte, während der Wind das herbstblonde Schilf in eleganten Wellen mal hierhin, mal dorthin schwanken ließ. Schließlich sah sie Jakob in der Ferne seinen gewohnten Angelplatz auf einem Baumstamm ansteuern. Sie ließ noch etwas Zeit verstreichen, dann näherte sie sich vorsichtig. Vom Angeln verstand sie nichts. Würde sie ihm die Fische verscheuchen?
»Hallo, Jakob, störe ich?«, fragte sie leise aus einiger Entfernung. Doch er winkte sie mit einem herzlichen Lächeln heran. »Hallo, Nele! Nein, gar nicht, es sei denn, du wolltest hier schwimmen gehen. Außerdem wäre das nicht schlimm. Mir geht es nicht mehr so sehr um die Fische. Ich brauche nur einen Grund, Zwiesprache mit dem Morgen zu halten. Ich tue es aber auch gern mit dir. Setz dich doch.«
»Magst du einen Tee?«, fragte sie.
»Sehr gern. Ich vergesse immer, etwas Warmes mitzunehmen. Ist doch schon recht kühl heute. Ich liebe es, wenn die Luft so frisch ist.«
»Ehe ich es vergesse, wo finde ich hier eine Apotheke?«, fragte Nele.
»In Wustrow, die Fischland-Apotheke. Bist du krank?«
»Nein, ganz im Gegenteil. Ich brauche ein paar Zutaten für Tinte aus Pilzen.«
»Aha«, sagte er amüsiert. »Noch so einer.«
»Ein was?«
»Noch so eine kreativer Mensch. Ich bin anscheinend nur von solchen umgeben. Das geht seit Jahren so. Seit meine Tochter sich als kleines Mädchen von einer Künstlerin anstecken ließ, die nebenan wohnte. An mir kann es nicht liegen. Ich bin eher praktisch veranlagt. Aber vermutlich ist es diese Landschaft. Fischland-Darß hat ja schon seit einer Ewigkeit Künstler angezogen.«
»Kein Wunder, so schön wie es hier ist. Das Licht im Wald gestern Abend …«
»Ja.« Jakob nickte. »All das Licht. Im Wald und auf dem Meer. Über dem Bodden. Immer wieder neu und anders.« Er warf seine Leine aus. »Aber man muss es auch wahrnehmen und in sich hineinlassen. Das Licht allein bewirkt nichts.«
Nele dachte darüber nach. »Das stimmt wohl. Seit ich hier bin, sehe ich vieles neu und anders. Das liegt aber nicht nur am Licht und dem Land. Auch an den Menschen.«
Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Dann verstehst du dich gut mit Hella? Sie hat immer schon diesen Effekt auf die Leute gehabt. Darum waren ihre Führungen im Nationalpark so beliebt. Dieselben Feriengäste, die vorher ihren Müll einfach hingeworfen haben, halfen danach sogar bei Aktionen mit, ihn einzusammeln. Sie ist einfach überzeugend.«
»Das glaube ich. Ich bin sehr froh darüber, dass ich dank dir Hella und Quentin kennengelernt habe.« Und Timon, dachte sie, erwähnte ihn aber nicht. Jakob war einfach zu scharfsichtig.
»Das freut mich sehr. Und was wolltest du mich diesmal fragen?«
»Woher weißt du das?«
»Weil du jemand bist, der mich sonst nicht einfach so aufgesucht hätte, obwohl du dir nicht sicher warst, ob du mich störst. Außerdem weiß ich, dass Hella sehr hartnäckig sein kann. Geht es um die alte Windharfe?«
Vor Verblüffung hätte sie fast den Becher fallen lassen. »Du weißt davon?«
Jakob sah ein Weilchen ins Wasser, über dem späte Libellen flogen. Sie legten dort ihre Eier ab und zeichneten dabei Ringe auf die Oberfläche. »Ja. Joram hat in seinen letzten Jahren zeitweise wieder in Born gewohnt. Hella war noch nicht wieder zurück. Ist sehr lange her. Er hat mich damals gebeten, ihm bei einer Instandsetzung zu helfen. Allein hat er sich das nicht mehr zugetraut, obwohl er durchaus noch gut auf den Baum kam. Aber zwei Hände sind dafür nicht genug. Wir haben nur ein wenig geschraubt und gestrichen und einige Saiten nachgespannt. Er deutete an, wie wichtig ihm das war. Ich habe ihm angeboten, regelmäßig danach zu sehen, aber er winkte ab. ›Die kleine Hella wird eines Tages wiederkommen. Und dann ist es gut, wenn sie eine Aufgabe hat‹, sagte er. ›Sie hat es mir einst versprochen. Sag ihr nicht, dass du von der Harfe weißt. Wenn sie sich darum kümmert, wird es ihre Verbindung zur alten Heimat wieder festigen. Und sie wird sich gebraucht fühlen. Es ist gut, wenn man eine Aufgabe hat. Außerdem gibt es ein Geheimnis, das nur sie kennt.‹«
»Deshalb hast du mich zu Hella geschickt!«, erkannte Nele. »Obwohl du meinen Großvater kanntest und mir etwas über ihn hättest sagen können.«
»Er war dein Großvater? Das habe ich mir gedacht. Als du nach ihm fragtest und meintest, es sei etwas Privates. Da ist so etwas in deinen Augen, das mich an ihn erinnert. Ich kannte ihn nur sehr flüchtig. Aber ich hatte das Gefühl, es würde euch beiden, Hella und dir, guttun, wenn ihr euch begegnet.« Er zog die Leine ein, betrachtete den kleinen Fisch daran und warf ihn zurück ins Wasser. Dann legte er die Rute beiseite. »Ich denke, wenn die Harfe mit deiner Hilfe wiederhergestellt wird, schließt sich für Hella ein Kreis, und sie findet ihren inneren Frieden. Das würde mich freuen. Ich mag sie, und sie hat so viel für den Wald getan. Sie war eine wunderbare Vermittlerin zwischen ihm und den Menschen.«
»Ja, das habe ich gemerkt. Auch für mich hat sich darin eine ganz neue Welt eröffnet.«
»Am besten verrätst du Hella nicht, dass Joram mich damals eingeweiht hat. Wie kann ich euch denn helfen? Ich vermute, das wird eine Grunderneuerung. Beim letzten Mal schon war das Holz arg verwittert. Noch einmal streichen kann man das wohl kaum.«
»Sicher nicht, obwohl Hella vor einigen Jahren auch schon mal jemanden hinaufgeschickt hat.«
Sie berieten eine Weile und einigten sich darauf, dass Jakob Nele und Timon am nächsten Morgen mit seiner Kutsche in den Wald fahren würde.
»Da hat die lange Leiter gut darin Platz. Das ist eine Art Planwagen, da fällt sie nicht auf. Und wenn uns jemand fragt, warum die Kutsche nur mit zwei Gästen besetzt ist, sagen wir, ihr hättet sie anlässlich eurer Verlobung gechartert.« Jakob lächelte ihr zu, als sie protestieren wollte. »Nur ein Scherz. Morgen wird es kaltes Nieselwetter geben, da sollten wir nicht vielen Menschen begegnen.«
»Aber wenn wir auf den Baum steigen, kann das doch jemandem auffallen.«
»Wir ziehen uns grün an und behaupten, wir sind Waldarbeiter. Hella hat bestimmt noch irgendeine Jacke mit einem Rangerabzeichen.« Jakob schien die Sache Spaß zu machen. »Keine Sorge, Nele. Ich habe die Genehmigung dorthinzufahren, und es ist nicht verboten, eine Windharfe zu reparieren. Es wird aussehen wie Baumpflegearbeiten. Es werden ja zum Beispiel auch Fledermauskästen im Nationalpark aufgehängt und andere Nistgelegenheiten. Auch Fallen zur Messung vom Borkenkäferbefall.«
»Gut, wir steigen also in den Baum und sehen uns die Bescherung an. Und dann?«
»Dann nehmen wir die vier Originaltrichter herunter oder jedenfalls das, was noch davon übrig ist, und bauen sie aus neuem Holz genau nach. Ich habe genug Material im Bootsschuppen, auch Lack und Leim.«
»Dann kümmere ich mich um die Saiten.« Nele war erleichtert. Auf einmal schien die Aufgabe machbar.
Sie konnte es kaum erwarten, den Wind wieder zum Singen zu bringen, dort zwischen dem grünen Wipfelmeer und der Ostsee.