27

Die Tinte aus Pilzen. Wie ihr das die Erinnerungen zurückbrachte!

Quentin schlief schon lange, und selbst aus Timons Zimmer hörte man keinen Mucks mehr. Nur Hella fand keine Ruhe. Seit Nele nach dem Rezept gefragt und Hella nach so langer Zeit den alten Füllfederhalter in den Händen gehalten hatte, musste sie an ihr anderes Leben denken, an das mit Arthur. Gott hab ihn selig, sagte man früher, dachte sie. Aber selbst wenn ich gläubig wäre, das passt nicht zu ihm. Ich würde ihm wünschen, dass er in irgendeiner Form in einem Wald herumwandert. Das würde ihn selig machen. Nun, Teil des Waldes ist er ja, seine Asche ruht schon so lange im Friedwald, dass er in dem Baum, unter dem er liegt, gewiss schon in Richtung Himmel unterwegs ist. Mit jedem Frühling ein wenig mehr, wenn der Saft steigt und die Triebe und jungen Blätter erwachen …

Verstört war sie damals gewesen, als sie als junges Mädchen in der Ruppiner Schweiz ankam. Die Familie fasste Fuß, die Eltern arbeiteten im Gasthof Boltenmühle, die Schwester, so anders als Hella, fand rasch neue Freunde.

Aber Hella fehlten ihre alten Kraftquellen allzu schmerzlich. Sie fühlte sich, als hätte man sie mit den Wurzeln aus der Erde gerissen. Es schmerzte sie sogar körperlich. Mit dreizehn schien alles so dramatisch. Das Meer mit seinem beruhigenden Rhythmus war unerreichbar, Joram und die vertrauten Bäume auch. In der Schule war sie gut, aber das trug nicht dazu bei, Anschluss zu finden, im Gegenteil. Schnell wurde sie als Streberin verhöhnt.

Nach dem Unterricht eilte sie nach Hause, erfüllte ihre Pflichten und lief dann ziellos in der Gegend umher. Joram hatte immerhin recht behalten: Auch hier war sie in einem Wald, mittendrin sogar. Der war erschreckend grandios, wunderbar und endlos, und er überwältigte die junge Hella, weil er so anders roch, klang und wirkte und sie sich nicht auskannte. Hier ging es steil bergauf und bergab, es gab keinen Strand, an dem sie sich orientieren konnte, und alles war unübersichtlich. Die Bäume, noch nicht ganz winterkahl, schienen sich in wilden Schluchten von allen Richtungen über Hella zu beugen. Überall trat sie in Laubhaufen, die der Wind in den Senken aufgetürmt hatte, und versank bis über die Knie darin. Sie wusste bald nicht mehr, wo sie war und wie sie zurückfinden sollte. Joram hatte ihr so viel beigebracht, vom Sonnenstand und von Moos, das immer auf einer bestimmten Seite der Stämme wuchs, aber sie geriet in Panik und konnte sich an nichts mehr erinnern. Sie fühlte sich von dieser fremden, farbenfrohen und geheimnisvoll wilden Umgebung gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Schließlich hockte sie sich unter eine Buche ins Moos, schlug die Hände vors Gesicht und weinte.

»Hallo. Bitte nicht erschrecken«, sagte eine sanfte, selbst etwas erschrocken klingende Stimme. Eine junge Männerstimme. Für einen Augenblick war es Hella, als hätte sie Joram heraufbeschworen. Das machte ihr Mut, die Hände vom Gesicht zu nehmen, verheult wie sie war.

»Ich bin Arthur«, sagte er. Er trug grüne Sachen mit irgendwelchen Abzeichen und sah ganz anders aus als Joram – eher zierlich, ordentlich frisiert, ohne Bart und mit einem gebügelten Hemdkragen unter der Arbeitsjacke. »Was ist denn passiert?«

»Alles!«, entfuhr es ihr teils kläglich, teils mit der aufgestauten Wut über die Ungerechtigkeit der Welt.

»Oh. Das ist viel. Ein guter Grund für Tränen.« Er lachte sie nicht aus, lächelte nicht einmal. Er setzte sich einfach neben sie, nicht zu nahe, und schwieg. Hellas Tränen versiegten bald. Sie wusste nicht, was sie mit der Situation anfangen sollte, und war doch dankbar über seine Gegenwart.

»Gefällt es dir im Wald nicht?«, fragte er schließlich.

»Doch! So sehr! Aber es ist der falsche!«

»Und wo ist der richtige?«, erkundigte er sich interessiert.

»Auf dem Darß.«

»Ah, verstehe. Das ist ein Problem. Könntest du mir vielleicht trotzdem ein wenig glauben, wenn ich dir sage, dass dieser Wald hier auch jede Menge Zauber zu bieten hat? Ich bin Forstgehilfe, weißt du. Ich muss es wissen, auch wenn ich selbst noch sehr viel zu lernen habe. Ich will dich nicht bloß trösten. Es ist die reine Wahrheit. Wenn du möchtest, kann ich es dir zeigen.«

»Ich …« Sie wollte ablehnen, wollte nur weg, sich verkriechen und schämen. Aber wenn sie damals vor Joram fortgelaufen wäre, dann hätte sie alles versäumt, was ihr bisher etwas bedeutet hatte, fiel ihr ein. Joram und die Bäume waren ihre einzigen Freunde gewesen. Nun hatte sie niemanden mehr. Das hielt sie nicht aus. »Ja, aber ich muss erst mal nach Hause. Ich habe mich verlaufen. Und ich bekomme Ärger, wenn ich nicht rechtzeitig zu Hause bin.«

»Stimmt, es dämmert bald. Wohin musst du?«

»Zur Boltenmühle.«

Sein Gesicht hellte sich auf. »Wer kennt die nicht? Ich bringe dich hin.«

Sie folgte ihm in der Hoffnung, dass er so vertrauenswürdig war, wie er aussah, und dass ihre Eltern ihn nicht bemerken würden. Eine andere Wahl hatte sie ohnehin nicht.

Arthur führte sie Pfade entlang, die sie niemals gefunden hätte, und dann zu einer Bank auf halber Höhe eines Abhangs. Er zeigte aus dem Schutz der Bäume heraus nach unten. »Dort ist es, siehst du?«

Ja, da war das gewaltige alte Mühlrad, moosbewachsen und mit einer ganz eigenen Würde. Es war das Einzige, was sie an diesem fremden Ort bisher ins Herz geschlossen hatte. Der erste Anker in ihrer Zukunft.

»Den Rest schaffst du allein«, sagte er. »Wenn du willst, können wir uns morgen hier treffen – so um drei? Dann zeige ich dir, was ich meine. Ich habe hier ohnehin zu tun.«

So fing es an. Als sie ihn am folgenden Tag traf, führte er sie den Bach entlang, der an der Mühle floss. »Am Binenbach kannst du dich immer orientieren«, sagte er. »Er ist einer der schönsten Bäche, die ich kenne. Vielleicht kann er dich einmal etwas dafür entschädigen, dass hier kein Meer ist. Ich werde dir zeigen, wie viel Wasser es hier gibt. Heute möchte ich dich mit dem Tornowsee bekannt machen.«

»Warum heißt er Bienenbach? Gibt es hier im Wald so viele Bienen?«

»Nein, er ist nicht nach den Bienen benannt, sondern nach einer Försterstochter namens Sabine, die in alten Zeiten hier lebte. Sie soll sich im Wald eine Zeitlang mit dem Kronprinzen Friedrich getroffen haben.«

Wie Joram und ich, dachte Hella und war seltsam getröstet. Sie fühlte eine Seelenverwandtschaft zu jener Bine.

Ihre Laune stieg mit jedem Pilz, Vogel und Baum, den Arthur ihr zeigte, und als sie den See erreichten und die Sonne herauskam, war sie beinahe glücklich. Sie setzten sich auf einen hölzernen Steg und sahen zu, wie das Licht auf dem Wasser funkelte. Es war nicht das Meer, aber es war Wasser, und Hella begann, sich wieder wie sie selbst zu fühlen. Vor allem weil Arthur sie ernst nahm und sich mit ihr unterhielt wie mit einer Erwachsenen. So wie sie es an Joram geliebt hatte. Er wusste sogar noch mehr über den Wald, weil er kein Künstler war, sondern Forstwirtschaft lernte. Das Gespräch mit ihm tat ihr wohl.

»Guck mal, die Schwäne dort.« Er zeigte auf das andere Ufer. »Siehst du, wie die Jungen noch etwas ratlos umherschwimmen? Sie sind neugierig, aber auch furchtsam, wissen noch nicht recht, wohin mit sich. Der Vater Schwan, das Familienoberhaupt, weist sie ständig zurecht.« Ja, es war beeindruckend, wie der majestätische Vogel sich immer wieder aufschwang und fauchend über das Wasser zu laufen schien, während seine Flügel Tropfen in die Luft peitschten.

»Er zeigt ihnen, wer der Chef ist«, erklärte Arthur. »Sie haben im Moment nicht viele Möglichkeiten, als sich zurückzuhalten und still zu lernen. Aber wenn es so weit ist, werden sie ihren Weg gehen und sich ein eigenes Revier suchen. Manchmal muss man einfach Geduld haben, bis die richtige Zeit für etwas gekommen ist.«

An jenem Tag machten ihr seine Worte Mut. Aber sie ahnte nicht, wie prophetisch sie waren und wie viel Geduld Arthur selbst aufbringen würde, der sieben Jahre älter war als sie. Auch konnte sie nicht wissen, dass er ebenso einsam war wie sie, weil er immer schon anders als seine Altersgenossen gewesen war.

»So jung du auch warst, niemand hat mich, meine Freude an der Einsamkeit und Stille hier draußen und meine Zuneigung zu allem, was hier wächst und lebt, so tief verstanden wie du«, sagte er Jahre später.

Wenige Tage nach dem Besuch am Tornowsee zeigte Arthur ihr Pilze, die sie extrem gruselig fand. Er lächelte.

»Ja, aber du findest doch auch, dass man niemanden wegen seines Äußeren ablehnen soll«, erinnerte er sie. Hella hatte ihm erzählt, wie oft sie selbst gehänselt wurde, weil sie lieber Arbeitshosen trug als Röcke und oft schmutzige Knie und Finger hatte, wenn sie unterwegs gewesen war. »Du wirst diese Schopftintlinge mögen, denn sie haben eine wunderbare Fähigkeit.«

Sie stellten zusammen Tinte daraus her, und für Hella, die ihm zusah, wie er das Nelkenöl und das Gummi Arabicum hineinrührte, war es wie Zauberei.

»Das ist keine gewöhnliche Tinte«, sagte er. »Wenn du damit zum Beispiel in ein Heft schreibst, was du alles in der Natur entdeckst und darüber lernst, und auch, was dich alles sonst noch so bewegt, dann hilft dir das an schwierigen Tagen. Das Aufschreiben an sich sowieso. Aber diese besondere Tinte unterstützt das noch. Die Kraft des Waldes ist darin und tröstet.«

Hella glaubte ihm. Sie glaubte ihm alles, denn er machte ihr das Leben nicht nur erträglich, es wurde durch ihn auch so bunt wie die Blätter, die im nächsten und jedem folgenden Herbst in den Schluchten und auf den Höhen in Rot, Orange, Bronze und Gold brannten. Er schenkte ihr ein Heft dazu und einen Füllfederhalter, den sie ehrfürchtig in die Hand nahm und gegen das Sonnenlicht hielt. »Ist der Griff etwa aus Bernstein?«

»Ja«, sagte er verlegen, »ich dachte, das erinnert dich an die Ostsee und könnte dir Freude machen.«

Hella begann an jenem Abend damit, alles im Heft zu notieren, was ihr in den Sinn kam, und stellte fest, wie recht er hatte. Ihre Gedanken auf Papier zu ordnen verlieh ihr eine stetige Kraft. Jedes Jahr rührten sie diese Waldtinte an, und Hella stellte sich vor, dass alles, was in jenem Sommer gewesen war, seine Spuren darin hinterließ wie das Wetter in den Jahresringen der Bäume.

Hella vergaß den Wald auf dem Darß nie, doch sie verliebte sich auch in diesen neuen, anderen Wald, lange bevor aus ihrer kameradschaftlichen Freundschaft zu Arthur Liebe wurde. Da war er schon Revierförster, und sie hatte unendlich viel von ihm gelernt.

Er war nicht Joram. Aber er machte sie glücklich.

Sie wurde selbst erst Forstfacharbeiterin, dann studierte sie Forstwirtschaft, und Arthur unterstützte sie dabei. Kinder blieben ihnen verwehrt, aber sie waren einander genug. Sie hatten ja die Bäume. Als er mit sechzig an einer Lungenentzündung starb, übernahm sie seine Stelle. Nun half ihr der Wald, mit ihrer Trauer umzugehen. Dort und auch immer, wenn sie die Schwäne auf dem Tornowsee sah, war Arthur ihr nahe. Sie wusste, auch wenn sie nicht mehr jung war, würde sie sich doch wie die Schwäne der neuen Generation noch einmal ein neues Revier suchen.

Denn nun, da Hella allein und so viel älter war, rief die Ostsee wieder nach ihr, und das grüne Wipfelmeer, mit dem diese sich unterhielt. Auch hatte Hella nie vergessen, was sie Joram versprochen hatte.

Sie war ihm etwas schuldig. Ohne ihn hätte sie nie dieses tiefe, glückliche Leben mit dem Wald geführt, nicht nachdem man sie früher für ihre Beziehung zu Bäumen dermaßen ausgelacht und verachtet hatte. Seinetwegen hatte sie den Mut gehabt zu werden, was sie war. Seinetwegen war sie wissbegierig und neugierig, hungrig auf das Leben geworden. Und hätte er ihre Entwicklung nicht beeinflusst, wäre sie Arthur gegenüber nie so aufgeschlossen gewesen.

Hella wollte nach Hause. Und ihr Versprechen einlösen. Doch sie wollte auch den wilden Wald am Binenbach mit seinen wilden, märchenhaften Schluchten nicht im Stich lassen. Und so kehrte sie erst dann auf den Darß zurück, als sie das Rentenalter erreicht und eine geeignete Nachfolgerin gefunden hatte, der sie vertraute.

Dass ihr dann dort im Nationalpark noch einmal eine große Liebe begegnen würde, war ein völlig unerwartetes Geschenk, für sie immer noch nicht ganz fassbar. Allmählich begriff sie, dass das Leben immer wieder überraschende Wunder bereithielt, solange man nur offen dafür blieb.

Dass nun eine Enkelin Jorams aufgetaucht war und ihr half, das Versprechen zu erfüllen, war auch so eines.

Vielleicht lag es an den guten Geistern, die sie mit den Bäumen um das Haus gepflanzt hatte. Hella zog sich mühsam Stiefel und einen dicken Mantel über den Schlafanzug und ging in die stille Nacht hinaus. Dort lehnte sie sich eine Weile an die Kiefer, bevor sie eine der letzten Rosenblüten zwischen die Wurzeln legte.

»Danke, für alles«, flüsterte sie.