Nele

28

Die Helligkeit kroch gerade erst in den Herbsthimmel. Vor den grauen Wolken leuchteten die gelben Ahorn- und roten Eichenblätter noch stärker, als sie es im Sonnenlicht getan hätten. Eine zarte Feuchtigkeit lag in der Luft, halb Nebel, halb silbriger Nieselregen.

Die Hufe der zwei gutmütigen Kaltblutpferde, die Jakob als Maha und Goni vorgestellt hatte – »Das war Anna-Lisas Idee. Meine Tochter meinte, bei dieser Farbe müssen sie unbedingt so heißen.« –, verursachten so gut wie kein Geräusch auf dem weichen Waldweg. Außer dem Klopfen eines Spechts, dem Krächzen eines Krähenpaars, dem Schimpfen eines Eichhörnchens und einem Rotkehlchen, das plötzlich in überschwänglichen Gesang ausbrach, war alles still. Erst als sie sich der Küste näherten, kam Wind auf und trug auch das Wellenrauschen landeinwärts.

Sie begegneten vereinzelten Joggern, doch niemand interessierte sich für den Inhalt der Kutsche.

»Ab hier ist Schluss«, sagte Jakob, als sie am Leuchtturm ankamen. »Hier müssen wir den Wagen stehen lassen, den Rest schaffen wir zu Fuß. Ich sage nur kurz im Natureum Bescheid, dass ich Maha und Goni hier stehen lasse. Die kennen das schon und haben ein Auge auf die beiden.«

»Das Museum hat jetzt schon offen?«, fragte Nele erstaunt. Da wollte sie auch noch hin, irgendwann, wenn es leerer war als neulich.

»Ach, Jakob kennt hier jeden. Irgendwelche hilfreichen Menschen sind da immer, und wenn es ein Pförtner ist«, erklärte Timon. »Kannst du den hier tragen? Da ist Werkzeug drin. Dann helfe ich Jakob mit der Leiter.« Er reichte ihr einen Rucksack.

»Klar. Findest du denn den Baum wieder?« Nele blickte etwas ratlos in den Wald, während sie die zu langen Ärmel von Hellas grüner Rangerjacke unter den Tragriemen glatt zog. Timon sah anrührend gut aus in seinem grünen Parka und der Schirmmütze, die recht offiziell wirkte, fand sie.

»Ich nicht, aber das Navi.«

»So, wir können.« Jakob war zurück und fasste nun nach dem einen Ende der Leiter.

Es stellte sich heraus, dass das Navi überflüssig war. Jakob wusste nach all den Jahren immer noch genau, wo der Baum war. »Wenn der Tag kommt, an dem ich so etwas nicht mehr weiß, dann steige ich auch nicht mehr auf Leitern«, sagte er.

Am Ende blieb er aber auch an diesem Tag unten, denn Nele bestand darauf, selbst in den Baum klettern zu dürfen. Sie hatte es schon in dem anderen so schön gefunden. Dass sie nun auf den Spuren ihres Großvaters auch in diesen kletterte, war unverzichtbar.

»Außerdem ist sie die musikalische Fachfrau«, sagte Timon zu Jakob.

»Nicht nur musikalisch«, sagte Nele und nahm ihm den Schraubenzieher und das Cuttermesser aus der Hand, die er in seine Tasche stecken wollte. Sie ließ beides in ihrer eigenen verschwinden. »Damit kann ich auch umgehen.«

Von der oberen Stufe der Leiter war es ein Leichtes, sich auf einen Ast zu ziehen. Die dicht benadelten Zweige der Kiefer umhüllten sie schützend. Das bescheidene Licht des grauen Tages, das hindurchfiel, war grünlich und gab allem einen unwirklichen Anstrich. Es war wie eine andere Welt hier oben. Der Duft war intensiv, sie spürte, wie er wohltuend tief in ihre Lunge drang. Ein winziger Vogel huschte wieselflink an der Rinde des Stammes entlang und warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Ein Baumläufer«, sagte Timon unter ihr. »Charmant, die kleinen Burschen. Sieh mal, hier ist einer der Trichter! Oder vielmehr das, was davon übrig ist.«

Er schob einen Zweig beiseite und griff nach etwas, das auf den ersten Blick noch wie ein festes Holzbrett wirkte, aber sobald er es vom Efeu befreite und daran zog, sich schlaff bog, als wäre es aus Pappe. »Hm, das ist völlig durchweicht. Hier kann man nicht mal mehr die ursprüngliche Größe ausmessen. Nur ungefähr.« Etwas ratlos hielt er einen Zollstock daran und notierte etwas im Handy. »Meinst du, die Trichter waren alle gleich groß? Jakob, Vorsicht!« Er ließ die in Auflösung begriffenen Fetzen nach unten fallen und säuberte den Ast von den Resten. »Das Astholz darunter ist zum Glück noch in Ordnung. Ich markiere die Stelle.« Er band ein Stück Schnur darum.

Nele dachte nach. »Ja, wahrscheinlich. Sie wollten ja so viel Wind wie möglich einfangen. Den Unterschied in den Klängen hat man bestimmt mit den Saiten erreicht.« Für jeden Wind eine andere Stimme, dachte sie. Der Westwind, der den Frühling bringt, klingt leicht, warm, hell, optimistisch. Wie Frühling eben. Zephyros hieß er, glaube ich. Notos, der sommerliche Südwind, etwas tiefer, ein langsamer, gemütlicher, vor allem warmer Klang. Apheliotes, der Ostwind im Herbst, hat eine strengere, leidenschaftlichere Note, hoch und tief zugleich, da wird es am kniffligsten, die Saiten so zu stimmen, dass sie harmonieren und den richtigen Akkord ergeben. Boreas, der Nordwind im Winter, besitzt einen hohen, kühlen Klang von Eis und Schnee …

»Nele?«

»Entschuldige. Ja?« Sie schrak aus ihren Gedanken auf.

»Kannst du da oben noch etwas entdecken? Vielleicht in der entgegengesetzten Richtung?«

Sie sah sich genauer um. »Ja. Moment, hier weiter oben. Gib mal den Zollstock.« Der zweite Trichter war in demselben verrotteten Zustand, außer dass ein paar Schnüre heraushingen, die einmal Saiten gewesen waren. Nele rief Timon die noch erkennbaren Maße zu. »Ja, das sind wohl dieselben«, meinte er und reichte ihr eine Schnur hinauf. Nele band sie um den Ast, entsorgte mit einigem Bedauern auch diese Reste nach unten und blickte sich weiter um. »In die Ostrichtung sehe ich nichts. Du?«

Timon bewegte die Zweige und spähte entlang jeden Astes. »Nein. Gar nichts. Doch, warte mal! Hier ist ein dunkler Fleck. Und eine rostige Schraube mit einem winzigen Stückchen Brett. Da wird der Trichter gewesen sein. Die Reste sind bestimmt längst abgestürzt und verschwunden.« Er markierte auch diese Stelle. »Fehlt noch der Norden. Aber da sehe ich auch nichts.«

»Nein, aber ich höre etwas! Den Ton von neulich, nur stärker!«

Nele war noch höher geklettert. Von hier aus konnte sie über viele der anderen Baumkronen und über die Dünen hinweg bis hinaus auf das Meer blicken. Sie musste sich zwingen, sich zu konzentrieren. Der Ton hatte etwas Hypnotisches. Am liebsten wäre sie hier sitzen geblieben, den Stamm im Rücken, hätte nur Wind, Wellen und den Klängen zugehört und in die Weite gesehen. Kühl war es allerdings auch, und sie konnten Jakob nicht ewig da unten stehen lassen. Nele schob die Zweige beiseite und folgte dem Ton, bis sie den Kasten entdeckte. »Ich hab ihn! Hey, der sieht noch gut aus!«

»Pass bitte gut auf da oben!«, rief Jakob hinauf.

Nele robbte sich langsam vorwärts und betastete das Holz. Es war noch einigermaßen fest, auch wenn es sich an den Ecken ebenfalls aufzulösen begann. Die Zweige darüber hingen voller Kiefernzapfen und waren wohl so dicht, dass weniger Regenwasser diesen Trichter getroffen hatte. Innen hingen einige zerrissene Saiten an verrosteten Stimmwirbeln. Nur eine einzige war noch gespannt, wie vermutet. Eine Flechte hing daran. Als Nele dem Wind den Weg versperrte, verstummte der Ton.

»Ich schraube den Kasten ab, wenn es geht«, rief sie hinunter. Erst kratzte sie mit dem Cuttermesser einigen Rost aus den Schrauben, die den Trichter am Ast hielten, und klopfte dann mit dem Stiel des Schraubenziehers dagegen. Schließlich konnte sie die Gewinde mit viel Mühe lösen. »Gib mal das Schnurknäuel!«

Timon reichte es ihr hinauf. Sie band den Trichter vorsichtig daran und ließ ihn langsam hinunter. Das war nicht einfach, immer wieder blieb er an einem Ast hängen, von dem Timon ihn dann mit einem langen Stock befreien musste.

»Ich habe ihn!«, rief Jakob endlich. »Jetzt kommt runter, ehe noch was passiert. Der Wind nimmt zu!«

In der Tat rauschte es inzwischen heftig in den Ästen, und Blätter eines nahen Ahorns wirbelten vorbei.

Der Wind ist ärgerlich, dachte Nele unwillkürlich, und schüttelte dann den Kopf über sich selbst. »Wir machen die Harfe nur wieder ganz!«, flüsterte sie trotzdem besänftigend und hoffte, dass Timon sie nicht hörte.

Unten strich sie ehrfürchtig mit den Händen über das alte, wettergegerbte Holz. Dies hier hatte ihr Großvater gebaut, als er noch jünger war als sie. Als er fast noch am Anfang seines Lebens stand und in eine ungewisse Zukunft aufbrach, in sein ganz persönliches Abenteuer. Und dann hatte er sein Leben lang seine Ideen umgesetzt.

»Hier, wir wickeln den Kasten in den Sack. Gut, dass wir den als Modell nehmen können.« Jakob war ein Stück weit weg auf eine Lichtung getreten, wo mehr Platz war. Nele und Timon folgten ihm mit der Leiter. Vom Pfad her näherten sich Stimmen. Zwei Pärchen tauchten auf.

»Was machen Sie denn da?«, fragte einer der Männer misstrauisch.

Jakob wies mit dem Daumen vage in den Wald, weg vom Windharfenbaum. »Borkenkäfer!«, sagte er in einem gewichtigen Tonfall.

»Ihhh!« Die eine Frau griff nach der Hand ihres Partners. Ohne weiteren Kommentar verschwanden sie Richtung Strand.

Nele nahm den eingewickelten Trichter behutsam in die Arme. »Kümmert ihr euch mal wieder um die Leiter, ich trage das hier!« Sie war plötzlich voller Euphorie. Sie würden Hellas Wunsch erfüllen, Vio würde sich auch freuen, und das Projekt ihres Großvaters würde fortleben. Und vielleicht brachte es dem Wald ja tatsächlich Glück, indem es die Menschen unbewusst ansprach, die hier vorbeikamen.

Außerdem freute sie sich riesig darauf, an dem Instrument zu arbeiten, und das mit Menschen wie Jakob und vor allem Timon.

Maha und Goni wieherten erfreut, als sie sich ihnen näherten. Jakob begrüßte die beiden, während Nele und Timon die Leiter und ihre Trophäe verstauten.

Auf dem Rückweg wurde nicht nur der Wind heftiger, auch der Regen trommelte auf die Plane. Drinnen war es beinahe gemütlich, fand Nele. Timon setzte sich dicht neben sie, um sie vor dem Wind zu schützen.

»Schon toll, dass wir noch etwas gefunden haben«, sagte er versonnen. »Das zeigt, dass manches, was gut ist, eben doch nicht so schnell kaputtgeht.«

In Jakobs Bootsschuppen betrachteten sie den Trichter. »Ich säubere ihn und fertige ein Schnittmuster an«, beschloss Nele, der es widerstrebte, den alten Trichter aus der Hand zu geben. Wiederverwenden konnte man ihn nicht, aber sie wollte ihn wenigstens trocknen und aufheben.

Timon schien sie zu verstehen. »Ich suche schon mal passende Bretter«, sagte er.

»Und ich mache die Säge klar und stelle den Bootslack bereit. Der hält am meisten aus«, ergänzte Jakob. Die Männer zogen sich zurück und ließen Nele allein.

Sie befreite das Holz erst mit einer Bürste, dann einem Pinsel und schließlich mit einem feuchten Schwamm von Spinnweben, Flechten und Schimmel, so gut es ging. Nun war erkennbar, aus welchen Flächen der breite, flache Trichter zusammengesetzt war, der erst enger wurde und sich dann wieder weitete. Nele schnitt maßgerechte Flächen aus Zeitungspapier aus, nummerierte sie durch und machte eine Skizze davon, wie sie zusammengesetzt werden mussten. Das Holz trocknete mittlerweile und wurde bereits heller. Da fiel Nele zwischen den Schmutzflecken etwas auf. Etwas Symmetrisches, das anders aussah als eine Verschmutzung. Etwas Gezeichnetes … nein, es war eine Vertiefung. Eingeschnitzt! Sie bürstete noch einmal daran herum und holte eine Lampe näher heran.

Vier Kreise, die sich wie zu einem Kleeblatt zusammenfügten. Darin unten jeweils ein nach oben gebogener Strich, der ein Lichtreflex sein konnte, wie man sie in einer Zeichnung macht, um etwas dreidimensional aussehen zu lassen – oder waren es Münder? Sollte das vier Köpfe symbolisieren? Ja, das konnte gut sein. Vier Freunde, vier Windrichtungen. Und was war das in der Mitte? Eine Schnecke? Nein, es sah ja ähnlich aus wie eines der Symbole für Wind, so wie man es aus Wetterkarten kannte! Es hätte aber ebenso eine Welle darstellen können. Vielleicht stand es für beides?

Darunter ein kaum noch leserlicher Schriftzug. Boreas , entzifferte sie schließlich.

Dann war dieses Symbol bestimmt auf jedem der Trichter angebracht gewesen, als Signatur. Mit den Namen der Winde darauf.

»Jakob, kannst du schnitzen?«, fragte sie.

»Eher nicht, tut mir leid.«

»Aber ich!«, sagte Timon.

»Wunderbar!«, freute sich Nele. »Guck mal, kannst du dann das hier kopieren?«

Er studierte die Symbole. »Doch. Kann ich. Das ist nicht kompliziert. Ich zeichne es mir eben mal durch.«

»Hab ich schon.« Sie reichte ihm einen Stapel Papier. »Hier sind auch die Schnittmuster und die Bauzeichnung.«

»Perfekt. Und wir haben prima Bretter gefunden.«

»Haben wir auch rostfreie Schrauben?«, fragte sie. »Sonst besorge ich die noch.«

»Nicht nötig. Die habe ich schon herausgesucht.« Er strahlte sie an. »Wir sind ein gutes Team, Nele Sommer. Los! Bauen wir eine Windharfe!«

Freute er sich so auf die Arbeit, oder weil sie es zusammen tun würden? Sie konnte es nicht deuten. Immerhin, vorerst genügte es ihr.