Hella bestätigte, dass Joram damals das Symbol in das Holz geschnitten hatte.
»Er hat ein ganzes Jahr mit seinen drei Freunden in einer Hütte im Wald gelebt. Es war ein prägendes Jahr für ihn. Ich weiß nicht viel über diese Freunde, ich habe sie kaum je gesehen«, sagte sie nachdenklich. »Sie waren voller Ideen und haben sich gegenseitig angeregt. Aber sie konnten nicht ewig dort bleiben, sie standen ja erst am Anfang ihres Lebens. Außerdem begann die Nationale Volksarmee, sich dort breitzumachen. Als die vier dann auseinandergingen, jeder mit eigenen Plänen, jeder in eine andere Richtung, um ihr Glück zu suchen, da bauten sie zum Abschied gemeinsam die Windharfe, das weißt du ja schon. Das Symbol auf den Trichtern stand für diese Freundschaft, für Einigkeit und gleichzeitig für Individualität, für frei sein wie der Wind und für Aufbruch. Der Wind würde sie immer verbinden, weil er in allen Bäumen zu hören ist, egal wo man sich befindet, so erklärte es Joram.« Hella legte eine Hand auf Neles Arm und lächelte sie wehmütig an. »Ich freue mich, wenn ihr das Symbol vom Original übernehmt, es gehört unbedingt auf die Windharfe. Das ist ganz sicher im Sinne deines Großvaters.«
»Hast du je wieder etwas von diesen Freunden gehört?«, fragte Nele. »Es ist doch sehr wahrscheinlich, dass auch von ihnen mal einer zurückgekehrt ist und nach der Harfe gesehen hat.«
»Ich war ja nicht hier«, erinnerte Hella sie. »Ich hätte auch niemals einen von ihnen erkannt. Ich habe sie meist nur flüchtig aus der Ferne gesehen, und Joram sprach kaum von ihnen. Wir beide hatten anderes zu tun, wenn wir zusammen unterwegs waren.«
»Weißt du ihre Namen?«
Hella runzelte die Stirn, dann huschte ein kleines Lächeln in ihre Mundwinkel. »Einer davon hieß Stellan, dem bin ich mit Joram einmal begegnet. Er war aus dem Norden, da wo Joram hinwollte. Schweden, glaube ich. Über die anderen weiß ich nichts. Soweit ich mich erinnere, haben sie sich gegenseitig meist bei Spitznamen gerufen, den Namen, die bei der Windharfe unter den Symbolen standen.« Nele wartete, aber mehr kam nicht.
Wenige Tage später standen vier nagelneue hölzerne Trichter in Jakobs Werkstatt und warteten nur darauf, gestrichen zu werden. Während der Leim noch trocknete, konnte sich Nele anderen Dingen zuwenden.
Die geheimnisvollen Pilze hatten sich tatsächlich fast gänzlich aufgelöst. Nele fand ein Sieb in der Küchenschublade und goss die Flüssigkeit hindurch. Nur ein paar faserige Krümel blieben übrig. Das Nashorn blickte noch ungläubiger als sonst. »Wenn du weiter so kritisch guckst, male ich dir mit der Tinte ein Lächeln«, sagte sie streng zu ihm und fand die Idee verlockend. Aber sie hatte im Umgang mit ihren Vermietern ihr Glück genug strapaziert und beschloss, das besser nicht zu übertreiben.
Sie rührte das Nelkenöl und das Gummi Arabicum ein und kam sich dabei vor wie eine mittelalterliche Medizinfrau. Es hatte etwas Magisches, Verschwörerisches, einfach weil sie wusste, wie gespenstisch die Pilze ausgesehen hatten, wie modrig die Erde gerochen hatte, als sie sie geerntet hatten, und wie dunkel es bis auf den Lichtkegel von Timons Taschenlampe gewesen war. Neles Erfahrungen mit Tinte hatten sich bisher auf die kleinen Plastikpatronen beschränkt, die man in Plastikfüller schob. Das hier war etwas ganz anderes.
Die Flüssigkeit besaß nun eine Konsistenz, die ihr nicht zu dünn und auch nicht zu zäh erschien. Mit einem gewissen Stolz füllte Nele sie in ein hübsches grünes Schraubglas um, das sie in der Nähe der Apotheke in einem Souvenirladen erstanden hatte.
Ehrfürchtig legte sie sich Papier und die Schreibfeder mit dem Bernsteingriff zurecht. »Bernstein ist Kiefernharz, nur eben viele Millionen Jahre alt«, hatte Hella gesagt. »Ist das nicht wundervoll, dass die Essenz einer Kiefer dermaßen lange erhalten bleiben kann, und dann noch so wunderschön und lichterfüllt? Genau so, als wäre darin auch das alte Sonnenlicht mit seiner ganzen Wärme noch gegenwärtig. Das macht Mut, findest du nicht? Dass etwas bleibt von allem, was lebt, und wenn es nur altes Licht ist.«
Es dauerte eine Weile, bis Nele herausgefunden hatte, wie weit sie die Feder am besten in die Tinte tauchen musste, welche der verschiedenen auswechselbaren Federn wofür geeignet waren und was die optimale Handhaltung war. Wann die Striche breit wurden und wann feiner und wie der ungewohnte Schwung ausgenutzt werden konnte. Der Bernstein lag leicht und warm in ihrer Hand. Der Umgang mit dieser Feder und dieser Tinte hatte etwas Beruhigendes, Entspannendes. Ein Geruch nach Wald und Erde breitete sich im Zimmer aus, und das Nelkenöl steuerte eine verfrüht weihnachtliche Note von Glühwein und Lebkuchen bei.
Neue Abenteuer , schrieb Nele quer über das Papier und begann, die Buchstaben zu verzieren – mit Gräsern, Farnen, Blättern und Wurzeln, dazwischen hier eine winzige Maus, dort ein frecher Frosch, da eine zarte Libelle.
Es hatte etwas Meditatives. Ihr wurde dabei bewusst, wie spannend ihr gerade alles vorkam. Vielleicht würde nicht jeder verstehen, was daran so aufregend war, in einem Wald herumzulaufen, mit alten Menschen Zeit zu verbringen und alles Mögliche auszuprobieren wie Windharfenbau, Tintenherstellung und Wandgestaltung –, aber wen kümmerte das noch? Nele jedenfalls fand es faszinierend, und so wie Hella es von Joram und später Arthur gelernt hatte, wollte sie sich dafür nicht mehr verteidigen müssen, dass sie anders war. Wie hatte Hella gesagt? »Joram gab einem die Erlaubnis, man selbst zu sein.«
Genau. »Die gebe ich mir jetzt auch!«, sagte sie zu dem Nashorn und setzte ihren Namen mit Schwung unten auf das Blatt wie eine Signatur unter ein gültiges Dokument. Dann heftete sie es an die Wand, an einen der Baumstämme. Aus einem Impuls heraus machte sie ein Bild davon und schickte es an Timon mit den Worten: Die Tinte funktioniert!
Die Antwort kam sofort. Gefällt mir sehr! Die Botschaft, und die Kunst. Die Verzierungen sind noch schöner als die Schrift.
Er hatte recht. Nele betrachtete ihr spontanes Probewerk, dann nahm sie sich ein neues Blatt. Zum Schreiben war die Tinte beinahe zu schade. Sie hatte so etwas Dreidimensionales an sich.
Nele begann, Bäume zu zeichnen. Einen geheimnisvollen Wald an einem einsamen Strand, voller Wurzeln und verwittertem Treibholz. Den Weststrand. Dann fiel ihr das Symbol auf dem Windharfentrichter ein, und sie begann, ein eigenes zu entwerfen. Einen Baum, winterlich, mit nur noch zwei Blättern an den Enden eines Astes. Nur jemand, der Gebärdensprache beherrschte, würde bemerken, dass in den filigranen Formen der Äste die Geste für »glücklich« versteckt war: die beiden erhobenen, nach innen gekehrten Daumen in einer schwungvollen Aufwärtsbewegung. Da sich aber in der Zeichnung nichts bewegte, konnte man auch die Geste für »Leben« darin entdecken.
Und im Geflecht der Wurzeln verbargen sich, kaum sichtbar, als Signatur die Buchstaben N – e – l – e.
Die beiden Blätter standen für Noelie und Nele. Für Vio und Joram. Für Hella und Joram. Für Hella und Arthur. Für Hella und Quentin. Für alle, die zusammen glücklich gewesen waren oder sich etwas bedeuteten. Für Nele und … Timon? Nele gestand sich ein, dass sie sich das wünschte. Je mehr Zeit sie mit Timon verbrachte, desto mehr genoss sie es – die Zusammenarbeit, das gemeinsame Lachen, Planen, Überlegen, Plaudern, Necken. Sie wollte ihn nicht mehr aus ihrem Leben verlieren. Allein der Gedanke daran tat weh. Es war so selten und kostbar, jemandem zu begegnen, mit dem man so harmonierte und mit dem das Zusammensein gleichzeitig so spannend war.
Doch selbst, wenn daraus nichts wurde – die grauen Wolken, das Gefühl der Bedrückung, das sie so lange begleitet hatte, waren nicht mehr zurückgekommen, seit sie mit Vios Baum auf dem Rücksitz aufgebrochen war. Über diese Befreiung war sie unendlich froh.
Sie wollte ein Zeichen hinterlassen, genau wie Joram. Ein Zeichen der Dankbarkeit. Nele sprang auf und suchte ein Stück Holz. Sie fand einen Kochlöffel in der Besteckschublade und nahm kurzerhand damit vorlieb. Ja, man konnte mit der Tinte auch auf Holz zeichnen!, stellte sie fest. Sehr gut sogar. Den Kochlöffel wusch sie wieder ab, aber wenn man die Tinte trocknen ließ und dann das Holz lackierte, wie sie es mit den Windharfentrichtern sowieso machen mussten, würde das die Tinte versiegeln und die Zeichnung wetterfest machen.
»Auf dem Holz zeichnen? Warum nicht?« Jakob lächelte nachsichtig, als Nele etwas atemlos in seiner Werkstatt aufkreuzte. »Da kommst du gerade noch rechtzeitig. Ich wollte eben mit dem Lackieren anfangen. Dann mach ich das eben, wenn du fertig bist.«
»Tut mir leid«, sagte Nele zerknirscht. »Ich wollte deinen Zeitplan nicht durcheinanderbringen.«
»Ach was. Ich habe genug anderes zu tun. So was bin ich von Anna-Lisa gewöhnt. Meine Tochter hat auch ständig neue Ideen.«
»Stimmt, du erwähntest ja, dass man hier nirgends sicher ist vor kreativen Leuten. Das ist echt wohltuend. Jakob, die Trichter sind ja wundervoll geworden!« Nele fuhr mit der Handfläche über das glatte Holz, klopfte darauf, um die Resonanz zu prüfen, spähte hinein und überlegte, wo und wie sie am besten die Saiten spannen würde, die sie noch besorgen musste.
»Deine Schnittmuster waren sehr präzise«, meinte Jakob. »Und mit Timon kann man gut zusammenarbeiten. Der Bursche ist patent.«
»Ja, nicht wahr?« Es war wohl auffällig viel Begeisterung in ihrer Stimme geraten, denn Jakob sah sie erheitert an. »Ich meine, ich finde auch, dass es gut klappt«, ergänzte sie etwas lahm und spürte zu ihrem Ärger, wie sie rot wurde.
»Er hat auch schon das Symbol in jeden Trichter geschnitzt«, sagte er. »Hier, auf der Rückseite. So wie du es dir gewünscht hast. Ich kann mich jetzt auch daran erinnern, dass jeder Trichter es auf einer Ecke trug. Wir haben damals den Dreck aus den Ritzen gebürstet. Joram war das wichtig. Sieh mal, du kannst dich zum Arbeiten hier an den Tisch setzen.« Er schob einige Werkzeuge beiseite. »Bleib, solange du willst. Ich fahre los, ich habe am Boot zu tun. Es muss für den Winter vorbereitet werden.«
Stille senkte sich über die Werkstatt. Nele bewunderte Timons gelungene Schnitzerei und vertiefte sich dann in ihre Arbeit. Jeder der vier Trichter bekam eine kleine Waldszene und einen verzierten Kompass, der die jeweilige Windrichtung anzeigte. Und darunter, ganz klein, ihr eigenes neues Symbol. Nele vergaß völlig die Zeit. Draußen tropfte Regen auf die Fensterbretter, und es roch nach Sägespänen, Beize, Farbe, ihrer Tinte und Jakobs Pfeifentabak. Als es kurz klopfte und die Tür sich öffnete, fuhr sie zusammen.
»Jakob, bist du … oh, Nele! Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich war nur neugierig, ob Jakob mit dem Lackieren vorangekommen ist oder noch Hilfe braucht.«
»Hallo, Timon. Jakob ist nicht da. Er konnte noch nicht lackieren, das ist meine Schuld.« Sie bildete sich ein, dass er erfreut wirkte, sie zu sehen, aber vielleicht war das nur Wunschdenken. »Ich wollte … ich habe … die Tinte ist so verführerisch.«
»Darf ich mal sehen?«
Wortlos zeigte sie auf die drei schon fertigen Trichter, die ordentlich aufgereiht auf einer Werkbank trockneten. Hoffentlich war er nicht entsetzt. Schließlich waren die Originaltrichter nicht verziert gewesen, bis auf das Symbol. Aber Timon hatte ja Joram nicht gekannt, ihm würde es egal sein. Hella war es eigentlich, die ihren Segen dazu hätte geben müssen. Nele wurde etwas bang. Hätte sie fragen sollen? Aber Hella liebte Bäume. Es würde ihr sicher gefallen, machte Nele sich Mut.
Und wenn das bei den Trichtern so gut klappte, warum sollte sie das dann nicht auch auf einer Holzscheibe machen können, die etwas über die beiden verbundenen Bäumen aussagte – eine, auf der man nachlesen konnte, wovon sie im Laufe der Zeit Zeugen geworden waren?
Timon stand lange an der Werkbank.
»Nicht gut?«, fragte sie schließlich, als er sich nicht umwandte.
Er lachte auf. »Oh doch, das ist zauberhaft! Man braucht eine Weile, um all die zarten Details zu entdecken. Es ist so lebendig. Wirklich erstaunlich, was du mit unseren Pilzen angestellt hast.«
Sie hoffte, er würde nicht sehen, wie glücklich sie über seine Worte war. »Meinst du, es wird Hella auch gefallen? Du kennst sie besser als ich.«
»Keine Sorge. Da bin ich mir sicher. Außerdem hast du den Enkelinnen-Bonus. Sie wird es freuen, dass du das Werk deines Großvaters verfeinert hast. Es ist dein gutes Recht.«
»Ja, ich dachte, Joram hätte es vielleicht gefallen. Da oben im Baum wird das ja sowieso niemand sehen. Es überkam mich einfach.« Sie stellte den letzten Trichter dazu und wusch die Feder sorgfältig aus. »Jakob wird alles lackieren, sobald die Tinte trocken ist. Ich muss ja ohnehin noch die Saiten besorgen.«
Er kam zu ihr herüber. »Weißt du schon, wo du die herbekommst?«
»Ich dachte, ich bestelle sie online, auch wenn das nicht ideal ist. Das hätte ich schon längst machen sollen.«
»Ich wollte dir etwas vorschlagen. Mit dem Auto wären wir in anderthalb Stunden in Greifswald. Da kenne ich ein Geschäft, die so was haben. Wir könnten hinfahren, und ich zeige dir meine Heimatstadt und lade dich zu meinem Lieblingsitaliener ein.«
War das einfach nur Hilfsbereitschaft, oder wollte er tatsächlich mehr Zeit mit ihr verbringen? Immer, wenn sie den Eindruck hatte, dass er anfing, sie so gern zu mögen wie sie ihn, war er plötzlich wieder distanziert oder hatte irgendwo Eiliges zu tun. So als würde er sich ständig innerlich warnend auf die Finger klopfen, wenn so etwas wie Nähe aufkam.
»Das klingt sehr verlockend. Ich würde mich freuen. Woher kennst du so ein Geschäft?«
Ein Schatten flog über sein Gesicht. »Natalie hat Geige gespielt. Wollen wir das gleich morgen erledigen? Damit du die Saiten rechtzeitig hast?«
»Gerne. Wenn Hella und Quentin dich nicht brauchen?«
»Die wollten ein neues Hörbuch hören. Nach dem Mittagessen kann ich sie gut allein lassen. Ich hole dich ab, ja?«
»Sehr gerne. Dann können wir vielleicht auch besprechen, wie wir das mit der Wand in Franzis Imbiss machen. Das heißt, wenn du mir immer noch dabei helfen möchtest?«, fügte sie vorsichtig hinzu. »Du hast ja sicher auch anderes zu tun.«
Für einen Augenblick erschienen die verhaltenen Lachfältchen in seinen Augenwinkeln, die sie so mochte. »Ich habe allmählich das Gefühl, du bist so was wie eine Vollbeschäftigung. Für jeden deiner vielen Zöpfe ein Projekt. Aber das mit der Wand kriegen wir schon hin. Bis morgen!«