Als Nele zu Hause ihren Rechner hochfuhr, entdeckte sie im Posteingang eine Videodatei von Teddy. Die Premiere war wunderbar gelaufen. Neles Kostüme hatten viel Begeisterung ausgelöst. Diejenigen, welche Katrin ergänzt hatte, auch. »Die Kinder lassen dich grüßen! Alle hatten viel Spaß«, schrieb Teddy.
Nele freute sich, wartete auf eine Wehmut, die nicht kam, und staunte über sich selbst. Ja, sie vermisste Teddy und die Kinder, aber es zog sie nicht zurück in das kleine Theater, jedenfalls vorerst nicht. Es gab so viel mehr, was man erschaffen konnte, als nur Kulissen.
Nun wollte sie ihr Baumscheibenprojekt entwerfen, bevor sie Jakob fragte, ob er ihr eine solche Scheibe besorgen konnte, den glatt geschliffenen Querschnitt durch eine Kiefer. Eine, die etwa ebenso alt gewesen war wie jene, die in trauter Zweisamkeit mit der Eiche im Wald stand. Sie legte Zettel und Stift zurecht und begann zu recherchieren. Was war im Leben der Kiefer geschehen?
Wenn Nele fertig war, würde sie zu Hella fahren und die Informationen ergänzen, mit allem, was der alten Dame noch einfiel.
Kiefern konnten sechs- bis achthundert Jahre alt werden, Eichen noch älter. Die beiden Bäume, um die es ging, waren nach Hellas Schätzung etwas über zweihundert. Beeindruckend genug. Dann waren sie in etwa gekeimt, als zum Beispiel die Geschichte der Eisenbahn gerade erst begonnen hatte.
Nele tauchte in die Vergangenheit ab und vergaß darüber die Gegenwart.
Ungefähr damals hatten die Dänen und Franzosen Pommern besetzt und Kahlschläge im Darßwald verursacht. Holz von dort war sogar für die Vertäfelung dänischer Schlösser benutzt worden. Preußische Förster pflanzten später wieder schnellwachsende Nadelbäume nach. Ob diese hölzerne Vertäfelung an kalten Wintertagen im fernen Dänemark geknarrt und geknarzt und so vom Wind in ihrem Heimatwald gesprochen hatte?
Auch als Jagdgebiet war der Darßwald schon im Mittelalter genutzt worden, damals von den preußischen Herzögen, im neunzehnten Jahrhundert dann vom schwedischen König. Im zwanzigsten Jahrhundert war es erst Göring, der das Gebiet zwar zu einem Reichsnaturschutzgebiet erklären ließ, aber am Weststrand ein Jagdhaus besaß und in der Nähe einen Flak-Schießplatz, einen Behelfsflugplatz und ein Bombenabwurfgebiet bauen ließ. Nele mochte sich gar nicht vorstellen, wie zu jener Zeit die Vögel und Eichhörnchen, die Igel und Frösche und alle andere Bewohner dieser lebendigen Gemeinschaft, die den Wald ausmachte, zurechtgekommen sein mochten. Sie mussten ständig in heller Panik gewesen sein, wenn sie nicht fliehen konnten.
1955 begannen Maler und andere Mitstreiter sich für einen Nationalpark einzusetzen, scheiterten aber. Zwei Jahre später begann man dann doch, immer mehr Orte unter Naturschutz zu stellen, auch den Westdarß.
»Na also!«, murmelte Nele. Doch in den sechziger Jahren entstanden überall militärische Sperrgebiete, auch um den Leuchtturm herum. Wege aus Beton wurden durch den Wald gezogen. Heimlich baute man Erholungsbungalows für die Offiziere der Volksarmee, und auf dem Gebiet von Zingst bis Hiddensee machte sich ein Raketen-Flak-Regiment breit. Das Naturschutzrecht wurde einfach ignoriert und am Darßer Ort ein Hafen für Torpedo-Schnellbote gebaut.
1971 wurde der Wald zum Staatsjagdgebiet der SED -Führung, ein Teil des Darßwaldes gesperrt, und die Nationale Volksarmee bekam extra Jagdflächen. Eine Folge davon war bis heute ein immer noch zu großer Rothirsch- und Rehbestand.
Aber dann begann sich etwas zu wandeln, stellte Nele fest. 1976 wurden Teile der Region Fischland-Darß-Zingst zum Landschaftsschutzgebiet erklärt. Nachdem die innerdeutsche Grenze so friedlich gefallen war, hatten sich Bürgerinitiativen und Mitglieder der letzten DDR -Regierung für die Schaffung von Nationalparks eingesetzt. Die Sicherung weiter Teile der vorpommerschen Boddenlandschaft war der angeblich letzte Beschluss der DDR -Regierung. Die Verordnung trat zwei Tage vor der Wiedervereinigung Deutschlands in Kraft. »Da hat jemand mal richtig schnell geschaltet«, sagte Nele zu dem Nashorn. »Es gibt noch Hoffnung, dass wir Menschen dazulernen, was meinst du?«
Als Nele mit ihren Notizen fertig war, stellte sie fest, dass es mit den Zahlen und Texten für die Baumscheibe ein Problem gab: Es war viel zu viel. Da musste ihr Hella weiterhelfen.
Sie machte sich erst mal einen Kakao.
Später stand sie oben im Dachzimmer am offenen Fenster und blickte hinaus auf den kreiselnden Lichtstrahl, der seit so langer Zeit schon unerschütterlich über die Baumwipfel strich. Am ersten Abend war dieser Wald nur eine ferne, dunkle Masse für Nele gewesen. Jetzt wusste sie um den Zauber darin, kannte das wandernde Licht, die Farben und Gerüche, das Wispern und Rascheln und Flüstern, das Wachsen und Drängen, die Ruhe und die Kraft dieses Ortes. Nun waren die Bäume ihre Freunde und der Wald ein ganzes, verflochtenes, harmonisches Wesen, das sie immer wieder viel über sich selbst und das Leben lehrte.
Als sie schließlich unter die Decke kroch, konnte sie nicht einschlafen. Sie wollte Timon gern von ihrer Idee für die Baumscheibe berichten, doch sie wusste nicht, ob sie es wagen würde, ihm ein weiteres Projekt zu gestehen. Lag es wirklich daran, dass er immer noch nicht über diese Natalie hinweg war, dass er sich jedes Mal hastig zurückzog, wenn sie glaubte, sie würden sich näherkommen? Oder doch an ihr selbst? War sie zu anstrengend, zu chaotisch, zu fordernd?
Schließlich stand sie wieder auf, ging auf den Balkon und atmete tief die klare Luft ein, ein weiteres Mal überwältigt von der Unmenge an Sternen, die hier so hell funkelten. Ach was, dachte sie schließlich. Was mache ich mir solche Gedanken? Wenn er mich nicht mag, dann ist das eben so. Wie unwichtig scheint das im Vergleich zu der grandiosen Milchstraße da oben. Das würde nichts an meiner Freude an all dem ändern, was ich gerade mache! Ich bin hergekommen, um etwas über meinen Großvater zu erfahren und über mich selbst. Damit bin ich schon ziemlich weit. Meine Zukunft hängt nicht von Timon ab. Es kommt, wie es kommt, würde Vio sagen.
Aber sie freute sich trotzdem auf morgen, gestand sie sich ein, als sie wieder unter die Decke kroch. Sehr sogar.
Auf dem Weg nach Greifswald erwähnte Nele dann doch ihren Plan.
Timon war ein angenehmer Fahrer, aufmerksam, gelassen. Es war ein milder und doch sehr herbstlicher Tag, mit jagenden Wolken und plötzlichen Böen, die Blätter auf dem Asphalt herumschoben und über die Windschutzscheiben wirbeln ließen.
»Die Bäume erzählen auf ihre Art so viel, aber die meisten Menschen wissen oder sehen das nicht. Daher wollte ich das machen und weil ich dachte, Hella würde sich bestimmt freuen«, sagte sie. »Nur, es ist schwieriger, als mir klar war. Ich muss Hella um Rat fragen.«
»Sag Bescheid, wenn ich dir helfen kann«, sagte Timon. »Ich fände es auch gut.«
»Ich dachte schon, du denkst jetzt endgültig, ich spinne. Ohne dich schaffe ich das gar nicht, aber wir wollen ja auch noch die Wand bei Franzi im Imbiss machen, und …«
»Ich denke nicht, dass du spinnst. Ich denke, du bist kreativ und impulsiv. Ein Mensch voller Ideen, der nicht nur darüber redet, sondern auch versucht, sie in die Tat umzusetzen«, sagte er ruhig. »Das imponiert mir. Du musst dich nicht dauernd dafür rechtfertigen. Wann hast du dir das angewöhnt?«
Nele dachte nach. »Wohl in der Schule, weil ich anders war, genau wie früher Hella, und genauso dafür ausgelacht wurde. Ich habe mir gerade erst vorgenommen, mir das Rechtfertigen abzugewöhnen. Mehr so zu werden, wie Joram es wohl vorgelebt und wozu er Hella ermutigt hat. Meine Eltern waren allerdings damals auch der Meinung, dass ich mich auf meine Aufgaben konzentrieren sollte statt tausend andere Dinge auszuprobieren.«
»Wenn man nicht tausend Dinge ausprobiert, wie soll man dann herausfinden, welche paar davon die richtigen für einen sind?«, fragte er. »Ich beneide dich ein bisschen. Ich hätte gerne deine Kraft und Zuversicht. Hast du nie Angst zu scheitern?«
Nele zuckte mit den Schultern. »Die Angst und das Scheitern gehören dazu. Das habe ich im Theater gelernt. Es gibt immer Aufführungen, bei denen etwas schiefgeht. Technik, die im entscheidenden Augenblick versagt, so dass aus dem Drama eine Komödie wird. Ein Kostüm, über das ein Kind stolpert oder das an genau der peinlichsten Stelle platzt. Dann bringt man das in Ordnung oder kehrt die Scherben zusammen und fängt von vorne an, nur eben mit einer anderen, möglichst besseren Idee.«
»Glaubst du, das geht auch in Bezug auf Beziehungen?«
Nele sah ihn überrascht an. »Meinst du, alte Beziehungen in Ordnung bringen oder eine neue mit einer besseren Idee anfangen?«
Jetzt zuckte er mit den Schultern. »Ich glaube, ich meinte eher diesen grundsätzlichen Optimismus, der immer so unverwüstlich an dir dranhängt wie der Efeu an den Kiefern.«
Erst musste sie lachen, dann war sie verblüfft. Optimistisch? Ausgerechnet sie, die bis vor kurzem noch mit dieser grauen Wolke von Bedrückung und Müdigkeit gekämpft hatte? »Bist du sicher, dass du mich meinst?«
»Ja, klar. Du fängst alles an, was dir einfällt, und man hat dabei das Gefühl, du zweifelst nie daran, dass es schon irgendwie funktionieren wird.«
Darüber würde sie nachdenken müssen, aber insgeheim freute sie sich. Mit Komplimenten jeder Art hatte sie schon immer nur schwer umgehen können. »Was ist es denn, womit du nicht scheitern willst?«, fragte sie, um ihre Verlegenheit in den Griff zu bekommen.
»Mist! Verzeihung.« Timon musste scharf bremsen, weil ein Fahrzeug dicht vor ihm plötzlich die Spur wechselte. »Alles in Ordnung?«
»Alles bestens.«
»So ein Vollidiot«, schimpfte er. Nele gefiel es, wie seine Augen funkelten, wenn sein Temperament aufblitzte.
»Und? Wovon träumst du? Was willst du tun, wenn du nicht mehr bei Hella und Quentin arbeitest?«, fragte sie hartnäckig. So leicht war sie nicht abzulenken.
»Ich habe einen Freund in Kanada«, sagte er. »Er war mal im Schüleraustausch hier, ging in meine Klasse und wohnte bei uns. Eric. Seine Eltern besitzen eine kleine Farm dort und ein Stück Wald. Ich habe ihm Hellas Waldwolle beschrieben, das interessiert ihn ungemein. Am liebsten wäre ihm, dass ich ihn einmal eine Weile besuche und ihm zeige, wie das geht, bis er es selbst kann.«
»Ach ja, das wolltest du mir doch auch zeigen!«, fiel Nele ein.
»Ja, mache ich noch«, versprach er und warf ihr einen Blick zu. »Zeit dafür hatten wir ja bisher noch nicht.«
»Ich weiß«, sagte sie zerknirscht.
»Ich fände es sehr spannend herauszufinden, ob der Duft der Kiefernnadeln dort drüben ein anderer ist. Und überhaupt, das Land kennenzulernen«, fuhr er fort. »Eric sagt, aus den Kiefernnadeln etwas herzustellen, die bei der Holzproduktion anfallen, hat Zukunft. Das ist ein großartiger Rohstoff. Es gibt in Skandinavien schon Leute, die daraus Möbel pressen, leicht und nachhaltig. Oder Dämmung fertigen. Aber das mit den Bettdecken und Kissen ist natürlich was Besonderes, weil sie diesen heilsamen Duft zu geben haben. Es sollte nicht in Vergessenheit geraten.«
»Dann würdest du länger dortbleiben?«, fragte sie. Der Gedanke machte sie traurig. »Vielleicht sogar mit deinem Freund eine Produktion aufbauen?« Sie konnte nicht anders, sie hatte sofort Bilder im Kopf. »Ich kann mir genau vorstellen, wie eine richtig schöne Website dazu aussehen könnte …« Vielleicht sogar mit der Tinte gezeichnet, die Hintergrundbilder, das Logo …
Timon hob lachend eine Hand. »Ich bin mir sicher, wenn es so weit ist, bitten wir dich und niemand anderen um einen Entwurf. Aber noch habe ich kein Flugticket gebucht. Wir sind übrigens fast da. Möchtest du gleich in das Musikinstrumentengeschäft, oder soll ich dir erst die Stadt zeigen?«
Vielleicht würde sie ihn hinterher aufheitern müssen, falls er in dem Laden wegen der Erinnerungen an Natalie wieder schwermütig wurde. Das wollte sie lieber gleich hinter sich bringen.
»Erst das Geschäft«, entschied sie. Außerdem war ihr nun doch ein wenig mulmig zumute. Von wegen, sie hätte nie Zweifel! Vielleicht würde sie die richtigen Saiten gar nicht finden? Was, wenn Timon und Jakob sich so viel Mühe gemacht hatten, die Trichter der Windharfe nachzubauen, und Nele dann daran scheiterte, sie wirklich auf die richtige Weise zum Klingen zu bringen?