»Sieh mal!« Timon deutete nach oben, als sie am Hafen ausstiegen. Eine Menge Segelboote schaukelten hier, und über ihren Masten zogen unter den Wolken lange Reihen von Kranichen Richtung Süden. Ihre glockenähnlichen Rufe weckten eine unbestimmte Sehnsucht in Nele.
»Vielleicht ist Boreas dabei. Er ist nicht mehr wiedergekommen«, sagte Timon. »Hoffentlich schafft er es.«
»Bestimmt. Er wirkte doch gesund und kräftig. Es ist toll, dass ihr es geschafft habt, einen verwaisten Jungvogel aufzuziehen!«
»Ja, darüber bin ich auch sehr froh. Komm, wir gehen ein Stück am Fluss entlang. Dann lernst du den ein bisschen kennen. Der Ryck war immer mein Freund. Als ich klein war, habe ich ihm mein Leid über die ungerechte Verteilung von Bonbons und Strafarbeiten geklagt und später meinen Liebeskummer. Es hat ihn nie aus der Bahn geworfen. Das fand ich beruhigend.«
Nele mochte es, wenn Timon so verschmitzt über sich selbst lächelte. Nur die Spur von Bitterkeit darin schmerzte sie.
»Die Atmosphäre hier gefällt mir«, stellte sie fest. Alles war so friedlich, die Häuser passten in die Landschaft, die Boote auch. Nichts war zu groß oder zu laut.
»Ja, ich mag es auch immer noch. Aber ich musste einfach weg hier, nach der Trennung. Sieh mal, da vorne ist der Laden.«
Nele mochte den vertrauten Geruch nach Holz, Korkfett und Notenheften, der drinnen in der Luft lag. Irgendwo stimmte jemand eine Gitarre.
»Hallo, Timon!«, rief die Verkäuferin. »Ich bin gleich bei dir.« Kurz darauf kam sie herüber. »Schön, dich mal wiederzusehen.« Sie warf Nele einen kritischen Blick zu. »Ist Natalie auch da? Ihr seid ja ewig nicht vorbeigekommen.«
»Nein. Sie ist weggezogen«, sagte Timon reserviert. »Nele hier braucht Saiten.«
»Aha. Für eine Gitarre?«
»Zeigen Sie mir doch einfach, was Sie haben, ich suche mir dann heraus, was ich brauche.«
Widerstrebend zeigte ihr die Frau eine Ecke mit Regalen und ließ sie allein, um Timon in ein Gespräch zu verwickeln, das diesem sichtlich unwillkommen war. Nele konzentrierte sich auf ihre Suche nach den richtigen Saiten und Stimmstiften. Je schneller sie fand, was sie brauchte, umso schneller waren sie wieder draußen.
Sie folgte zunächst ihrem Fachwissen, um eine Vorauswahl zu treffen, doch bei der endgültigen Entscheidung verließ sie sich auf ihren Instinkt. Auf die lebendige Vorstellung, die sie von den verschiedenen Winden und ihrem Klang hatte und von der Musik, die diese im Gespräch mit dem Meer und dem Rauschen der Blätter hervorbringen würden. Ein Lied von Leben, Licht und Stärke, Wurzeln und Zuversicht, von Erde und Himmel, einem unerschütterlichen Kreislauf, Freiheit und Ruhe, Farben und harmonischer Verflochtenheit. So sollte die Stimme der Windharfe sein! Bedauerlich war, dass Nele keine Darmsaiten wählen konnte, die einen volleren und natürlicheren Klang besaßen. Doch für draußen waren sie einfach zu empfindlich. Da war Nylon die einzige Option.
Nele vergaß alles um sich herum und erschien schließlich mit ihrer Auswahl an der Kasse. Timon, der sich in ein Notenheft vertieft hatte, legte es erleichtert beiseite.
»Ich hatte vergessen, was Margo für eine Nervensäge ist«, sagte er draußen. »Bist du zufrieden?«
»Ja, sehr. Danke, das war genau der richtige Laden«, sagte Nele glücklich.
Jetzt war sie sich sicher, dass das Projekt Windharfe gelingen würde. Nur würde sie von Zeit zu Zeit die Saiten nachstimmen müssen. Ein guter Grund, auch zukünftig ab und zu auf den Darß zu fahren. Der Gedanke machte sie froh. Selbst wenn Timon dann fort sein würde, so konnte sie doch Hella und Quentin besuchen, nachsehen, ob die junge Birke wuchs und ob Boreas im Frühjahr wiederkam.
»Hast du noch andere Wünsche?«, unterbrach Timon ihre Gedanken. Nele zögerte.
»Nur raus damit«, sagte er ermutigend. »Das für mich Schlimmste haben wir hinter uns.«
»Gibt es vielleicht einen Klamottenladen, in dem Natalie nicht eingekauft hat?«, fragte sie. »Ich brauche einen warmen Pulli und eine Hose. Ich habe einfach zu wenig mit, ich hatte ja nicht mit einem so langen Aufenthalt gerechnet.«
»Doch, da weiß ich was. In dem Geschäft war es Natalie nicht fein genug. Die haben Outdoorsachen und so, strapazierfähig. Ist nicht weit.«
Tatsächlich war es weiter, als er in Erinnerung hatte, aber Nele genoss es, mit ihm durch die Straßen zu schlendern und ihm zuzuhören. Er zeigte ihr das Haus, in dem der Maler Caspar David Friedrich einst aufgewachsen war, im Schatten der gewaltigen alten Kirche daneben. Nele versuchte, sich in den kreativen kleinen Jungen hineinzuversetzen, der hier mit vielen Geschwistern als Sohn eines Seifensieders gelebt hatte. Bestimmt war es damals noch wesentlich schwieriger gewesen, anders zu sein, als es später Hella und dann sie selbst erlebt hatten.
Wie musste es sein, wenn man so malen konnte? Wenn man die Bäume dermaßen auf Bilder zaubern konnte wie er? Als sie beim Weitergehen darüber nachdachte, wurde ihr etwas bewusst. Sie war immer gut im Zeichnen gewesen, und doch hatte sie sich für Kulissenbau entschieden, weil es das Dreidimensionale war, was sie anzog. Darum hatte ihr das Zeichnen mit der Tinte auf dem Holz Freude gemacht. Sie wollte mehr mit dieser Tinte machen, aber nicht auf Papier. Sie wollte dabei etwas Konkretes in den Händen halten, etwas, das man berühren und erspüren konnte wie die Stämme der Bäume.
Das Einkaufen ging rasch. Mit einem herrlich weichen Pullover in Herbstfarben, Schal und Mütze dazu, die sie gleich anbehielt, und einer Thermohose kam sie bald wieder aus dem Laden. »Das war ja fix«, freute sich Timon anerkennend und tippte gegen den Bommel auf ihrer Mütze. »Du siehst aus wie ein lieber Wichtel. Wollen wir jetzt was essen gehen?«
»Unbedingt.« Ihr Magen knurrte schon seit einer Weile. Als sie den Marktplatz erreichten, wurde es bereits dämmerig. Die Lichter der Laternen und in den Häusern flammten auf und spiegelten sich weich auf dem alten Kopfsteinpflaster.
Beim Italiener fragte niemand nach Natalie, obwohl man Timon kannte und mit Namen ansprach. Es war gemütlich hier, und Neles Gemüsepfanne mit frischen Pilzen schmeckte himmlisch. Draußen senkte sich der Abend weiter auf die alten, verspielten Fassaden mit ihren liebevoll gestalteten Mustern und Türmchen. Drinnen herrschten gedämpftes Stimmengewirr und Gelächter, im Hintergrund lief leise Musik. Verführerische Aromen aller Art mischten sich. Timon verspeiste mit einem ungewöhnlich entspannten Ausdruck seine Spaghetti mit Scampi. Nele fühlte sich restlos zufrieden. Es war einer dieser Momente, den sie gern für einen Augenblick anhalten, einrahmen, in eine bislang unentdeckte Kammer ihrer Seele hängen und eine lange Weile betrachten wollte.
»Es geht mir besser, seit wir manchmal was zusammen machen«, sagte Timon, als er schließlich sein Besteck beiseitelegte. Nele verschluckte sich fast an ihrem letzten Champignon.
»Mir macht das auch viel Freude«, sagte sie vorsichtig.
»Möchtest du noch einen Nachtisch?«, fragte er. Sein Gesicht, das für einen Augenblick so offen gewesen war, wurde wieder neutral.
Nele seufzte innerlich. Aber diese Stadt, voller Erinnerungen an die Frau, die ihn dermaßen verletzt hatte, war nicht der Ort, um etwas zu erzwingen. »Eigentlich kann ich nicht mehr«, erklärte sie.
Jetzt lächelte er. »Aber uneigentlich möchtest du heute unvernünftig sein und einen Eisbecher essen.«
»Woher weißt du das?«
»Weil es mir genauso geht.« Er signalisierte dem Kellner. »Ich weiß, welcher am besten schmeckt, der mit dem frischen Obst und der unvergleichlichen Schokoladensoße.«
Nele beschloss, vorerst nicht nachzudenken. Einfach nur genießen war gut, wann hatte man schon mal so sorglose Momente?
»Jetzt zeige ich dir noch etwas«, sagte Timon, als sie später draußen die Reißverschlüsse ihrer Jacken hochzogen. Es war schon recht frisch geworden, doch der Wind war eingeschlafen. Inzwischen war es stockdunkel. Die Lichter der Stadt warfen jetzt ein beinahe schon weihnachtliches Leuchten auf das blanke Kopfsteinpflaster.
Timon führte sie zu einer Brücke, die sich über den Ryck spannte. An beiden Seiten des Flusses schaukelten beleuchtete Schiffe sanft in der Strömung. Ihre Lichter und die der Fenster und Laternen am Ufer warfen unzählige schimmernde, bunte Streifen auf die bewegte Wasseroberfläche. Hier golden, dort rot, da bläulich oder grün. Es war ein verzauberter Tanz von Licht und Farben, wirkte unwirklich wie aus einem Traumbild, doch gleichzeitig brannte es sich in Neles Gedächtnis, hell und unzerstörbar. Als sie den Kopf in den Nacken legte, sah sie oben die Sterne und Planeten funkeln. Die Venus stand genau über dem Mast eines Segelbootes.
Sie blieben lange dort, an das Geländer gelehnt, schweigend und so nahe beieinander, dass Nele Timons Atem hören konnte. »Danke«, sagte sie leise. »Es ist zauberhaft hier.«
»Das finde ich auch. Hier bin ich immer zum Nachdenken hergekommen. Hier löst sich für mich alle Traurigkeit auf. Nicht einmal die Sache mit Natalie beschwert diesen Ort. Übrigens, das wäre auch ein Motiv für die Wand im Imbiss, findest du nicht? Du sagtest doch, etwas mit Booten wird gewünscht. Boote an einem Ufer und ihre Spiegelungen im Wasser, was meinst du? Nur eben am Bodden.«
»Ganz schlicht …«, dachte Nele laut. »Ein großes Zeesboot aus brauner Pappe und einige kleinere Boote. Dahinter die Küstenlinie, als Zeichnung. Und vorn die bunten Spiegelungen, stilisiert als farbig schimmernde Striche. Laternen am Ufer und oben am Mast, echte Lampen, die Franzi abends einschalten kann. Und man könnte sogar einen Steg perspektivisch so mit hineinmalen, dass er vorn in einem echten Tisch endet, an dem man sitzen kann.«
»Und irgendwo aus dem Wasser guckt ein Fisch«, endete Timon.
Nele hob die Hand, um ihn abzuklatschen. Als sich ihre Handflächen berührten, war sie sich sicher, dass er das auch gespürt haben musste, diese gefühlte Verbindung zwischen ihnen. Die Empfindung, die sie durchlief wie diese leuchtenden, bewegten Farben das dunkle Wasser des nächtlichen Ryck.