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Nele betrachtete den Hut in ihrer Hand, strich über das abgegriffene Leder und wünschte sich, das Ding wäre aus der Geschichte von Harry Potter und könnte ihr Joram herbeizaubern, damit sie ihn um Rat fragen konnte.

Sosehr sie Vio liebte, sie hatte sich von ihrer Großmutter nicht immer verstanden gefühlt. Sie waren sich nicht sehr ähnlich. Nele roch an dem Hut, setzte ihn auf und merkte zu ihrer Überraschung, dass sie weinte. Dieser alte Hut berührte sie wie nichts anderes von ihrem Großvater, noch nicht einmal die wunderbaren Möbel. Er war etwas so Persönliches, Unmittelbares, hatte Alltag und Schweiß mit Joram erlebt, ihn vor Regen geschützt und seine Zweifel gespürt. Denn Joram hatte mit Sicherheit auch oft gezweifelt.

Als er damals den Darß verlassen wollte und Vio ziehen ließ. Als er die Affäre mit Philips Mutter gehabt hatte. Als er sich schließlich für seine letzte Liebe entschied und dafür, endlich an einem Ort zu bleiben. Er musste eine ähnliche Unruhe gespürt haben wie Nele oft selbst, sonst wäre er nicht so rastlos gewesen. Und die Trauer um seinen kleinen Bruder, an dessen Tod er keine Schuld hatte und sie sich dennoch gab – war das nicht dasselbe, was Nele wegen Noelie empfand und all die Jahre verdrängt hatte?

Sie setzte sich vorsichtig auf die hölzerne Gans, stützte die Beine auf den einen Flügel und lehnte sich an den anderen. Carly hatte recht, dies war ein sehr vielfältiges Möbelstück. Man konnte sich auf ganz verschiedene Art darin zurechtlegen. Wie im Leben. Man hatte die Wahl.

Nach einer Weile wurde es ruhiger in ihr, ihre Gedanken klarer. Ihr war, als würde dieser Hut ihren Blick auf die eigenen Wünsche und Träume schärfen. Nele kletterte von der Gans und setzte sich an den Schreibtisch. Sie legte beide Hände auf die Arbeitsplatte, fuhr über die weite, offene Fläche. Ehrfürchtig nahm sie den Füllfederhalter aus dem Astloch und betrachtete ihn gedankenverloren, bevor sie die Hülle abzog und ein Blatt von einem Block löste, der daneben lag.

Dann warf sie noch einen Blick auf das Porträt von Joram und malte sich aus, er wäre hier unsichtbar neben ihr und sie könnte sich mit ihm unterhalten. Hier in diesem Raum, in dem er mit seiner letzten Liebe gesessen, und an dem Schreibtisch, den er mit seinen Händen geschaffen hatte, schien es auf einmal vorstellbar. Er würde ihr helfen, sich zu sortieren.

In dieser Stille, an diesem besonderen Ort, an dem sie sich zugleich einsam und geborgen fühlte, war ihr, als könne er sie hören. Und als vernähme sie eine Antwort. Sie wusste nicht, ob sie jemals wieder so empfinden würde. Um nichts zu vergessen, schrieb sie alles auf.

Was soll ich tun, Großvater? Bin ich wie du? Bleiben diese Unruhe und Unsicherheit? Wie soll ich umgehen mit all meinen Ideen, die auf mich einstürmen? Glaubst du, ich kann irgendetwas davon richtig machen? Wie soll das gehen?

Du bist nicht wie ich, Nele. Du bist ganz du selbst. Aber du hast Eigenschaften geerbt, die dir dabei helfen können.

Welche, Joram?

Deine Unabhängigkeit. Ich hatte sie. Violaine hatte sie. Du hast sie auch. Dein Glück ist nur von dir selbst abhängig. Du wirst noch feststellen, wie frei dich das macht.

Aber mein Glück hängt vielleicht nicht nur von mir selbst ab. Ich liebe Timon.

Wie wunderbar! Genieße es. Die Erinnerung an Liebe ist das, was am Ende bleibt.

Aber er traut niemandem mehr. Auch nicht sich selbst oder mir.

Warte nur ab, was kommt. Liebe ist niemals umsonst. Doch was du willst, kannst du auch ohne ihn erreichen.

Was ist es denn, was ich will, Großvater?

Was verursacht dir denn ein Prickeln ganz tief in Bauch und Kopf?

Timon.

Da waren wir schon. Das meine ich nicht! Ich meine das Jucken in den Fingern und im Gehirn, das Gefühl, du könntest fliegen, wenn du daran denkst, etwas zu beginnen. Zu probieren, ob es in deinen Händen eine Gestalt annimmt, die andere wahrnehmen können.

Nele betrachtete den Leuchtturm auf dem Schreibtisch, dachte an das kreiselnde Licht des echten Turms bei Nacht, das den Himmel zu tragen schien, dachte an die Fahrt durch den Wald.

Die Tinte! Das Arbeiten mit der Tinte, die im Wald wächst.

Warum?

Die Formen der Bäume faszinieren mich, ihre Gesten, die uns so viel zu geben und mitzuteilen haben, auf ihre Art, ohne laute Worte, wie Gehörlose. Die Bäume sprechen zu mir, so wie es früher Noelie tat. Wusstest du, dass Bäume und Pilze in Symbiose leben? Sie helfen sich gegenseitig bei der Ernährung und der Verständigung. Hella hat es mir erklärt. Der ganze Wald ist ein lebendiger Organismus. Und mir geben die Pilze sogar die Tinte, damit ich damit zeigen kann, was die Bäume sagen!

Das klingt gut. So wie der Wind uns die Töne gab, um vom Gespräch zwischen ihm selbst, den Bäumen und dem Meer zu künden. Wie willst du es machen?

Nicht auf Papier. Es muss eine Form haben, die man anfassen kann wie einen Baumstamm. Und es soll ein Gebrauchsgegenstand sein, den man jeden Tag in die Hand nimmt, damit man sich bewusst macht, wie schön und unverzichtbar die Bäume sind und wie sehr der Wald ein Teil von uns ist. Ohne ihn können wir nicht atmen. Das ist so wichtig wie essen und trinken. In Philips Töpferei kam mir die Idee. Ich möchte das Dekor von Geschirr gestalten! Auf meine ganz eigene Art.

Siehst du. Das brennt in dir, zumindest jetzt. Was hindert dich daran, es zu tun?

Ich.

Wirklich? Sieh dir an, was du in letzter Zeit alles gemacht hast. Die Wand zum Beispiel. Und du bringst unsere Harfe wieder zum Klingen! Meine Freunde, die mit mir daran gearbeitet haben, waren alle schöpferisch tätig. Jeder auf seine Art. Du führst das fort. Du bist nicht schwächer als irgendeiner von uns, warum auch?

Wer waren deine Freunde, Großvater?

Das tut jetzt nichts zur Sache. Was hast du gedacht, als du das erste Mal gesehen hast, wie die tiefstehende Sonne das Licht durch den Wald tanzen lässt?

Ich habe gedacht, es ist wie mit der Beleuchtung auf der Theaterbühne. Die Magie, die Spotlights. Sie beleuchten genau das, worum es geht, bringen das Wichtigste hervor und zeigen den Zauber. Es fehlt nur noch Musik, habe ich gedacht, dann ist es die beste Dramaturgie, die ich je gesehen habe.

Siehst du, und dann hast du den Ton der Harfe gehört, den einzigen, der noch da war. Es gibt immer Musik, man vernimmt sie nur nicht immer. Lass das Licht in dich hinein, dann wirst du auch deine eigene Dramaturgie finden, die deines Lebens. Du wolltest doch immer ein Stück schreiben. Fang mit dir selbst an!

Nele ließ den Stift sinken, nahm den Hut ab und drehte ihn in den Händen. Sie hätte schwören können, dass sie die Gegenwart ihres Großvaters spürte. Eine Weile saß sie da und sah aus dem Fenster, vor dem blaue und weiße Astern im Wind schwankten. Dann setzte sie den Stift noch einmal an.

Meinst du, ich schaffe das? Allein?

Du bist nicht allein! Sieh dich um. Schöpferische Menschen wie Carly, Philip, Hella, Jakob und Remy gibt es überall. Sie sind miteinander verwoben wie das unterirdische Geflecht der Wurzeln und Pilze im Wald. Sie halten auf ihre Weise die Welt zusammen, so wie die Wurzeln die fruchtbare Erdschicht, auch wenn man das oft nicht bemerkt. Denn sie erinnern an das Schöne, weswegen sich das Leben lohnt. Dieses Wissen um das Schöne ist der Boden, der uns bei allem Ringen um einen gelingenden Alltag aufrecht hält. Und du bist eine von ihnen, wenn du das willst.

Er schien ihr so nahe, so eindringlich. Und diese letzten Worte waren so klar und einfach.

Ja, ich will!

Das schrieb Nele mit einem kleinen Schmunzeln, und es fühlte sich tatsächlich an wie ein Schwur. Oder vielleicht eher die Unterschrift unter einen Vertrag.

Sie wandte sich wieder zu dem Porträt um, und für einen Moment erschien es ihr, als sei dort das Echo ihres eigenen Lächelns.

Wann immer dir der Mut fehlt, denk an die Meere, an das Blau des Wassers und das Grün der Wipfel. Wenn du am Weststrand wanderst, das Spiel des Lichts darin siehst und dem Gespräch von Wald und Wasser lauschst, teilen sie ihre tiefe Kraft, ihre ewige Ausdauer und ihre zeitlose Freude mit dir. Du findest sie immer dort, ganz gleich, was sonst geschieht.

So wie du es getan hast.

Ja. Ich, Henny, Hella und so viele andere, seit Anbeginn der Menschheit.

Nele steckte den Füllfederhalter zurück in das Astloch.

»Danke, Großvater!«, sagte sie laut.

Was er in einem solchen Gespräch wirklich zu ihr gesagt hätte, würde sie nie erfahren, aber das Gedankenspiel in diesem Zimmer hatte ihr jedenfalls geholfen. Sie faltete das Blatt sorgfältig zusammen und steckte es ein. Dann setzte sie den Hut auf den Kopf der Gans, bevor sie leise die Tür hinter sich schloss.

Die Küche war auf der anderen Seite des Flures. Carly stand dort und mischte einen bunten Nudelsalat in einer großen Schüssel. »Den mögen die Kinder so gern, und praktisch ist es auch, wenn jeder zu einer anderen Zeit essen will«, erklärte sie. »Na, hast du dich gut mit Joram unterhalten?«

Nele schluckte und fühlte sich ertappt. »Woher weißt du …?«

Carly zwinkerte ihr zu. »Ich lebe hier schon eine Weile. Und als ich vor vielen Jahren hier ankam, ging es mir sehr ähnlich wie dir. Ich stand an einem Wendepunkt in meinem Leben, wusste nichts über meine Vorfahren und noch weniger über mich selbst.« Sie zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen. »Dieses Haus und die Menschen hier haben mich geerdet. Und die Landschaft natürlich. Ich weiß bis heute nicht genau, wie das eigentlich kam. Aber ich habe hier Wurzeln gezogen. Dafür bin ich sehr dankbar. Es war ein Geschenk, und ich freue mich, wenn wir etwas davon weitergeben können.« Sie nahm ein blaues Kästchen von der Fensterbank und überreichte es Nele. »Ich habe etwas für dich, wenn du magst. Als Symbol dafür. Es kommt von Herzen und soll dir Glück bringen.«

»Oh …«

»Nimm nur«, ermutigte Carly sie.

Nele öffnete den Deckel und fand eine silberne Kette vor, auf ein Stück Watte gebettet. Der Anhänger daran wirkte zunächst wie ein unregelmäßig geformter, dunkler Stein vom Strand, etwa halb so lang wie ihr Zeigefinger. Auf den zweiten Blick sah sie, dass er eine ungewöhnliche Oberfläche hatte, matt glänzend und wie geschmolzen, und dass er deutlich schwerer war, als es zu seiner Größe passte.

»Es ist eine Sternschnuppe«, sagte Carly. »Ein kleiner Meteorit. Joram hat ihn einst aus Dänemark mitgebracht, als Geschenk für Henny. Ich habe ihn lange getragen, und nun soll er dir gehören. Es ist nur richtig, dass du auch etwas von deinem Großvater erbst«, fügte sie hinzu, als Nele protestieren wollte. »Ich trage nun schon lange ein Geschenk von Philip.« Carly zeigte auf ein filigranes silbernes Medaillon in Form eines Herzens, das an einem zarten Reif um ihren Hals hing. Auf dem Deckel war eine Lachmöwe eingraviert. »Da sind Bilder von ihm und den Kindern drin. Das ist mein Glücksbringer. Und du hast jetzt auch einen. Er soll dich behüten und dir Mut machen und dich daran erinnern, dass du nicht allein bist.«

Als hätte auch sie im Stillen mit Joram gesprochen.

»Danke, Carly! Das bedeutet mir sehr viel.«

Nele legte sich die Kette um und spürte das kleine Gewicht wie einen Trost.

»Wie wäre es mit etwas Nudelsalat?«, fragte Carly. »So emotionale Sachen machen immer hungrig, findest du nicht?«

Nele fing an zu lachen. Ihr Magen knurrte tatsächlich.

»Ja«, sagte sie und fühlte sich auf einmal so leicht wie die glänzenden Distelsamen, die der Herbstwind vor dem offenen Fenster in den blauen Himmel fliegen ließ.