36

Der riesige, abgewetzte Küchentisch war an einem Ende vol-ler Arbeitsmaterialien – unvollständig bemalte Tassen, eine halb fertige Figur aus Treibholz, eine Kinderzeichnung, ein auseinandergenommenes Radio. Nele fühlte sich wohl in dieser Atmosphäre, und Carly war eine gute Zuhörerin. Während sie am freien Ende des Tisches den ausnehmend leckeren Nudelsalat aßen, brachte sie ihren Gast geschickt zum Erzählen. Nele merkte das erst, als Carly bereits von Vio und der Kiefer, von Neles Kindheit mit Noelie, von ihren Theaterkulissen, der Wand in der Ferienwohnung und der Baumtinte wusste.

»Eigentlich wollte ich dich über das Töpfern ausfragen und nicht mit meiner Lebensgeschichte langweilen«, sagte sie verlegen.

»Ach weißt du, ich bin ungeniert neugierig.« Carly lächelte sie strahlend an. »Außerdem merke ich, wenn einer zu uns gehört.«

»Zu euch?«

»Zu uns Kreativen, die nie wissen, wohin mit all den mehr oder weniger verrückten Ideen. Die meistens sehr glücklich dabei sind, aber oft auch ratlos und angstvoll wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange, weil uns die Zeit davonläuft und wir nicht wissen, was wir zuerst machen sollen.«

Nele sah sie verblüfft an. »Stimmt genau. Woher weißt du …?«

Carly zuckte mit den Schultern. »Das ist hier so. Muss wohl am Ort liegen. Fischland-Darß hat schon immer diese Art Menschen angezogen.«

»Jakob erwähnte so was. Dass er von kreativen Leuten umgeben und allerhand gewohnt ist.«

»Der liebe, bescheidene Jakob! Er merkt gar nicht, wie schöpferisch er selbst tätig ist, in so vielen kleinen Dingen. Vor allem den zwischenmenschlichen.«

»Ja, er ist wunderbar. Er wird doch keinen Ärger mit Philip bekommen?«

»Nein, warum? Er hat ja nichts verraten. Er hat die Entscheidung Philip überlassen, ob er dir die Wahrheit über seinen Vater sagen möchte. Ja, und nun gehörst du sowieso zur Familie. Ich finde das wunderbar. Also, was wolltest du vom Töpfern wissen?«

»Wie du angefangen hast. Wie viel muss man da lernen und wie schnell geht das?«

Carly lachte auf. »Wenn man es jetzt und sofort können will, weil man an nichts anderes mehr denken kann, meinst du?«

Nele fühlte sich ertappt. Carly legte eine tröstende Hand auf ihren Arm.

»Wenn du wüsstest, wie gut ich dich verstehe! Ich bin in die Töpferei spaziert, bekam einen Klumpen Ton in die Finger, weil ich auf etwas warten musste, habe damit herumgespielt, festgestellt, dass ich kein Gefäß zustande bekam, und formte einen Seehund. Da hat es mich gepackt! Ich hatte zwar nicht die geringste Ahnung. Aber da war eine sofortige Verbundenheit, ein Funke, der übersprang und nicht mehr aufhörte, mich durch und durch zu elektrisieren. Was man über das Töpfern wissen muss, habe ich dann nach und nach gelernt, aber immer nebenbei, beim Arbeiten. Ich mache ja kaum Gefäße, ich kann nur Skulpturen. Klar sind mir einige Sachen misslungen oder zerbrochen. Das gehört dazu. Auch heute noch. Aber ich habe es nie bereut.«

Nele sah das Leuchten in Carlys Augen. Diese Frau wusste tatsächlich, wie es in ihr aussah. Philip mochte Neles blutsverwandter Onkel sein, aber mit Carly war sie in manchem seelenverwandt. Das war unglaublich befreiend. Seit Noelie hatte sie dieses Gefühl nicht mehr gehabt. »Warst du damals schon in Philip verliebt?«, platzte sie heraus, ohne zu wissen, woher diese sehr persönliche Frage jetzt gekommen war.

Ein verträumtes Lächeln flog über Carlys Gesicht.

»Ja und nein«, erwiderte sie. »Das ist eine andere, lange Geschichte.« Sie sah Nele forschend an. »Gibt es da jemanden bei dir?«

Nele lachte auf. »Ja und nein! Ich habe leider keine Ahnung, was das bei mir für eine Geschichte ist.«

»Hmm. Dann würde ich vorschlagen, wenn er dir wichtig ist, frag ihn und finde es heraus«, sagte Carly.

»Das klingt so einfach. Es … er ist kompliziert.«

»Sind wir das nicht alle?«, meinte Carly milde. »Wenn man nicht darüber spricht, wird es immer komplizierter. Das ist wie beim Töpfern. Wenn man irgendwo im Ton eine Luftblase übersieht, fliegt beim Brennen alles auseinander. Dann wirbeln manchmal sogar Splitter im Ofen umher und machen auch noch die unbeteiligten heilen Dinge kaputt.«

»Oh.« Nele versuchte, das zu verdauen. Sowohl im Hinblick auf das Töpfern als auch auf die Liebe.

Carly schien sich für ihr Thema zu erwärmen. »Und selbst wenn sie fertig sind und das Feuer überstanden haben – wenn man sie fallen lässt, gehen sie auf jeden Fall kaputt. Deshalb lieber erst mal gut festhalten und genauer betrachten. Aber ich wollte dir ganz bestimmt keine Predigt halten. Beschreibe mir doch mal, was deine Idee ist! Vielleicht kann ich dir ja bei der Umsetzung helfen. Ich hatte damals ja den großen Vorteil, in eine fertige Töpferei zu kommen, wo alles Nötige vor Ort war, und kundige Meister, die mich anlernen konnten. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich davon auch etwas weitergebe?«

Nele lehnte sich zurück. Über die Sache mit Timon musste sie nachdenken. Hier aber war etwas, das vielleicht wesentlich einfacher zu beginnen war.

»Meine Idee bezieht sich nicht so sehr auf das Gestalten der Gefäße, sondern auf das Verzieren.«

»Ich höre. Meinst du deine Waldtinte?«

»Ja. Diese sofortige Verbundenheit, die du gerade beschrieben hast. Die habe ich auch gespürt, als ich die Feder das erste Mal angesetzt habe. Diese Tinte möchte vom Wald erzählen, von den Bäumen, unter denen die Pilze wachsen, zwischen ihren Wurzeln und in ihrem Schutz. Von dieser ganzen verflochtenen Waldlebendigkeit und dem Zauber dort.«

Nele merkte, dass sie in ihrem Bemühen auszudrücken, was mit Worten so schwer zu beschreiben war, gefährlich mit ihrer Gabel gestikulierte, und legte sie schleunigst beiseite.

»Als ich in der Töpferei vorhin die Tassen und Vasen und Teller sah und die verschiedenen Glasuren, und dass man mit Holzasche arbeitet, und darauf malen kann und Formen hineindrücken … da dachte ich, genau das ist es! Ton ist Erde. Das Material passt perfekt zu dem, was ich machen will. Ich möchte mit der Tinte Bäume darauf zeichnen, und das vielleicht mit Abdrücken von Farnen und Rinde und Zweigen ergänzen. Und manchmal mit einer Glasur verbinden, die dazu passt, ein Himmel-und-Meer-Blau.« Nele schob ihren leeren Teller beiseite. »Ich möchte Geschirr machen, das die Leute gern in die Hand nehmen, das sie im Alltag täglich berühren. Nichts, was man zum Bewundern in den Schrank stellt. Sie sollen beim Essen sehen, was die Bäume zu sagen haben. Wie verschieden ihre Wuchsformen sind. Dass es Gestalten mit Charakter sind. Lebewesen. Die Menschen sollen ahnen, wie der Wind hindurchfährt und dass es manchmal aussieht, als würden sich die Bäume mit den Gesten ihrer Zweige unterhalten, miteinander und mit uns. Ich möchte, dass es ihnen geht wie mir und sie auch die Bäume am Straßenrand als die lebendigen Persönlichkeiten wahrnehmen, die sie sind. Ich glaube, dazu könnte das, was mir vorschwebt, ein klein bisschen beitragen.«

Nele verstummte, weil sie außer Atem war und sich selbst überrascht hatte.

Carly betrachtete sie mit zufriedener Anerkennung. »Wenn du das mit demselben Schwung in die Tat umsetzt, mit dem du mich gerade überzeugt hast, dann werden daraus wundervolle Werke hervorgehen. Und ich werde dir helfen! Das heißt, dir einen freundlichen Startschubs geben, wenn du möchtest«, fügte sie an. Ihre Augen funkelten. »Philip sagt immer, ich soll mich nicht so viel einmischen. Aber in diesem Fall habe ich alle Mittel, um mich sehr erfolgreich einzumischen. Das kann man doch nicht ungenutzt lassen. Der Meinung wäre Joram auch – und Henny sowieso.«

»Was meinst du genau?«, fragte Nele hoffnungsvoll. Sie hatte sich gerade selbst ein wenig erschrocken. Ideen im Stillen ausspinnen war eine Sache, sie vor anderen auszusprechen und somit eine Art Verpflichtung zu schaffen etwas ganz anderes. »Ich kann jede Hilfe gebrauchen. Ich habe keinerlei Wissen darüber und bekomme gerade Angst vor meiner eigenen Courage.«

»Ich weiß, wie das ist.« Carly nickte nachdrücklich, während sie aufstand und die Teller zusammenräumte. »Wenn man eine Idee hat, die einen nicht loslässt, hat man keine Ruhe, bis man es nicht versucht hat. Man weiß nur oft nicht, wie und wo man anfangen soll. Ich sage dir, wie es geht: in kleinen Schritten. Einer nach dem anderen. Die ersten hast du schon gemacht. Du kannst mit der Tinte umgehen und du hast dir bei Philip Rohlinge zum Ausprobieren geholt. Damit experimentierst du jetzt erst einmal. Dann bringst du sie zum Brennen hierher, und während sie im Ofen sind, sprichst du mit Philip, ob er mit dir so eine blaue Glasur anmischt, wie du sie dir vorstellst. Er kann dir auch noch einige technische Grundkenntnisse vermitteln. Das kann er wunderbar, weil er so sachlich ist. Bei mir hat das auch funktioniert.« Sie lächelte zärtlich. »Und inzwischen ist er weiser und sanfter geworden. Der Rest kommt dann nach und nach. Am wichtigsten ist, dass du Erfahrung sammelst und ein Gefühl für dein Tun bekommst. In der Zwischenzeit habe ich einen Plan – und den muss ich erst mit einer Bekannten besprechen, einer Kollegin. Sag mal, was sind denn deine Pläne im Allgemeinen? Wirst du zurück ans Theater gehen, und deine Ideen nebenbei verwirklichen?«

Da war sie, diese Frage, die Nele sich noch nicht einmal selbst zu stellen gewagt hatte. Die ganze Zeit war sie schon darum herumgeschlichen und immer wieder ausgewichen. Die Antwort würde von selbst kommen, hatte sie gehofft. Und was war mit Timon? Konnte sie einfach gehen, ohne mit ihm über ihre Gefühle gesprochen zu haben? Es sich leicht machen und ihm die Schuld zuschieben, dass sie einander keine Chance gegeben hatten? Vor allem aber, wie sollte ihre Zukunft denn konkret aussehen? Die letzten Wochen waren eine Auszeit gewesen, ein Abenteuer. So konnte es nicht ewig weitergehen.

Nun stellte jemand anderes diese Frage und verlangte eine Antwort.

Doch Nele stellte fest, dass diese Antwort inzwischen still und leise angekommen war. Sie war tief in ihrem Innersten heimlich gekeimt wie der Samen eines Ahorns, der, lange vom Wind getragen, ziellos durch die Luft segelt, um dann irgendwo auf fruchtbaren Boden zu fallen und Wurzeln in die Erde zu schieben. Im Verborgenen, wo man es nicht sieht. Bis der Keimling die ersten Blätter Richtung Himmel reckt.

»Es gibt kein Zurück für mich«, sagte Nele entschieden. »Weder in mein altes Leben noch an meinen alten Ort. Vor allem in keine Stadt. Ich weiß noch nicht, wo ich es tun werde, aber ich möchte etwas Neues, ganz Eigenes machen. Ein paar Rücklagen für den Start habe ich noch, ich habe ja nie viel ausgegeben. Außerdem hat Vio immer gesagt, wenn ich jemals etwas Besonderes machen möchte, würde sie gern investieren. Ich habe nur noch nie etwas gebraucht. Ich glaube, sie würde sich freuen, wenn sie jetzt teilhaben darf.«

»Na, prima! Dann gib mir jetzt mal Zeit und lass mich etwas Bestimmtes herausfinden«, sagte Carly zufrieden. »Möchtest du noch einen Tee?«

Nele sah erschrocken auf die Uhr. »Ein andermal sehr gerne, aber ich muss los. Ich muss mich um Hella und Quentin kümmern! Das habe ich Timon versprochen.«

Carly hob die Augenbrauen. »Timon? Ein netter Mensch. Er war kürzlich hier, um ein Hochzeitsgeschenk zu kaufen. Hat mich ein wenig an Jakob erinnert, als er jünger war.«

»Wirklich?« Nele versuchte, nicht zu zeigen, wie schön sie diese Bemerkung fand. Carlys Augen entging einfach nichts. »Danke für den Salat. Und für … alles.«

»Ausgesprochen gerne! Komm einfach vorbei, wenn du mit deinen Proben so weit bist.«

Carly winkte ihr fröhlich nach, als sie ins Auto stieg.

Im Vorüberfahren entdeckte Nele den nahen kleinen Urwald, den Carly gemeint hatte. Jenen, in dem ihr Großvater beim Filmen auf einem Baum gestorben war. Nele sah auf die Uhr. Ein wenig Zeit hatte sie noch. Hella und Quentin waren bestimmt noch beim Mittagsschlaf. Spontan hielt sie auf dem nächsten Parkplatz, der nicht weit entfernt war, und lief ein Stück den einzigen Stichweg in den Wald hinein. Ahrenshooper Holz stand auf einem großen Schild am Eingang.

Schon nach wenigen Schritten fand sie sich in einer völlig anderen Welt wieder. Vom Verkehr auf der Straße war nichts mehr zu hören. Neles Schritte federten auf dem weichen Boden, es war ein wenig wie Schweben. Überall leuchteten dicke hellgrüne Moospolster zwischen dem flüsternden Teppich aus bronze- und goldfarbenen Blättern. Die Stämme der Bäume waren sehr dick und ihre bemoosten Wurzeln wirkten wie grüne Zehen enormer Füße, die fest auf der Erde standen.

Stolz stellte Nele fest, dass sie dank Hella und Quentin inzwischen viel mehr Baumarten beim Namen kannte. Rotbuche und Bergahorn, Hängebirke und sogar die Stechpalme, die hier mit ihren glänzend dunkelgrünen Blättern und weihnachtlich roten Beeren besonders häufig vorkam und diesem Waldstück eine ganz eigene Note gab. Auch Vogelbeerbäume wuchsen hier, was Nele mit besonderer Freude erfüllte.

»Meine Freunde«, murmelte sie.

Viele umgestürzte Stämme lagen herum und vermoderten sanft, bewohnt von glänzenden Käfern und zierlichen Wildbienen, während neue Keimlinge sich darauf niedergelassen hatten. Eine Vielfalt von bunten Pilzen und Flechten wuchs überall, eine Blindschleiche sonnte sich auf dem schmalen Pfad, ein Eichhörnchen huschte einen Stamm hinauf und betrachtete Nele nachdenklich. Ein Specht flog mit einem hellen Ruf an ihr vorbei wie ein fröhlicher kleiner Blitz aus Farben. Kein einziger Mensch war hier, sie hatte diesen magischen Ort ganz für sich allein. Es war fast unheimlich und doch etwas ganz Besonderes, Erhabenes. Es fühlte sich an wie in einer Kirche.

Nele setzte sich auf einen der liegenden Stämme und sah nach oben, wo der Wind in den Kronen spielte und ab und zu ein Blatt auf sie herabrieseln ließ wie einen Segen und einen Gruß.

»Ich verstehe dich, Großvater«, sagte sie leise. »Ich werde den Menschen vom Wald erzählen und davon, wie schön und lebendig er ist und wie gut es einem hier gehen kann.«

Die Zeit schien an diesem Ort stillzustehen. Nele konnte sich nur schwer losreißen. Als sie wieder draußen war, musste sie blinzeln, so hell war es auf einmal nach all dem dichten Grün.

Bevor sie ins Auto stieg, lief sie noch ein Stück an der Wiese entlang, die an den Wald angrenzte, nur durch einen sandigen Weg und einen Wassergraben davon getrennt. Nele wollte einen Strauß für Hella und Quentin pflücken, denn sie würde ihnen ja die Vase mitbringen, und die sollte nicht leer sein. Doch erst blieb sie lange stehen, überrascht und beglückt über ganze Schwärme von Libellen, die am Waldrand in einem stummen, selbstvergessenen Tanz auf- und abstiegen. Der Anblick war noch ein unerwartetes Geschenk an diesem denkwürdigen Tag. Ein Geschenk von Joram, vom Wald, von diesem Ort. Vom Leben. Ein freudiger, erwartungsvoller Auftakt all des Neuen, was nun begann.

Schließlich pflückte sie den Strauß. Das Angebot war so reich, obwohl der Herbst nun schon so fortgeschritten war! Dottergelber Herbst-Löwenzahn, letzte Goldrute, die ihrem Namen alle Ehre machte, rosa Wiesenklee, blaue Wegwarte, violette Taubenskabiose, gemischt mit zarten Gräsern aller Art und dekorativen Samenständen von Disteln und Waldrebe, dazu ein paar bronzene Farne vom Waldrand. Filigran, vielfältig, ungeniert bunt und ein wenig wild, die allerschönste Art von Strauß, fand Nele.

In der Ferne saß ein Schwarm Kormorane auf einem weißen, kahlen Baum wie dunkle Früchte. Nele schickte ihnen einen stillen Gruß. Sie passten so gut in diese Landschaft und fühlten sich sichtlich wohl.

Wie sie selbst.

Und doch würde sie nicht bleiben, nicht hier, da war sie sich sicher. Die Antwort lag woanders.