Quentin saß mit geschlossenen Augen auf der Bank vor dem Haus. Sein Gesichtsausdruck war glücklich, erfüllt von einem tiefen Frieden und Einssein mit sich und dem Leben. Nele blieb einen Moment im Auto und betrachtete die Szene mit einer Mischung aus Rührung, Freude, Sehnsucht und Wehmut.
Schließlich nahm sie die Vase aus dem Kofferraum, füllte sie im Regenfass und stellte den Strauß hinein. Damit im Arm ging sie zu Quentin.
»Hallo, wie geht es dir?«
»Hallo, Nele, wie schön! Ich habe dich kommen gehört.« Er öffnete die Augen und strahlte sie an. »Merkst du, wie gut es heute riecht? Nach Spätherbst und Kiefernnadeln und Pilzen und dem Wind, der von der Nordsee kommt. Er hat ein so anderes Aroma als der Ostwind.« Er schnupperte. »Und der Strauß, den du da hast, der duftet auch. Zeig mal.«
Nele hielt ihm den Strauß ganz nahe ans Gesicht, damit er die Blüten erkennen konnte.
»Wunderschön!«, sagte er bewundernd. »Da wird sich Hella freuen.«
»Wo ist sie? Ist alles in Ordnung? Habt ihr euch Mittagessen gemacht?«
»Aber sicher. Timon hat alles gut vorbereitet, das musste ja nur in die Mikrowelle. Diese modernen Dinger sind schon praktisch. Hella ist da hinten in der Scheune, sie hat zu tun.« Er deutete auf das größte der Nebengebäude, das ganz hinten auf dem Grundstück stand, verborgen hinter einem Dickicht aus Silberpappeln. Nele war noch nie darin gewesen. »Geh ruhig zu ihr.«
»Ich stelle nur rasch die Vase ins Haus. Und du? Kann ich etwas für dich tun? Möchtest du in deinen Sessel?«
»Nein, lass mich noch eine Weile hier sitzen. Es ist so schön, und der Winter kommt früh genug.« Er hielt ihr einen langen Holzsplitter hin. »Den habe ich gestern eingesteckt, als Timon Kiefernholz gesägt hat. Wusstest du, dass man solche Kienspäne früher als Licht benutzt hat? Das kostete kaum etwas, und so ein Span erhellte eine Stube bis zu zwei Stunden, weil das Holz so harzreich ist. Mein Großvater machte das noch. Er sagte, Licht habe für ihn nach Kiefernharz zu duften, sonst wärme es die Seele nicht.«
»Nein, das wusste ich nicht. Aber wenn es so gut riecht wie die Decke, unter der ich neulich schlafen durfte, dann kann ich ihn gut verstehen.« Nele schob Quentin eines der bereitliegenden Kissen in den Rücken, bevor sie ins Haus ging und den Strauß ins Wohnzimmer stellte. Wie so etwas doch gleich die Atmosphäre eines Zimmers heben konnte! Keine Kunst, keine Lampe, kein menschliches Design machte so einen Unterschied wie lebendige, echte Blumen oder Zweige. »Es ist und bleibt ein Zauber«, sagte sie zu einer Blüte, die herausgefallen war, und steckte sie sorgfältig zu den anderen. »Noelie hat es gewusst. Vio hat es gewusst. Beide haben es mir so früh schon gezeigt. Und ich hatte es jahrelang vergessen! Das passiert mir nicht noch einmal.«
Vielleicht konnte Quentin ja seinen Kienspan heute Abend anzünden, damit der lebendige Duft das Zimmer erfüllte.
Auf dem Weg zur Scheune sah sie noch bei der kleinen Birke vorbei. Die schien schon gewachsen zu sein, jedenfalls stand sie aufrecht und wirkte sehr lebendig. Es tat so gut, dass hier ein Baum für Noelie wachsen würde. Es half Nele sehr, sie loszulassen, mit dem Gefühl eines tiefen, beinahe leichten Friedens.
Das große, hölzerne Tor stand offen. Nele klopfte dennoch an. Ein hohles, rumpelndes Geräusch drang heraus.
»Hella?«
»Hier. Komm rein!«
Neles Augen gewöhnten sich nur langsam an das Dämmerlicht in dem großen Raum. Auf einer Seite befand sich einiges an Gerümpel, alten Geräten, Fahrrädern, Schubkarren und Leiterwagen. Auf der anderen Seite brannten Lampen. Dort stand Hella an einer Art Trog und drehte an einer Kurbel. Sie hatte ein Tuch um den Kopf geschlungen, und Nele sah zunächst nur ihre Silhouette. Es wirkte wie eine Szene auf einem historischen Gemälde. Wie die mystische, würdevolle Medizinfrau eines alten Volkes. Der Geruch nach Kiefern lag dick in der Luft. Nele atmete tief ein.
»Was machst du? Kann ich dir helfen oder störe ich?«
»Du störst nicht, und ja, du kannst mir helfen. Komm ruhig her, aber fall nicht.«
Es standen mehrere Bottiche, Wannen und Tröge herum, und auf einem alten Ungetüm von Herd ruhten zwei enorme Töpfe. Auf einem Tisch direkt unter einer Lampe thronte eine alte Nähmaschine, die in der Gestalt an einen kleinen Dinosaurier erinnerte. Vio hatte auch noch eine solche besessen. Man trieb sie mit einem Pedal an.
Die Kurbel, die Hella drehte, bewegte mehrere Walzen über einer Platte hin und her. »Ich habe eine Bettdecke und ein Kissen für dich mit Waldwolle gefüllt«, sagte Hella. »Dafür hat der Vorrat gereicht, und ein vorbereiteter Bezug war noch da. Zugenäht habe ich beides auch schon. Es liegt alles da hinten.« Sie deutet auf einen vollen, dicken Jutesack, der auf einem Strohballen ruhte.
»Oh, Hella, das kann ich doch nicht annehmen! Ich habe schon den wunderschönen Federhalter von dir. Und das hier wäre ein viel zu großes Geschenk!«
»Warum? Das verstaubt hier ja nur.« Hellas Stimme wurde noch herzlicher. »Außerdem macht es mir selbst Freude, Jorams Enkelin etwas zu schenken. Ich habe ihm doch so viel zu verdanken. So kann ich etwas zurückgeben. Weißt du, jetzt, da mit deiner Hilfe endlich die Windharfe wiederhergestellt wird, kann ich besser schlafen. Das lag mir auf der Seele. Da ist es nur richtig, wenn du auch besser schläfst.«
»Dann danke, ich freue mich riesig!« Nele konnte nicht anders, sie musste Hella umarmen.
»Schon gut, Nele.« Hella erwiderte die Umarmung. »Jedenfalls, da ich schon einmal hier war, konnte ich nicht widerstehen, mal wieder bei der Produktion Hand anzulegen«, erklärte sie. »Magst du ein wenig die Kurbel drehen? Ich muss mich verschnaufen. Du wolltest ja ohnehin wissen, wie Waldwolle gemacht wird.«
»Gern. Timon ist noch nicht dazu gekommen, es mir zu erklären.«
»Timon ist eigentlich sehr zuverlässig«, sagte Hella.
»Ich weiß. Es ist meine Schuld. Ich habe ihn andauernd mit irgendetwas anderem beschäftigt.«
»Ach was, das tut ihm gut.« Hella überließ Nele die Kurbel und setzte sich. »Also, man muss frische Kiefernnadeln dafür nehmen. Wenn sie heruntergefallen sind, sind sie trocken und taugen nichts mehr. Ich bekomme sie aus einem Sägewerk, sie fallen bei der Holzproduktion massenweise als Abfall an, was schade ist. Da sind sie als Waldwolle besser verwendet. Die Nadeln enthalten nicht nur Harze, sondern auch ätherische Öle, Gerbstoff und andere heilsame Sachen. Sie sind wohltuend bei Rheuma, Gicht und Lungenleiden, Erkältung und Nervosität. Man kann die Waldwolle auch als antiseptischen Verband nutzen, besonders bei Verbrennungen und Erfrierungen. Dazu kommt, dass Motten und anderes Ungeziefer solche Decken oder Polster nicht anrühren.« Sie lächelte verschmitzt. »Na, und dass es einfach angenehm duftet, hast du ja selbst bemerkt. Man fühlt sich direkt in den Wald transportiert und träumt von Bäumen, Ruhe, Blätterrascheln und Himmel.«
»Ja, genau so war das. Was macht man denn genau mit den Nadeln?«
»Sie werden mehrere Stunden in einer schwach alkalischen Lauge gekocht. Dann werden sie hier im Rührtrog gequetscht und gerieben und dabei gewaschen, bis die Fasern sich lösen. Das wird ein paarmal wiederholt, bis die Wolle den richtigen Feinheitsgrad erreicht hat und getrocknet werden kann.« Hella sah müde aus.
»Soll ich dir etwas zu trinken bringen?«, fragte Nele besorgt. Schließlich sollte sie sich um die beiden alten Leute kümmern und nicht umgekehrt.
»Lass mal, wir machen besser Schluss für heute«, sagte Hella. »Das muss jetzt einweichen. Timon kann es später fertigstellen. Er hat ja die Produktion übernommen. Es scheint ihm Freude zu bereiten. Aber es ist nur noch Liebhaberei, wenn er fortgeht, werden wir wohl ganz damit aufhören. Alles hat einmal ein Ende.«
»Wer weiß«, meinte Nele. Sie dachte an Carly, Philip und ihre Aussage, dass Fischland-Darß ein Ort für kreative Menschen war. Vielleicht fand sich ja noch jemand, der die Waldwolle am Leben hielt. Im Zeitalter der Wellness musste es doch einen Markt dafür geben? Wenn man Zirbenkissen verkaufen konnte, dann doch bestimmt auch weichere mit Waldwolle.
Sie half Hella, die Lichter auszuschalten und das Tor zu schließen.
»Nimm den Sack mit, du kannst ihn gleich in dein Auto legen«, sagte Hella. Draußen sah sie sich bekümmert um und blickte dann zum Himmel auf. »Wenn wir noch viele solche Dürresommer bekommen, werden wir sowieso eine Menge Kiefern verlieren«, meinte sie. »Dann ist der Erhalt der Waldwolle unser geringstes Problem. Sie sind zwar sehr genügsam, aber ganz ohne Wasser können auch sie nicht überleben!«
»Was macht ihnen denn am meisten zu schaffen?«, wollte Nele wissen, während sie langsam auf das Haus zugingen.
»Die Kiefer ist ein sehr verbreiteter Baum, also gibt es auch sehr viele Schädlinge«, erklärte Hella. Man merkte, dass sie derlei Wissen schon oft bei Führungen unter die Menschen gebracht hatte. »Zwar hilft das Harz gegen sie, aber bei durch Dürre geschwächten Bäumen eben nicht mehr ausreichend. Schmetterlingsraupen wie zum Beispiel vom Kiefernspanner, Kiefernspinner und Kiefernschwärmer, Nonne und Forleule fressen die Nadeln ab. Davon können ganze Waldbestände absterben, wenn es kein Mischwald ist. Es gibt auch Pilzbefall, der zum Abwurf der Nadeln führt, das nennt man Kiefernschütte. Andere Pilzarten lösen Holz- oder Wurzelfäule aus, Hallimasch und Krause Glucke, der Kiefern-Braunporling oder der Kiefern-Baumschwamm. Manchmal gibt es auch Knospenveränderungen, dann wachsen sogenannte Hexenbesen in den Kronen.« Hella lachte leise. »Es gibt eine Sage, dass unter einem solchen Baum ein Schatz vergraben liegt, so tief, wie der Hexenbesen hoch in der Krone hängt. Joram hat mir das damals erzählt, als wir so eine Kiefer fanden. ›Aber wir dürfen nicht danach graben, um den Baum nicht zu verletzen‹, sagte er. ›Das müssen wir auch nicht, denn der wahre Schatz ist der Baum selbst.‹«
»Das ist schön.« Nele verstaute den Sack mit ihrer kostbaren neuen Bettdecke im Auto und nahm die Gitarre heraus, dann setzten sie sich zu Quentin.
Da war noch etwas, das Nele beschäftigte.
»Hella, die Kiefer, die du hier in Erinnerung an Joram gepflanzt hast …«
»Ja?«
Nele war sich nicht sicher, ob ihre Frage zu persönlich war, aber nun konnte sie nicht zurück. »Hast du auch einen Baum für deinen verstorbenen Mann gepflanzt?«
Hella lächelte. »Ja, natürlich. Ich muss doch alle meine guten Geister hier um mich haben! Für Arthur wächst eine Schlehe nahe am Haus. Er liebte Schlehen, ihren Blütenschleier im Frühling, wenn alles neu beginnt. Das Besondere bei der Schlehe ist, dass ihre weißen Blüten vor dem Austrieb der Blätter erscheinen, also auf dem schwarzen Hintergrund der dornigen Äste. In der irischen Mythologie nennt man sie die ›alte dunkle Frau der Wälder‹ oder ›Mutter der Wälder‹. Man sagt, sie ist reinigend und schenkt Schutz. ›Du bist auch eine Mutter der Wälder‹, sagte Arthur manchmal scherzhaft, wenn ich einmal wieder spät nach Hause kam, weil ich noch draußen bei den Bäumen gewesen war und die Zeit vergessen hatte. Oder wenn ich ihn nach einem langen Arbeitstag noch zu einem Spaziergang überredet habe.« Hella hob die Schultern und lachte. »Tja, und nun bin ich wohl längst selbst die alte, dunkle Frau der Wälder.«
Quentin fasste nach ihrer Hand. »Und für mich bist du wie die Schlehe reinigend und schenkst Schutz, denn du reinigst meine Seele und beschützt mich vor allen dunklen Gedanken und der Einsamkeit.«
Nele schluckte, und Hella küsste Quentin. »Das hast du aber schön gesagt, mein Schatz.«
»Ist nur die Wahrheit.«
Nele begleitete beide ins Haus und brachte Quentin bequem in seinem Sessel unter. Dann stellte sie den altmodischen, gemütlichen Teekessel mit Wasser auf den Herd. Das, was zwischen diesen zwei war, machte ihr Hoffnung. Für sich und Timon. Und auch für die Welt und die Menschheit im Allgemeinen.