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Quentin zeigte Nele, wie man den Kienspan schräg einklemmen und austarieren musste, um die Brenngeschwindigkeit zu regulieren. Sie nahm dafür ein großes Windlicht, damit nichts passieren konnte. Als Nele den Tee, den Kuchen und die Medikamente gerade verteilt und auch die Kerze auf dem Tisch angezündet hatte, meldete ihr Handy eine Nachricht von Timon.

Geht es euch gut? Alles in Ordnung?

»Darf ich ein Bild von euch machen?«, fragte Nele.

»Nur zu, beruhige den Jungen«, sagte Hella amüsiert.

Nele schickte ihm das Bild.

Wie du siehst, ist alles bestens. Bleib, solange du möchtest. Ich kann auch wieder hier übernachten, wenn du willst. Und wie geht es dir?

Dann speicherte sie das Bild unter Favoriten. Diese Szene würde immer zu ihren Schätzen gehören. Die beiden besonderen und so in Liebe verbundenen alten Menschen, versöhnt mit allem Schweren, was sie erlebt hatten, dankbar für alles Schöne, behaglich in diesem Zuhause am Waldrand, eins mit sich und ihrer einzigartigen Umgebung, die Gesichter erleuchtet vom Kerzenlicht.

Es geht so, kam Timons Antwort, es ist nett und trotzdem schmerzlich. Ich komme bald zurück.

Nele ahnte, wie ihm zumute war. In einer fröhlichen Menschenmenge, dazu noch auf einer Hochzeit, konnte man sich unendlich einsam fühlen. Noch viel mehr, als wenn man allein war.

Wahrscheinlich wünschte er sich in diesem Augenblick genau hierher, in diese heimelige Szene, in der Nele sich gerade so wohlfühlte. Das hier war seine vorübergehende Zuflucht von der Welt.

Wie lange würde er diese noch brauchen?

Wir freuen uns, wenn du kommst , schrieb sie.

»Hella, ich habe da noch etwas, wofür ich deinen Rat brauche«, sagte sie dann. »Es geht um die beiden Bäume, die ihr beide so gern mögt. Die Eiche und die Kiefer, die zusammengewachsen sind. Sie haben mich beeindruckt, und Timon hat erzählt, dass ihr oft dort gewesen seid.«

Hella und Quentin wechselten einen Blick und ein wissendes, vertrautes Lächeln.

»Ja, das stimmt. Wie schön, dass sie dir auch gefallen«, sagte Hella. »Ich wollte dort früher ein Schild aufstellen, eine Hommage an die beiden, aber ich wusste nicht recht, wie das aussehen sollte. Joram hätte irgendetwas aus Holz gezaubert …« Sie blickte auf ihre Hände. »Ich bedauere, dass ich es nie gemacht habe, aber andererseits brauchen die beiden das wohl nicht. Sie stehen für sich selbst.«

»Sie brauchen es nicht, aber vielleicht die Menschen, die diese Bäume gar nicht wahrnehmen. An einem Schild würden sie nicht einfach vorübergehen«, sagte Nele eifrig. »Ich würde es gern versuchen, wenn es dir recht ist. Wenn sich bei mir eine Idee festsetzt, lässt sie mir einfach keine Ruhe, bis ich etwas damit mache«, erklärte sie etwas verlegen. Hella sollte nicht denken, dass sie sich in Dinge einmischte, die sie nichts angingen.

»Dafür musst du dich nicht rechtfertigen«, sagte Hella ruhig. »Das ist eine gute Eigenschaft. Es gibt viele Menschen, die sich nie dazu aufraffen können, eine Idee umzusetzen. Nur weil manches schiefgeht oder nicht funktioniert, heißt es nicht, dass man es nicht probieren sollte.«

Nele war erleichtert. »Also, dann – eigentlich weiß ich ja schon, wie das mit dem Schild auf eine passende Art gehen könnte.« Hella und Quentin lauschten interessiert, während sie ihnen von der Baumscheibe, der Tinte und den geschnitzten Jahreszahlenschildchen von Timon berichtete.

Hella setzte sich auf. »Ja, das gefällt mir ausgesprochen gut. Vielen Dank, Nele! So ähnlich hätte Joram es wohl auch gemacht.« Sie war sichtlich gerührt. »Und was genau möchtest du auf die Baumscheibe schreiben?«

»Das ist ein Problem. Ihr meintet, die Bäume seien etwas über zweihundert Jahre alt. Erst dachte ich, ich schreibe das Wichtigste drauf, was in dieser Zeit geschehen ist. Aber das ist unendlich viel. In der Welt. In Deutschland. Wo soll ich anfangen, was auswählen? Ich habe mich also mit der Geschichte des Darßwaldes der letzten zweihundert Jahre befasst. Aber auch das kann ich nicht alles auf der Baumscheibe unterbringen! Außerdem war mein ursprünglicher Gedanke ja aufzuschreiben, was die beiden Bäume alles erlebt haben. Nur das ist ja nicht alles da geschehen, wo sie stehen.«

Hella und Quentin wechselten einen Blick.

»Nein«, sagte Quentin mit einem Schmunzeln. »Was sie hauptsächlich gesehen haben, sind Hella und mich. Ebenso unzählige Liebespaare davor, die sich dort getroffen haben und denen es Mut gemacht hat zu sehen, wie ineinandergewachsen und verbunden sich diese zwei verschiedenen Bäume gegenseitig stützen. Die beiden haben Wanderer und Soldaten geschützt, die sich unter ihnen ausgeruht oder an ihnen orientiert haben. Spechte und Meisen, die darin gebrütet, und Eichhörnchen, die sich in ihren Kobeln Vorräte angelegt haben. Stürme haben sie erlebt und Schneefälle, denen sie standhalten mussten. Pilze, die unter ihnen wuchsen. Fast zweihundert Frühlinge, in denen alles neu begann. All das und viel mehr ist es, wovon Bäume im Wald Zeugen sind! Nicht die großen Dinge der Geschichte.«

»Groß sind sie auch«, widersprach Hella. »Für mich sind das die wirklich großen Dinge! Genau das ist das Besondere an alten Bäumen, was so wohltuend ist. Nicht das, was geschieht. Sondern dass so ein Baum durch all das hinweg gelassen an dem Ort steht, an den ihn das Leben geweht hat. Er steht da und atmet auf seine Weise, er wächst, so gut er eben kann, unter den Bedingungen, die er vorfindet. Alles andere lässt er über sich hinweg- und an sich vorbeiziehen. Er ist der ruhende Pol. Daher kommt seine Stärke, die er uns schenkt, wenn wir ihn betrachten, berühren, uns bei ihm ausruhen oder an ihn anlehnen. Oder seine Früchte essen.«

»Vielleicht sollte ich genau das alles draufschreiben, was Quentin und du gerade gesagt haben«, meinte Nele nachdenklich.

»Wenn du in die Mitte die Zeitleiste mit den Jahren einfügst, zu der Timon die Zahlen schnitzt, dann könntest du das doch auf einer Seite davon tun und ein paar ausgewählte geschichtliche Ereignisse auf der anderen aufführen«, schlug Quentin vor.

Hella sah Nele erwartungsvoll an. »Das würde mir auch gefallen!«

»Ja, das ist eine richtig gute Idee!« Nele war erleichtert. »Ich habe ungefähr ausgemessen, wie viel Text auf die Scheibe passt. Er muss gut lesbar sein und darf nicht zu gedrängt aussehen. Ich habe mir auch schon einige Notizen gemacht. Helft ihr mir auszusuchen, was davon ich nehmen soll? Und zu formulieren, was ihr gerade gesagt habt?«

Hellas Augen funkelten. »Unbedingt! Aber dann brauchen wir noch welche von den Keksen aus der Küche.«

»Ich könnte auch rasch Bratäpfel machen«, schlug Nele vor.

»Dieser Tag ist voller guter Ideen!«, stellte Quentin fest. »So hab ich es gern.«

Draußen schien längst der Mond auf die junge Birke.

Einen ganzen Keksteller und zwei Kerzen später waren sie alle drei erschöpft, aber zufrieden. Neles Entwurf war fertig, vorgezeichnet und niedergeschrieben auf einem maßstabgerechten Stück Packpapier, das sie rund ausgeschnitten und an die Wand geheftet hatte. Den Abend über war Zettel für Zettel dazugekommen, die sie an der richtigen Stelle daraufgeklebt hatten. Die Umsetzung würde dagegen nur noch ein Klacks sein, jedenfalls mit Timons Hilfe.

Auf der linken Seite waren Dinge vermerkt wie:

1825 – Die erste öffentliche Eisenbahn fährt.

1850 – Das Heilige Römische Reich endet offiziell.

1861 – Wilhelm I . wird König von Preußen.

1870–71 – Deutsch-Französischer Krieg

1883 – Bismarck begründet die Sozialversicherung.

Der erste Weltkrieg, die Goldenen Zwanziger Jahre, der zweite Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, die Berliner Luftbrücke, Volksaufstand in der DDR , Bau und Fall der Berliner Mauer, Wiedervereinigung, all das wurde kurz erwähnt. Aber auch Meilensteine der Technik: die Erfindung der Fotografie, der Glühlampe, des Telefons, des Automobils, des Flugzeugs. Schallplatten, Computer, Mondlandung … Alles geschehen in der Zeit des Lebens dieser Bäume.

Doch auch von der regionalen Abholzung und Aufforstung, von der Verwendung des Darßwaldes als Jagdgebiet des schwedischen Königs und später Görings und schließlich als Staatsjagdgebiet der DDR , vom Sperrgebiet, von der Harzgewinnung und vom Entstehen des Naturschutzgebiets stand da in Kurzform etwas zu lesen.

Auf der anderen Seite der Zeitachse aber sah man das, was Nele für am berührendsten und anschaulichsten hielt.

Hier nämlich wurde das Persönliche dargestellt am symbolischen Beispiel zweier Menschen, genannt A. und N. Nele hatte darauf bestanden, dass sie die jeweiligen Endbuchstaben von Hellas und Quentins Namen dafür gebrauchten. Niemand würde es wissen, aber es war eine kleine Hommage.

A.’s Urururgroßvater, geb. 1813

A.’s Ururgroßmutter, geb. 1834

A.’s Urgroßvater, geboren 1855

A.’s Großmutter, geboren 1880

A.’s Vater, geboren 1915

N., geboren 1933

A., geboren 1938

Und ab da: A.’s Schulzeit in der Dorfschule. N.s Tätigkeit als Harzer. A.’s erste Verliebtheit. A.’s Weggang. A.’s Wiederkehr als Försterin. Das erste Treffen von A. und N. unter den beiden Bäumen und ihr erster Kuss. Dazu beispielhaft erwähnt: ein Soldat, der sich dort ausruhte. Ein verirrter Wanderer, der den Weg wiederfand. Eine Trauernde, die dort Trost fand. Ein Eichhörnchen, das Junge aufzog. Eine Flechte, die am Stamm wuchs. Ein Specht, der dort frühstückte. Eine Meise, die jeden Morgen in den Ästen sang. Der Südwind, der darin vom Frühling wisperte.

Das ging alles nur stichwortartig, passend verteilt um die Zeitachse herum, und doch, fand Nele, ergab es eine Ahnung vom großen Ganzen einerseits und der großen Bedeutung kleiner Details andererseits.

»Jedenfalls genug, um die Menschen dazu zu bringen, für einen Augenblick innezuhalten und nachzudenken und zu lauschen«, sagte Hella befriedigt. »Das weiß ich von meinen Führungen. Ein kleiner Anstoß genügt meist, er muss nur einprägsam sein.«

»Mit Timons Schnitzereien, und wenn ich das mit der Waldtinte draufgeschrieben habe und Jakob es wetterfest lackiert hat, wird es das sein«, versprach Nele. »Das können wir dann mit der Windharfe zusammen in den Wald bringen.«

Sie waren so vertieft gewesen, dass sie das Auto nicht gehört hatten und erstaunt aufblickten, als Timon in der Tür stand und sich verblüfft umsah. »Ihr seid alle noch auf? Hier duftet es aber gut!«

»Es riecht nach Kienspan und Bratäpfeln. Wir hatten zu tun«, verkündete Hella und wies stolz auf den beschrifteten Kreis aus Packpapier.

»Wir haben die Zeit total vergessen«, sagte Nele schuldbewusst. Und das, obwohl sie sich im Grunde gerade mit der Zeit beschäftigt hatten! Hoffentlich hatte sie die alten Leute nicht überanstrengt. Doch die wirkten sehr zufrieden und angeregt. »Ich habe dir einen Bratapfel aufgehoben.«

»Danke, aber ich weiß nicht, ob ich das nach dem Hochzeitsbüfett noch schaffe.« Er betrachtete den Entwurf genau. »Hey, das gefällt mir! Da habt ihr was Gutes geschaffen. Aber jetzt helfe ich euch besser ins Bett.«

Nele stand hastig auf. »Nein, du verschnaufst dich erst mal! In der Küche ist Sanddorntee. Ich mach das.«

»Ja, dann kannst du uns ein Schlaflied spielen«, sagte Quentin verschmitzt. »Dazu sind wir gar nicht gekommen.«

»Na klar, gerne.«

Etwas später saß sie im Flur vor dem Schlafzimmer und spielte sanfte, alte Weisen. Ade, zur guten Nacht …

Vielleicht gefiel die Musik ja auch Timon, und er kam nach all den widersprüchlichen Gefühlen zur Ruhe, die er bei der Hochzeitsfeier gehabt haben musste.

Morgen würde sie mit ihm an der Baumscheibe arbeiten. Und nachher, im Sandregenpfeiferhaus, unter ihrer neuen Bettdecke schlafen. Darauf freute sie sich.