Während Hella sich erwartungsvoll zurücklehnte, an dem liebevoll dekorierten Cappuccino nippte und Quentin alles genau beschrieb, was er nicht gut genug sehen konnte, stürzten sich alle anderen in die Arbeit. Jakob strich mutig drauflos. »Eigentlich bin ich kein Künstler«, erklärte er niemand Bestimmtem.
»Aber du kennst das Meer wie kaum ein anderer, Jakob. Das genügt völlig! Male es so, wie du es siehst.«
»Na, wenn du das sagst. Dann will ich es wohl versuchen.«
Zwei Stunden später war er selbst überrascht von dem Ergebnis. Als Hella anfing, Beifall zu klatschen, und Franzi, Matteo, Quentin, Nele und auch die Kartenspieler einstimmten, sah er sich verlegen lächelnd um und verschwand eilig in der Küche, um den Pinsel auszuwaschen. Das Meer zeigte in weichem Verlauf alle Blau-, Grün- und Grautöne, die hineingehörten, und noch einen Anflug von Sonnenuntergang dazu, dessen Licht auf den Wellen spielte.
Nele war auch beinahe fertig und recht zufrieden mit den Formen, die unter ihren Händen aus den unregelmäßigen Flecken entstanden waren, die der Wasserschaden einst hinterlassen hatte. Da war die Andeutung eines geheimnisvollen Waldes, einzelne Bäume deutlicher als die anderen. Es gab Dünen und blühende Disteln, in der Ferne ziehende Wildgänse vor dramatischen Wolkengebilden.
Die Gänse hatte Nele als Hommage an Joram hineingezeichnet. Sie ließen sich vom Nordwind tragen.
Nun setzte sie nur noch einige leichte Farbtupfer.
Franzi hatte die Türen zur Terrasse inzwischen weit geöffnet, um den Farbgeruch hinauszulassen. Das hatte zur Folge, dass Hella und Quentin unbedingt den Garten besichtigen wollten. Matteo half ihnen hinaus. Plötzlich waren da nur noch die Kartenspieler in der Ecke – und Timon.
Nele hatte beim Arbeiten immer wieder das Gefühl gehabt, dass seine Blicke auf ihr ruhten, doch wenn sie sich umwandte, war er anscheinend konzentriert damit beschäftigt, die Hölzer und die Pappe zuzuschneiden und die Schrauben zurechtzulegen, die er zuvor in der Werkstatt zusammengesucht hatte. Sie sah auf seinen gebeugten Rücken, schüttelte den Kopf über sich selbst und wandte sich wieder den Strichen zu, mit denen sie den letzten Fleck in einen Stein verwandelte, auf dem eine Möwe saß. Als sie schließlich herunterstieg, zuckte sie zusammen, weil Timon plötzlich dicht hinter ihr stand.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« Er stand da, regungslos, so nahe, dass sie jetzt doch den Ausdruck in seinen Augen lesen konnte. Verzweiflung. Und dieselbe Verzweiflung spürte sie in seiner ganzen Anspannung, als er sie plötzlich an sich drückte und gar nicht mehr loslassen wollte. Nele brachte mit Mühe den nassen Pinsel in Sicherheit, indem sie ihn auf einer Leitersprosse ablegte. Er hinterließ einen grünen Klecks.
Grün ist die Hoffnung, hatte Vio immer zitiert.
»Nele! Nele!«, flüsterte er und verbarg das Gesicht an ihrer Schulter. »Wenn ich so lange in deiner Nähe bin, wird es mir bewusst. Ich kann nicht mit dir und nicht ohne dich! Ich weiß nicht, was ich machen soll!«
Nele erwiderte seine Umarmung. »Das kann ich dir auch nicht sagen.« Aber es war so schön, einander festzuhalten. Sie wollte sich wenigstens daran erinnern. Der Augenblick durfte ruhig noch dauern.
Als Stimmen sich näherten, ließ er sie los.
»Komm mit!«, sagte er leise und dringlich, packte sie am Handgelenk und zog sie zur Vordertür hinaus. Dort, wo die Autos parkten, wuchs ein Dickicht aus Silberpappeln und niedrigen Kiefern. Dahinter blieb er stehen. »Nele, ich denke die ganze Zeit an dich, in Wahrheit schon, seit wir uns kennengelernt haben. Und jetzt an das, was du gesagt hast. Dass du auch etwas für mich empfindest. Wir können nicht einfach so auseinandergehen!«
»Du hast gesagt, du möchtest keine Beziehung.«
»Falsch. Ich habe gesagt, ich kann es nicht. Nele, wenn ich etwas mache, dann ganz, mit allem, was ich bin!«
»Das weiß ich. Ich habe gesehen, wie du an Projekten arbeitest, wie du mit Dingen und mit Menschen umgehst. Auch deshalb habe ich mich in dich verliebt.«
Neles Stimme zitterte. Sie ärgerte sich über sich selbst. Und über ihn. Sie hatte doch gerade mühsam beschlossen, dass sie auch ohne ihn zurechtkommen würde. Und nun? Was wollte er ihr eigentlich sagen?
»Ich habe mich völlig auf Natalie eingelassen«, fuhr er fort. »Wenn ich liebe, dann will ich ein gemeinsames Leben. Zusammen den Tag beginnen und genießen und bewältigen und davon ausruhen. Pläne für den nächsten machen und zusammen kochen und verrückte Ideen aushecken und einschlafen. Dass man sich hundertprozentig vertrauen kann und über alles reden, Probleme ohne Streit und gemeinsam löst und immer füreinander da ist. Dass, wenn es doch mal Streit gibt, man es schnell wieder in Ordnung bringt und sich in den Arm nimmt und versöhnt und keiner den anderen dafür bestraft.«
»Das klingt perfekt für mich«, sagte Nele leise. »Wenn ich mich früher überhaupt getraut hätte, von so was zu träumen, dann wäre es ganz genau so gewesen. Aber ich hatte wohl unbewusst eine ähnliche Angst wie du, mich darauf einzulassen. Weil ich mich seit Noelie immer davor gefürchtet habe, jemand, der mir wichtig ist, würde einfach plötzlich fort sein. Das ist mir erst durch die Bäume klargeworden, so merkwürdig das klingt. Weil sie an dem Ort gedeihen, an den sie das Leben gestellt hat, weil sie ihre Wurzeln da treiben und mit ganz viel Ausdauer und Geduld so stark werden, egal welcher Sturm über sie hinwegfegt. Und selbst wenn sie doch brechen, wachsen neue Pflanzen daraus. Vielleicht ist es verrückt, aber das gibt mir den Mut, es endlich versuchen zu wollen.«
»Und ich liebe dich genau wegen solcher verrückten Gedanken, die gar nicht verrückt sind.« Timons Augen leuchteten. »Wegen deiner Ideen, die aus dir heraussprudeln, und weil du alles immer versuchen und verwirklichen und ausprobieren willst. Ich möchte alle diese Ideen mit dir teilen und umsetzen. Wenn wir nicht zusammen sind, überlege ich die ganze Zeit, ob ich jetzt einen deiner Einfälle versäume und ob ich dir dabei helfen könnte. Ich möchte immer da sein, um zu sehen, wie du an deinen Zöpfen ziehst und diese kleine Falte an der Nase bekommst, wenn du nachdenkst.«
Er hatte es gesagt. Er hatte gesagt, dass er sie liebte! Und was bedeutete das nun?
Die Szene kam ihr vor wie aus einem Theaterstück. Sie beide hier im Gebüsch, mit Farbe an den Händen und am Malerkittel, er mit Sägespänen im Haar, die sie ihm gern weggewuschelt hätte. Drinnen das halbfertige Projekt und die Leute, die sich sicherlich wunderten, wo sie abgeblieben waren. Oben im Baum saß eine Nebelkrähe und gab ein Geräusch von sich, das verdächtig nach Gelächter klang.
»Und trotz alledem, das mit Natalie ist einfach noch nicht lange genug her.« Timon breitete ratlos die Arme aus. »Ich bin beinahe daran kaputtgegangen, als zum zweiten Mal alles zusammengebrochen ist. Ich konnte nicht schlafen und nicht essen. Ich bin kein Baum! Ich brauche Zeit, Nele, bitte! Ich habe eine einzige Idee, wie es gehen könnte, aber ich kann das nicht von dir verlangen. Ich will dich trotzdem fragen.«
»Nele? Bist du da draußen?« Jakob war aus der Tür getreten und sah sich suchend um.
»Wir kommen gleich, Jakob!«, rief sie.
»Lasst euch Zeit. Ich mach das schon.« Er klang belustigt und verschwand wieder.
»Der gute Jakob«, sagte sie gerührt. »Ich möchte auch einmal so werden wie er. So durch und durch anständig, unkompliziert und einfühlsam.«
»Ich wünschte auch, ich wäre wie er«, sagte Timon traurig. »Dann wäre alles ganz einfach zwischen uns.«
»Nein, Timon, so habe ich das nicht gemeint! Ich möchte dich kein bisschen anders haben, als du bist. Was ist dein Vorschlag?«
Er steckte die Hände tief in die Taschen und sah sie an. »Ich werde nach Kanada gehen. Für ein Jahr. Aber ich verspreche dir wiederzukommen. Und wenn du dann immer noch möchtest, wenn du wirklich an uns glaubst, wenn wir uns immer noch vermissen und du dich auf mich freust und mit mir zusammen sein möchtest, so richtig, dann versuchen wir es. Aber du musst mir nichts versprechen!«, fuhr er hastig fort. »Das wäre nicht fair. Für dich könnte sich alles ändern. Das ist dann in Ordnung. Wir warten und sehen, wie es sein wird. Aber ich verspreche dir, dass ich wiederkomme.«
Sie starrte ihn an. »Und du glaubst, das könnte funktionieren? Wenn ich mich darauf einlasse, machst du dir doch trotzdem Hoffnungen. Du könntest wieder enttäuscht werden.«
Er hob die Schultern. »Es ist die einzige Lösung, die mir einfällt. Mehr traue ich mir nicht zu. Aber das würde ich mir sehr wünschen. Du musst nicht sofort antworten. Wir gehen da jetzt erst mal rein und bringen diese Wand zu Ende.«
»Nein! Ich will nicht mehr darüber grübeln. Das kostet zu viel Kraft. Und Zeit. Zeit ist kostbar.« Nele schüttelte heftig den Kopf, dann nickte sie. »Wenn du jetzt gegangen wärst, hätte ich auch ohne dich auskommen müssen. Wir versprechen uns überhaupt nichts. Ich dir nicht, aber du mir auch nicht! Das geht gar nicht. Für dich kann sich auch alles ändern. Das heißt, wir versprechen uns nur eins: Wir bleiben in Kontakt, solange wir beide es wollen. Aber das so richtig gründlich, wie es – anders als in Vios Jugend – zum Glück geht, mit Videoanrufen und allem. Das wünsche ich mir! Jeden Tag. Es sei denn, einer von uns sagt irgendwann, dass ihm das zu viel ist. So lernen wir uns immer besser kennen und nutzen die Zeit. In einem Jahr treffen wir uns, egal wo, und sprechen darüber. Dann entscheiden wir. Kannst du damit leben?«
Er nahm endlich die Hände aus den Taschen. »Ich könnte doch gar nicht anders, als ständig Kontakt zu dir haben zu wollen! Ich bin ein Idiot, dass ich nicht bleibe. Aber ja, Nele, liebe Nele, wenn du das kannst, dann machen wir es so. Das klingt gut.«
»Ich habe nie an Fernbeziehungen geglaubt«, sagte sie. »Aber wenn ich zurückdenke, habe ich überhaupt nie an Beziehungen geglaubt. Jetzt will ich das zur Abwechslung endlich mal tun.«
»Ich auch!« Er griff nach ihren Händen. »Auch wenn das alles klingt wie das Gegenteil, ich glaube an uns beide. Ich traue mich nur noch nicht. Aber etwas ganz tief in mir sagt mir, dass es umso besser werden wird.«
»Da ist noch etwas.« Sie sah ihm so gern in die Augen. Das würde per Video nicht dasselbe sein. Aber immerhin. »Wir nutzen diese Zeit! Du startest die Waldwolle auf der Farm deines Freundes. Aber ich werde auch nicht nur herumsitzen und warten. Ich möchte etwas ganz Neues anfangen, etwas Eigenes.« Egal, was kommen würde, sie wusste inzwischen, dass sie sich zumindest immer auf sich selbst würde verlassen können. Wie es Vio, Hella und auch Joram getan hatten. Das eigene Glück war von niemand anderem abhängig.
Wundervoll wäre es schon, wenn sie ihr Leben eines Tages mit Timon teilen könnte. Sie wünschte sich nichts mehr als das. Genau wie er trug sie irgendwo in sich die Gewissheit, dass es so kommen würde.
Er lächelte sie an, erleichtert jetzt, genau wie Nele. Sie hatten einen Weg gefunden. Es war nicht das Ende.
Endlich küsste er sie. Die Zeit dehnte sich gutmütig, als hätten sie welche von den Bäumen geliehen. Hoffentlich hat Jakob alles im Griff, dachte Nele, und dann dachte sie gar nichts mehr, außer dass alles gut werden würde, egal, wie lange es dauerte.
Bis dahin würde sie ihre eigenen Wurzeln treiben.
Jakob und Matteo hatten inzwischen die großen Segel aus der braunen Pappe geschnitten, wie Timon es aufgezeichnet hatte, und ein wenig gebogen, als stünde der Wind darin.
»Sieht wirklich aus wie Zeesbootsegel!«, sagte Matteo zufrieden.
Sie hielten die Stücke gerade probeweise an die Wand, als Nele und Timon zurückkamen.
»Jetzt gibt es eine Pause!«, verkündete Franzi. »Würstchen und Kartoffelsalat für alle. Geht aufs Haus«, ergänzte sie in Richtung Hella, Quentin und den Kartenspielern. »Bis wir gegessen haben, ist die Farbe trocken.«
»Dann montieren wir die Pfosten an den Tisch und gestalten aus den Ästen und Rindenstücken den Bootskörper.« Timon war jetzt voller Tatendrang. Über die vollen Teller hinweg wechselte er einen Blick und ein Lächeln mit Nele.
»Wenn es hier so hübsch wird, müssen wir auch über neues Geschirr nachdenken«, sagte Franzi zu Matteo. »Das ist ja alles immer noch nur zusammengesuchter Notbehelf. Das passt dann nicht mehr.«
»Das geht nur nach und nach. Wir dürfen uns nicht übernehmen.« Er sah besorgt aus.
»Wenn zweite Wahl okay ist, kann ich euch vielleicht bald mit Probestücken versorgen«, sagte Nele beiläufig und bereute es beinahe wieder, als es still wurde und alle sie erwartungsvoll ansahen. Nun musste sie ihnen natürlich von ihrer neuesten Idee berichten, davon, dass sie die Töpfer Philip und Carly Prevo kennengelernt hatte und dass sie mit Hilfe der Waldtinte auf Tassen und Tellern von den Bäumen erzählen wollte.
»Das gefällt mir«, sagte Hella. »Sehr! Da ich es nicht mehr kann, würde ich es sehr beruhigend finden, wenn du eine Botschafterin des Waldes wirst. Ganz in Jorams Tradition. Und wie soll das genau aussehen?«
»Carly will mir helfen. Sie hat einen Plan, den sie mir noch erklären will.«
»Na, da sind wir alle gespannt«, sagte Jakob beifällig, und Nele wurde es warm ums Herz.
»Und wenn es nicht klappt, kannst du immer wieder zurück zum Theater und Kulissen herstellen«, meinte Franzi und gestikulierte zu der Wand hin. »Wenn ich sehe, wie du das hier hingezaubert hast, dann muss es dort erst recht die Zuschauer in den Bann gezogen haben.«
Ja, das zu wissen war beruhigend. Aber Nele wollte nicht zurück. Das lag nicht in ihrem Wesen, und nun wusste sie ja auch, von wem sie das hatte. Teddy und dem Theater ging es gut, auch ohne Nele. Sie wollte vorwärts, Neues entdecken. In sich selbst, an Materialien, an Orten.
Mit frischem Schwung brachten sie den Bootskörper an der Wand an. Nele bestand darauf, die Löcher für die Halter selbst zu bohren und festzuschrauben. Nicht dass sie Timon oder Jakob nicht vertraute. Aber dies war ihr Herzensprojekt, für all ihre neuen Freunde, die hier oft sitzen würden.
»Ich habe beschlossen, dass der Imbiss jetzt einen richtigen Namen bekommt«, verkündete Franzi. »Franzis Hafen!«
Dann wurden die Segel angebracht. Während Nele kehrte und Franzi wischte, rückten Jakob und Timon den Tisch an die richtige Stelle und fixierten die Pfosten. Matteo kümmerte sich um die Laternen. Auf jedem der vier Pfosten eine und oben am Mast auch. Franzi stöberte im Keller noch eine zarte Lichterkette auf, die sie am Bootsrumpf entlangzog.
Nele hatte sich ein wenig Sorgen gemacht, ob der ungewohnte Trubel nicht zu viel für Hella und Quentin war, und auch Timon hatte ein wachsames Auge auf die beiden. Doch sie schienen es zu genießen und wollten auch dann noch bleiben, als Matteo für alle einen großen Cocktail mixte. Zur Feier des Tages. Die anderen trugen die leeren Farbeimer und Werkzeuge hinaus, verstauten alles in den Autos, dann versammelten sie sich an dem Tisch, der mit den Pfosten und der Beleuchtung nun tatsächlich wie ein Bootssteg wirkte.
»Ich freu mich so!«, sagte Franzi. »Das ist noch viel schöner geworden, als ich es mir vorgestellt habe.«
»Vorhin habe ich ein Bild auf der Website und allen Kanälen gepostet. Es gibt von neugierigen Gästen schon Reservierungen für morgen.« Matteos Augen glänzten.
»Oh, da muss ich mir ein besonderes Menü ausdenken«, meinte Franzi vergnügt. »Ein neues Schild habe ich vor ein paar Tagen schon gemalt, das bringe ich gleich noch an, dann können wir eine richtige Eröffnung feiern. Kommt ihr auch?«
Nele schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich leider nicht. Ich habe eine Verabredung mit Carly und Philip, die ich nicht aufschieben kann.«