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Nele konnte es kaum abwarten, als sie am nächsten Tag nach Ahrenshoop fuhr, ihre getrockneten Proben sorgfältig eingewickelt neben sich auf dem Sitz. Nun, da das Wandprojekt zur allgemeinen Zufriedenheit abgeschlossen war, die Baumscheibe nur noch an Ort und Stelle gebracht und die Windharfe fertig durchtrocknen und montiert werden musste, hatte sie den Kopf frei für das neue Abenteuer. Nele war unendlich gespannt, wie die Waldtinte nach dem Brennen aussehen würde. Ob sie mit Philip Glasuren mischen konnte, die ihren Vorstellungen entsprachen. Und ob eine weitere Möglichkeit, die ihr eingefallen war, funktionieren würde.

Als Philip sie in der Töpferei begrüßte, war etwas anders als zuvor. Er war diesmal viel ungezwungener. Anscheinend hatte er sich mit der unerwarteten Verwandtschaft abgefunden.

»Glaubst du eigentlich, dass ich deine Mutter mal kennenlernen sollte? Immerhin ist sie meine Halbschwester. Würde sie das wollen?«, fragte er.

»Ich weiß nicht«, sagte Nele ehrlich. »Sie … sie interessiert sich eigentlich nur für ihre Kochkunst.«

Philip wirkte erleichtert. »Das ist in Ordnung. Ich freue mich, eine Nichte zu haben, aber ich denke, das genügt fürs Erste. Sieh mal, ich kann dir ein paar blaue Testglasuren zeigen. Und Carly hat dir bunten Ton angerührt, sie arbeitet ja viel mit Engobe. Sie ist auch gerade hier, in ihrem kleinen Atelier. Wenn wir fertig sind, erwartet sie dich. Sie hat Vorschläge. Wie immer.« Er lächelte zärtlich.

Ob zwischen ihr und Timon auch einmal eine so innige und tolerante Vertrautheit herrschen würde wie zwischen ihm und Carly?

Dass diese Möglichkeit bestand, lohnte jede Geduld.

Nele vergaß die Zeit völlig, während Philip sie in sein Handwerk einweihte. Er erklärte ihr, wie sie die fertigen Proben vor dem Brennen mit dem bunten Ton ergänzen und dann später nach dem Brand mit transparenter Glasur überziehen oder aber rau lassen konnte. Dann zeigte er ihr verschiedene Blautöne einer anderen Glasur, die man erst nach dem sogenannten Schrühbrand auftrug.

»Der hier!« Nele nahm aufgeregt einen Becher in die Hand. »Das ist genau das Blau, das ich meinte, nur eine Spur dunkler.«

»Kein Problem, das bekommen wir hin.«

»Du hast doch manchmal Gräser in den Ton gedrückt, wenn er noch weich war. Könnte ich das auch mit Zweigen und Wurzeln machen?«, fragte sie dann. »Oder Kiefernnadeln?« Joram hatte Hella erzählt, dass die Kiefernnadeln, die immer paarweise wuchsen, für die glückliche Zweisamkeit in einer Beziehung standen. Vielleicht würde das auch ihr und Timon Glück bringen. Es konnte nichts schaden, diese Hoffnung in Keramik greifbar zu machen.

»Ja, natürlich. Sie werden noch bessere Abdrücke hinterlassen als Gräser. Du kannst deine Bäume auch einritzen und danach die Ritzen mit der Tinte füllen, das würde einen noch dreidimensionaleren Effekt ergeben.«

Das gefiel ihr. Dann würden die Menschen die Gestalten der Bäume nicht nur sehen, sondern auch fühlen können, jedes Mal wenn sie das Geschirr in die Hand nahmen.

»Deine Zeichnungen sehen sehr gut aus. Der Stil passt zum Material«, ermutigte Philip sie.

Das bedeutete ihr viel, denn so gut kannte sie ihn nun schon, um zu wissen, dass er das nicht gesagt hätte, wenn er es nicht meinte. Er war schnörkellos direkt. Sie fand das angenehm. Auch die Ruhe, die er ausstrahlte, mochte sie.

Carly war anders. Sobald Nele ihr Atelier betrat, spürte Nele die vibrierende, warmherzige Lebendigkeit, die von ihr ausging und den ganzen Raum erfüllte.

Sie saß über die armlange Skulptur eines Kormorans gebeugt, der völlig naturgetreu wirkte, und doch schien es, als säße ein Schmunzeln im Winkel seines Schnabels. Carly betonte gerade die Federn mit dunkler Engobe. Als Nele eintrat, blickte sie auf und lächelte.

»Nele, wie schön!« Sie nickte zu dem Monitor hin, der auf der Ecke ihres Arbeitstisches stand. Die eine Hälfte zeigte das Bild eines Kormorans, das sie wohl als Vorlage benutzt hatte, auf der anderen war ein Foto von Neles Proben zu sehen. »Philip hat mir das vorhin schon rübergeschickt. Ich sehe sie mir nachher gleich im Original an. Dein Stil gefällt mir richtig gut! Du wirst ihn bestimmt zu etwas Besonderem entwickeln. Das passt auch wunderbar zu meiner Idee. Komm her, ich will dir etwas zeigen.«

Sie wischte sich die Hände ab und griff nach der Maus. Auf dem Bildschirm öffnete sich das Bild eines kleinen Häuschens mit einem Reetdach und einem großen Schaufenster. Galerie Gisela Henschel stand darüber, und in dem Schaufenster erkannte man Töpferware. Es war ein völlig anderer Stil, als Nele sich ihre eigenen Sachen vorstellte, sehr bunt und ein wenig exaltiert. Aber das Haus und der winzige Laden gefielen ihr.

»Wo ist das?«

»Das hat eine Bekannte gepachtet, Gisela, auch eine Töpferin. Es liegt auf der Insel Poel. Sie macht das dort seit über zehn Jahren. Hinten ist eine Werkstatt mit Brennofen, vorn der Laden – zugegeben sehr klein – und oben eine winzige Einzimmerwohnung. Es kostet nicht die Welt, ist auch schon älter und ein wenig abgewohnt.«

Carly wandte sich Nele zu und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Setz dich doch mal.«

Nele zog sich einen Hocker heran und fragte sich, was nun kam.

»Gisela ist jetzt fast siebzig. Sie möchte das Geschäft aufgeben und aufs Festland in die Nähe ihrer Tochter und Enkelkinder ziehen. Sie hat mich schon vor einiger Zeit angesprochen, ob ich nicht eine Nachfolgerin wüsste. Mir fiel nicht gleich jemand ein, aber nun bist du hier hereingeschneit, und als du mir von deinen Ideen und deiner Situation berichtet hast, fand ich sofort, das würde zu dir passen. Renovieren ist doch dein Ding, das dürfte also kein Hinderungsgrund sein. Den Hausbesitzer kennt Gisela gut, der hat ihr schon grünes Licht gegeben, dass sie gern jemanden bestimmen kann, der die Pacht übernimmt.«

»Aber …«

Carly hob die Hand. »Ich weiß. Lass mich zuerst ausreden. Man sagt viel zu schnell aber . Aber ist ein Killer von Träumen.«

»Das habe ich schon mal gehört«, murmelte Nele und dachte an Teddy, die Nele mit fast denselben Worten auf den Weg in den Geschichtengarten geschickt hatte.

»Das heißt nicht, dass man die Vernunft außer Acht lassen sollte«, fuhr Carly fort. »Nur, sieh mal, Poel ist keine anderthalb Autostunden von hier entfernt. Du könntest deine Werke hier herstellen und brennen, bis du genug gelernt hast, um selbst mit dem Ofen umzugehen. Oder einer von uns kommt zu dir und zeigt dir alles. Das würde ich sowieso gern machen. Ich lasse dich nicht allein mit der Sache. Wir können dir beide jederzeit mit Rat und Tat unter die Arme greifen. Gisela wird dir auch eine Einführung geben. Du kannst ja dort in der Nähe ein Zimmer nehmen, solange sie noch nicht ausgezogen ist, und bei ihr mitarbeiten, ihr beim Zusammenpacken helfen – dann könnt ihr euch gleich einigen, was du behalten willst oder nicht. Und wenn du irgendwann feststellst, das Ganze ist doch nichts für dich, dann helfe ich dir, eine neue Nachfolgerin zu finden. Versprochen. Ich halte die Augen offen und kenne eine Menge Leute in der Branche. Bei der einzigartigen Lage findet sich bestimmt jemand.«

»Ich wusste gar nicht, dass ich einen Laden will«, sagte Nele verwirrt und ein wenig wie betäubt von Carlys Enthusiasmus und ihrem anscheinend schon völlig ausgereiften Plan. So schnell kam sie nicht hinterher.

Carly lächelte. »Ich weiß, es ist ein bisschen viel auf einmal. Aber ich habe nun schon so oft erlebt, dass jemand etwas auf die Beine gestellt hat und es irgendwie geklappt hat. Es ist ja auch nur ein Vorschlag. Du wolltest doch den Menschen die Schönheit und Vielfalt und den Wert der Bäume nahebringen, nicht wahr? Da nützt es nichts, wenn du im stillen Kämmerlein schöne Dinge erschaffst. Die müssen die Leute dann auch zu sehen bekommen. Da wäre das doch ideal! Du musst ja nicht immer geöffnet haben. Bei Gisela sind es auch nur drei Tage in der Woche. Und das Beste ist, das Haus liegt direkt an der Strandpromenade. Außerdem kann dir bestimmt noch jemand aus deinem Freundeskreis ab und an helfen. Am Meer machen doch alle gerne mal Ferien. Was ist eigentlich mit dem Mann, in den du verliebt bist?«

Nele ergab sich und berichtete Carly von ihrer Vereinbarung mit Timon. Diese Frau war einfach jemand, der man vertraute und Dinge verriet, die man sonst niemandem erzählen würde.

»Na, perfekt«, fand Carly. »Dann kannst du das Jahr doch wunderbar mit deiner Töpferei verbringen und gucken, ob es dir Freude macht, ob es gelingt und ob der Laden läuft. Pass auf, wie wäre es, wenn wir einfach hinfahren? Du kannst es dir ansehen und dann entscheiden.«

»Wie, jetzt sofort?«

»Warum nicht? Es wird dir doch sowieso im Kopf herumgehen. Wir haben noch den ganzen Nachmittag Zeit, und wir können unterwegs ein Fischbrötchen essen. Gisela hat heute offen. Ich habe ihr schon von dir erzählt. Sie würde sich freuen. Selbst wenn du ablehnst, du bekommst immerhin eine zweite Werkstatt zu sehen und eine Töpferin mit einem ganz anderen Stil, das ist auf jeden Fall lehrreich.«

Nele konnte nicht anders, sie fing an zu lachen. »Wie viel Bedenkzeit hätte ich denn nach unserem Besuch dort?«

»Oh, bestimmt jede Menge, wenn du sie brauchst. Gisela muss ja nicht von heute auf morgen aufhören. Sie möchte es einfach in absehbarer Zeit tun.«

Das Fischbrötchen holten sie sich im Räucherhaus am Hafen, in dem jetzt nur noch wenige Boote lagen. Die meisten waren bereits eingewintert. Es war kühl heute, die Bäume inzwischen fast kahl, aber es lag eine mystische Atmosphäre über der Landschaft. Der Fisch und der heiße Sanddornsaft schmeckten göttlich und weckten in Nele eine seltsame Aufbruchsstimmung und den Mut, der ihr vorhin noch gefehlt hatte.

Warum eigentlich nicht? Vio würde Carlys Plan wahrscheinlich großartig finden. Sie würde investieren wollen, das hatte sie ja oft genug angeboten, wenn Nele etwas auf die Beine stellen wollte. Vio hatte an ein Theater oder eine Firma zum Kulissenbau gedacht, aber dieses Unternehmen, das mit Bäumen zu tun hatte, würde sie bestimmt noch mehr begeistern.

Die Straßen waren wohltuend leer, der Strom an Feriengästen hatte längst abgenommen. Es dauerte tatsächlich nicht einmal anderthalb Stunden, bis sie die Brücke zu der kleinen Insel Poel erreichten, von der Nele noch nie etwas gehört hatte.

Kurze Zeit später hielt Carly am Ende einer Straße. »Hier geht es nicht weiter. Nur noch ein paar Schritte, dann sind wir schon da.«

Nele sah sich um. Vor ihr lag der Strand. Im Wasser waren Findlinge verstreut, die wirkten, als ob sie auf der Oberfläche trieben. Auf einer Steilküste neigten sich Bäume aus einem dichten Wald Richtung Meer. Die Promenade war eigentlich nur eine Straße mit einigen Häusern, ein paar Beeten und dahinter Büsche, die Windschutz vom Meer her boten.

Die Atmosphäre sprach sofort etwas in ihr an. Bisher hatte sie Carlys Vorschlag wie betäubt zur Kenntnis genommen. Es war zu viel, der Gedanke zu neu. Im Kopf hatte sie es verstanden, aber nichts dabei gefühlt. Jetzt aber fuhr eine freudige Aufregung durch sie wie ein kleiner Stromstoß.

»Viele Geschäfte gibt es hier nicht. Gleich hinter der Töpferei beginnt ein Moor und ein Streifen Wald«, erklärte Carly. »Es ist angenehm ruhig, und trotzdem hast du eine Menge Laufkundschaft, wenn Saison ist.«

Ein Haus am Meer, in der Nähe von Wald! Sie würde Bäume finden, die ihr Kraft und Trost schenkten, und den Wind hören, der in ihnen flüsterte, wenn sie sich mit den Wellen unterhielten. Sie könnte in Ruhe alle ihre Ideen umsetzen und bekäme auch noch Hilfe von lieben Menschen. Sie konnte Hella und Quentin besuchen, wann immer sie wollte, mal bei Franzi essen, Jakob um Rat fragen und bei Philip und Carly lernen. Sie würde Timon furchtbar vermissen, aber sie hätte ihm jeden Tag etwas zu erzählen und zu zeigen, und sie würde nicht einsam sein.

Jetzt konnte sie es kaum erwarten, das Haus zu sehen, und lief immer schneller. Carly hielt schmunzelnd mit.

An der Tür waren dieselben typischen geschnitzten Ornamente angebracht wie bei so vielen auf dem Darß. Hier waren es ein Kranich und eine Windflüchter-Kiefer.

Wie ein Zeichen von Joram, dachte Nele. Das kann doch kein Zufall sein?

Zwei Stunden später stiegen sie wieder ins Auto. Hatte Nele auf dem Hinweg überfordert geschwiegen, so fiel ihr nun selbst auf, dass sie vor Freude unentwegt plapperte. Sie konnte nicht anders.

»Es ist einfach perfekt! Ein Traum, Carly! Der Laden vorn ist so klein, dass ich bestimmt damit fertigwerde. Das kann man wunderschön einrichten, und das Schaufenster ist herrlich groß. In der Werkstatt ist jede Menge Platz, das denkt man zuerst gar nicht. Und die Wohnung ist so gemütlich, genau richtig für mich. Das ist so schön, ich kann es noch gar nicht glauben. Und Gisela ist nett, mit ihr habe ich mich gleich verstanden. Die Übergabe wird super klappen.«

»Aber die Wohnung ist wirklich sehr renovierungsbedürftig, und der Laden auch«, gab Carly zu bedenken. »Es ist schlimmer, als ich dachte.«

»Ach was, das ist es ja gerade, was mir Freude macht. Ich werde im Laden eine Baumkulisse bauen. Und ich bin sicher, Timon wird mir helfen, bevor er fährt. Er sucht ja erst nach einem Pfleger für Hella und Quentin. Dann haben wir noch etwas mehr Zeit miteinander. Und Jakob hilft auf jeden Fall. Ich bin dir so dankbar, Carly!«

»Sehr gerne. Mir hat auch einmal jemand geholfen, als ich nach Ahrenshoop kam und nicht wusste, wie mein Leben weitergehen soll, weißt du. Das war ein absoluter Glücksfall für mich. Ich freue mich, wenn ich nun dich unterstützen kann. Aber heißt das, du hast dich schon entschieden? Willst du nicht wenigstens einmal darüber schlafen?«

»Nein, das muss ich nicht. An der kleinen Terrasse hinten wächst ein Vogelbeerbaum.«

»Und das bedeutet was genau?«, fragte Carly erstaunt.

»Ein Vogelbeerbaum steht unter anderem dafür, der eigenen Intuition zu vertrauen und für Neubeginn. Das hat Hella mir beigebracht. Sie kennt all die mythischen Bedeutungen der Bäume. Außerdem hat mir ein Vogelbeerbaum Glück gebracht, als ich diese Reise begonnen habe. Dann wird das auch jetzt funktionieren. Halt mich ruhig für verrückt, aber ich bin mir sicher!«

»Ich halte dich nicht für verrückt, ganz im Gegenteil«, sagte Carly und schmunzelte in sich hinein. »Ich glaube solche Sachen mehr, als du ahnst.«

Nele lehnte sich zurück, zum Platzen glücklich. »Ich auch. Ich weiß einfach, dass ich genau dies machen will. Erst mal. Alles andere wird die Zukunft zeigen.«

»Das mit den Ideen ist wie mit den Samen von Bäumen«, sagte Carly. »Die Ahornsamen, die auf Flügeln vom Wind verteilt werden, oder die Kiefernsamen in den Zapfen. Es gibt unzählige davon, und nur wenige werden am Ende wachsen, aber damit bestimmt etwas wächst, braucht man diese Mengen. Der Rest wird Nahrung oder Kompost. Nichts ist umsonst. Auch keine Idee, selbst wenn nichts daraus wird oder sie nicht für ewig ist.«

»Wer weiß, was noch kommen wird«, meinte Nele vergnügt. »Vielleicht töpfere ich hier nicht nur. Vielleicht schreibe ich irgendwann ein Drehbuch für das Theater, mit Kranichen, Wind und dem Leben der Bäume darin.«