Philip hatte Bilder von den fertig gebrannten Probestücken geschickt, noch spät in der Nacht. Nele war von dem Ping aufgewacht, da sie ganz vergessen hatte, ihr Handy stumm zu schalten. Fasziniert starrte sie auf das Display. Natürlich würde sie die Sachen anfassen müssen, um sicher zu sein, wie sie geworden waren. Aber es sah gut aus! Noch viel besser, als sie gehofft hatte. Die Waldtinte hatte im Ofen unter der Glasur eine leicht unregelmäßige Struktur und Schattierung erhalten, die an Rinde erinnerte, und die Zeichnungen insgesamt einen ganz eigenen Ausdruck. Die blaue Glasur leuchtete noch nicht ganz in dem Farbton, den sie sich vorstellte, aber da konnten sie noch viel ausprobieren.
Nele mochte den Blick nicht abwenden.
Draußen über der Dachluke kreiselte der Lichtstrahl des Leuchtturms über den Himmel und warf in regelmäßigen Abständen einen leichten Schein ins Zimmer. Den würde sie sehr vermissen. Aber es war Zeit für etwas Eigenes, Neues! Diese kleine Wohnung mit den Schwalben vor dem Fenster, dem missmutigen Nashorn, den Flecken an der Wand und dem Licht in der Nacht hatte ihr Geborgenheit gegeben wie ein Kokon, in dem sie sich verwandelt hatte. Nicht direkt in einen Schmetterling, aber in eine neue, freiere Version ihrer selbst. Sie wusste nun, woher sie kam und was ihr wichtig war. Dass es in ihrer Hand lag, diesen Weg weiterzugehen, aber dass sie es nicht allein tun musste. Sie hatte Freunde. Und obendrauf als großes Geschenk die glückvolle Hoffnung auf eine Zukunft mit Timon, wie auch immer diese aussehen mochte.
Bis dahin gab es viel zu tun.
Jakob wartete am Hafen auf sie. »Es kann losgehen! Ich habe die Trichter schon aufgeladen.«
Es war seine Idee gewesen, dass Nele die Saiten der Harfe auf dem Zeesboot stimmte, draußen auf dem Wasser, wo er das Schiff drehen, die Geschwindigkeit wechseln und so alle vier Windrichtungen in verschiedenen Stärken simulieren konnte. Er hatte mit dem endgültigen Einwintern des Bootes extra noch gewartet. Sie hatten gerade noch Glück. Der Frost hatte leichte Eisränder um die Schilfhalme gelegt, die leise klirrten, als die Bugwelle sie traf. Aber das Wasser war frei, als sie aus dem Hafen auf den Bodden hinaussegelten.
Gespannt hatte Nele die Saiten schon am Tag zuvor in der Werkstatt. Jetzt ging es nur um das Stimmen. Wenn die Trichter dann in der Kiefer montiert waren, würde sie noch ein wenig nachjustieren müssen. Später dann wollte sie regelmäßig zum Stimmen vorbeikommen – das freute sie, weil es ein guter Grund sein würde, wieder zurückzukehren. Nicht dass sie einen gebraucht hätte. Aber es gab ihr das Gefühl dazuzugehören. Und es war eine Art des Gedenkens an den Großvater. Andere gingen dafür auf einen Friedhof. Sie würde sich um eine Windharfe kümmern.
Kalt war es! Nele schimpfte leise vor sich hin, weil ihre Finger steif wurden. Mit den Handschuhen aber war sie zu ungeschickt.
»Geht es denn?«, fragte Jakob, der am Steuerrad genau ihren Anweisungen folgte und dabei die exakte Windrichtung ansagte.
»Ja, es dauert eben nur länger. Ach, Jakob, klingt sie nicht wunderbar? Schön und geheimnisvoll. Nachdenklich und melancholisch und stürmisch und heiter und grandios und zärtlich und hoffnungsvoll, alles im Wechsel!«
»Ja. Wie der Wind selbst. So wie Joram und seine Freunde es wollten. Nur diesmal noch besser.«
»Weil es heutzutage bessere Saiten gibt.«
»Vielleicht auch, weil du musikalischer bist als dein Großvater. Es würde ihn jedenfalls sehr freuen, die Harfe zu hören.«
»Das hoffe ich. So, fertig!« Nele stellte den vierten Trichter zurück zu den anderen. »Boreas, der Nordwind. Zephyros, der Westwind. Notos, der Südwind. Apheliotes, der Ostwind. Alle Kinder der Morgenröte und der Abenddämmerung. Ich habe jedem einen anderen Klang gegeben. Aber so, dass sie miteinander harmonieren, wenn die Wetterleute mal wieder ansagen: ›Wind aus unterschiedlichen Richtungen‹. Könntest du jetzt bitte auf dem Rückweg noch einmal Fahrt aufnehmen, damit sie richtig laut werden? Ich möchte den Klang aufnehmen. Für Hella. Und für Vio.«
Als sie wieder im Hafen angelegt hatten, fuhr Jakob auf Neles Bitte hin die Trichter zu Hella. Dort brachten sie sie in der Scheune unter, damit Hella sie genau betrachten konnte, mitsamt Neles Tintenzeichnungen darauf und dem Symbol, haargenau wie es auf der ursprünglichen Harfe gewesen war.
»Und so klingen sie«, sagte Nele und stellte ihr Handy auf laut.
Hella setzte sich auf einen Strohballen. Tränen glänzten in ihren Augen. »Es hört sich an wie damals!«, sagte sie leise. »Nur noch schöner. Du glaubst nicht, wie das alles wieder für mich lebendig macht. Und wie sehr es für mich die Stimme der Küste ist und des Waldes! Du machst mich glücklich damit, Nele. Joram hatte recht. Solange diese Windharfe Töne über die Landschaft treiben lässt, wird der Wald eine Zukunft haben. Die Menschen werden wieder mehr im Einklang mit ihm leben und ihn lieben lernen. Wann wollt ihr sie im Baum anbringen?«
»Morgen früh. Wenn die Sonne aufgeht, fahren wir bei Jakob los, mit der fertigen Baumscheibe, und holen hier noch die Trichter und Timon ab. Und jetzt habe ich noch eine große Bitte an dich, Hella.«
Später in der Wohnung setze sich Nele ein letztes Mal an den Tisch mit der Dachschräge darüber, an der sie sich so oft den Kopf gestoßen hatte. Wahrscheinlich würde sie sogar das vermissen. Sie rief die Seite von Remys Geschichtengarten auf Rügen auf und lud sich die Formatvorlage herunter, in der man Geschichten einsenden sollte, wenn man eine Pflanze dorthinbringen wollte.
Oder einen Baum.
Den Baum, den sie gestern mit Hella und Jakob am Waldrand ausgegraben hatte und der nun in einem Topf auf dem Balkon stand. Genau wie im Sommer noch bei Vio, als Nele das nicht verstanden und sich erst gesträubt hatte, ihn nach Rügen zu bringen. Jetzt war alles anders. Diesmal war es keine Kiefer, sondern ein Vogelbeerbaum. Und diesmal war es nicht für Vio, sondern für Nele selbst. Damals im Geschichtengarten hatte sie sich ausgemalt, wie sie, wenn sie alt war, auch einmal jemanden bitten würde, einen Baum für sie dort einzupflanzen. Doch warum darauf warten? Sie wollte es selbst tun, und zwar jetzt. Sie wollte ein Zeichen hinterlassen. Dafür, dass ihre Pläne und vor allem ihre Liebe zu Timon Wurzeln in die Erde treiben würden. Und dann war da noch etwas, das sie sich für die letzten freien Zeilen aufgehoben hatte.
Vielleicht liest dies irgendwann jemand, der den Namen Joram einmal gehört hat, weil sein Vater oder Großvater ihn erwähnt hat, im Zusammenhang mit einer Freundschaft von vier Männern auf dem Darß Anfang der fünfziger Jahre. Eine Freundschaft, für die ein bestimmtes Symbol stand. In diesem Fall würde ich mich freuen, wenn sich derjenige bei Remy Kreyhenibbe melden und den Kontakt zu mir suchen würde.
Nele
Sie hatte zwar inzwischen das Gefühl, einiges über ihren Großvater zu wissen, ihm sogar auf eine gewisse Art nahe gekommen zu sein. Doch jetzt, da ihr klargeworden war, wie wichtig Freundschaften und gegenseitige Unterstützung sein konnten, hätte sie gern gewusst, wer seine Freunde gewesen waren. Was für Männer damals die Harfe gebaut hatten, gemeinsam, ehe sie auseinandergingen. Und was wohl aus ihnen geworden war. Eine Suche nach dem kleeblattähnlichen Symbol im Internet hatte nichts ergeben. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Nachkommen ausgerechnet im Geschichtengarten auftauchen würde, war äußerst gering. Aber man konnte nie wissen.
Nele würde Remy die ganze Geschichte erzählen und das Symbol zeigen, denn die hatte durch ihre Zeitschrift und den Garten so viele Kontakte und war so umfassend im Internet unterwegs, dass sie durchaus eines Tages auf etwas stoßen mochte. Diskret war sie auch. Denn von der Windharfe sollte nichts verraten werden, außer wenn möglich an die Nachkommen jener, die mit dem Bau zu tun gehabt hatten. Die Gefahr, dass sie zerstört oder gestohlen werden würde, war viel zu groß. Nein, sie sollte wie früher heimlich und leise oben aus dem Wipfel ihre Töne fliegen lassen.
Nele schickte ihren Text ab, zusammen mit einer Mail an Remy, dass sie morgen am frühen Nachmittag vorbeikommen würde. Sie freute sich schon darauf, wieder eine Nacht in der gemütlichen Pension Silberpappel zu verbringen und abends im Geschichtengarten mit Remy zu plaudern, ehe sie sich auf den Weg nach Poel machte, um zu bleiben.
Gisela hatte für sie in einem der im Herbst öfter leer stehenden Ferienhäuser für einige Wochen eine kleine Wohnung gefunden, bis Nele über dem Laden einziehen konnte. Weihnachten würde sie schon in ihrer eigenen Galerie verbringen, so erstaunlich das klang.
Galerie Nele Sommer gefiel ihr jedoch nicht. Das hatte keinen Klang. Sie hatte lange darüber gegrübelt, was sie auf das Schild über der Ladentür schreiben sollte. Mitten in der Nacht dann hatte ihr der Strahl des Leuchtturms die richtige Idee gebracht.
Die meisten meiner Sachen werden diese blaue Glasur haben. GALERIE SOMMERBLAU soll der Laden heißen! Das passt und klingt schön , schrieb sie an Timon.
Perfekt!, antwortete er sofort. Anscheinend hatte er auch nicht schlafen können.
Schließlich packte sie ihre Sachen, bis auf ihr Nachtzeug. Das Nashorn blickte noch trauriger als sonst. »Die Wohnung wird bald wieder vermietet. Dann bekommst du bestimmt Lustiges zu sehen«, sagte sie. »Sicher komme ich auch mal wieder. Außerdem hast du ja jetzt einen Wald an der anderen Wand, den du angucken kannst. Es war nett von dir, dass du mir Gesellschaft geleistet hast.«
Am nächsten Morgen war es noch immer frostig, auch wenn der Raureif fort war. Es war nicht stürmisch, doch ein verspielter Wind ließ letzte bunte Blätter durch die Luft wirbeln, als ob er noch einmal an die leidenschaftlichen Farben des Herbstes erinnern wollte, die vor kurzem noch in den Wipfeln förmlich gebrannt hatten. Die dunklen Kiefern standen ernst zwischen den kahlen Laubbäumen und gaben ihre Geheimnisse nicht preis. Ab und zu brach die Sonne durch die Wolken und warf mal hier, mal dort Lichtflecken in den Wald wie einen festlichen Segen.
Diesmal hatte Hella ihre alten Beziehungen spielen lassen und eine Sondergenehmigung erhalten, mit dem Auto auf den Forstwegen in den Wald zu fahren, um zu Bildungszwecken die beschriftete Baumscheibe anzubringen. Die Windharfe vergaß sie dabei geflissentlich zu erwähnen.
Nele und Timon schwiegen unterwegs meist, beide in wehmütigen Gedanken gefangen. Zwar hatte er ihr mit Begeisterung versprochen, noch mit der Renovierung der Galerie zu helfen. Dennoch rückte das Jahr der Trennung näher, und für beide ging die wichtige Zeit auf dem Darß zu Ende. Außerdem war Nele der Abschied von Hella und Quentin schwergefallen.
»Aber ich komme euch bald besuchen«, hatte sie versprochen und ihnen ein letztes Mal auf der Gitarre etwas vorgespielt.
»Ich weiß, Liebes. Du machst alles richtig! Wir sind in Gedanken bei dir«, sagte Hella.
»Und ihr beiden bekommt meine ersten gelungenen Tassen«, versprach Nele.
Jakob schaffte es, den Anhänger so nahe an die innig verflochtene Kiefer und Eiche zu manövrieren, dass sie die beschriftete Baumscheibe nur noch mit vereinten Kräften hinunterrollen und schräg an einen Stein lehnen mussten. Jakob befestigte sie mit einer enormen metallenen Klammer daran, damit sie niemand umwerfen konnte.
Nele machte ein Bild. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so gut aussieht«, freute sie sich erstaunt. »Nun haben die Bäume etwas zu sagen, das jeder versteht.«
Ein Windstoß fuhr ihr in die Haare und heftete eine Feder an Timons Pullover, als wollte er drängen, dass sie sich endlich um das Wesentliche kümmerten.
Wir sind ja schon unterwegs, Joram!, dachte Nele. Sie war selbst äußerst gespannt, ob die Harfe klingen würde. Der Wetterdienst im Radio hatte ihr den Gefallen getan und für den frühen Vormittag Wind aus unterschiedlichen Richtungen angesagt. Nichts war besser geeignet, um auszuprobieren, ob die Harfe im Baum funktionierte. Allerdings würde der Wind später einschlafen. Eile war nötig. Zum Glück hatte sie mit Jakob die Halterungen schon vorbereitet. Die Trichter mussten nur noch angeschraubt werden.
Als der Weg endete, schulterte Timon die Leiter. Nele trug das Werkzeug, und Jakob zog den Handwagen mit den Teilen der Harfe, die stoßfest eingewickelt und mit einer Plane vor den Blicken Neugieriger geschützt waren. Doch sie begegneten niemandem an diesem kalten Morgen. Der Leuchtturm stand schweigend und würde nichts verraten.
Als sie die Kiefer erreichten, schien es Nele, als würde sie ihre Zweige erwartungsvoll herabbeugen. Das musste an ihrer Aufregung liegen.
»Passt auf da oben, die Äste könnten rutschig sein!«, warnte Jakob. »Sichert euch, wie ich es gestern erklärt habe.« Er gab beiden Seile mit Karabinerhaken. »Wenn man mit Werkzeug hantiert, neigt man dazu, womöglich an der falschen Stelle loszulassen.«
»Wir machen das schon.« Timon stieg voraus, einen Trichter auf den Rücken geschnallt. Nele folgte ihm mit dem Schraubenzieher und dem Kompass.
Das Befestigen war nicht einfach, weil ihnen der Wind die dichten Zweige um die Ohren schlug. Bald hatte Nele Nadeln im Kragen. »Verflixt, liebe Windgötter, könnt ihr nicht kurz mal Pause machen?«
Timon lachte. »Sie können ihr neues Spielzeug nicht erwarten.«
»Dir fehlt der nötige Ernst. Das ist kein Spielzeug. Das ist ein professionelles Instrument.« Aber Nele lachte auch. Es war ein unglaubliches Gefühl hier oben, mit dem Blick über den Wald und die Küste, in dem Wissen, dass sie mit vereinten Kräften eine alte, geheime Musik wieder zum Leben erwecken würden.
Viermal stiegen sie hinauf und wieder herunter. Dann entfernte Nele gespannt die schützenden Hüllen.
Unten tosten hohe Wellen gegen die Küste. Durch ihr Rauschen hindurch etwas zu hören war nicht einfach. Der Windsack, den Jakob an den Handwagen geklemmt hatte, zeigte an, dass der Wetterdienst recht gehabt hatte und der Wind tatsächlich ständig drehte. Nele klammerte sich an einen Ast und beugte sich nahe an den Trichter, der ihr am nächsten war. Notos. Sie hörte nichts.
»Ist bei dir was?«, rief sie zu Timon herüber, der noch neben Zephyros saß. Er lauschte angestrengt und schüttelte dann den Kopf.
Nele blickte auf den Windsack. Gerade kam eine Bö von Süden. Sie legte eine Hand auf das Holz und spürte die Schwingungen der Saiten vibrieren. Es hätten Töne zu hören sein müssen! Als sie diesen Trichter auf dem Boot gestimmt hatte, waren die Töne noch laut und deutlich gewesen. Doch nun, da alles an dem Ort seiner Bestimmung saß, war da nichts. Auch nicht als sie die Saiten nachspannte. Dasselbe bei Apheliotes. »Das gibt es doch nicht«, murmelte sie. Ein ungläubiger Verdacht keimte in ihr auf. Sollte es etwa stimmen, was Joram einst der kleinen Hella erzählt hatte?
Wenn die Harfe eines Tages verstummt, und du lässt sie reparieren, und wenn dann die Melodie in einigen Teilen dennoch nicht erklingt und die Saiten keinen Ton von sich geben, dann hat das einen Grund. Wenn es der Teil ist, der dem Nordwind gewidmet ist, dann muss meine Geschichte erzählt werden, weil sie vergessen worden ist. Dasselbe gilt für die anderen drei Trichter. Wenn von ihnen einer stumm bleibt, ist die Geschichte von demjenigen meiner Freunde verschollen, der ihn gebaut hat, und sie muss gefunden werden. Das ist das, was wir einander versprochen haben, bevor wir auseinandergingen, ein jeder in seine Richtung. Geschichten haben eine Macht. Sie sind das, was unser Leben zusammenhält und uns daran erinnert, dass wir Menschen sind.
Nele hatte es für ein schönes Märchen gehalten, mit der er das Kind hatte gut unterhalten und ein wenig verzaubern wollen. Und nun?
»Was ist?«, fragte Jakob von unten. Nele legte den Finger auf die Lippen.
Sie kletterte zu Boreas hinüber. Dort blieb sie sitzen, bis der Wind auf Nord drehte. Jorams Richtung. Mit angehaltenem Atem beugte sie sich vor.
Und dann hörte sie es. Sie hörten es alle. Nele sah es an Jakobs langsamem Lächeln, an Timons halb erstauntem, halb entrücktem Gesichtsausdruck.
Der Wind kam vom Meer, sammelte dort Kraft, flüsterte im Gespräch mit den Wellen. Dann fuhr er in die Bäume an der Küste, beugte sie und ließ ihre Äste rauschen, ehe er in den Trichter blies und die Saiten singen ließ. Tragend und geheimnisvoll, mal heller, mal dunkler, mal heiter, mal langsamer waren die reinen, schwingenden Töne, die Schallwellen, die sich im Einklang mit den Meereswellen weiter mit dem Wind auf die Reise begaben, über die Wipfel flogen wie die geflügelten Ahornsamen und die Möwen. Sie flogen leise und weit, so dass niemand wusste, woher sie kamen. Sie schlichen sich so unaufdringlich in die Ohren der Menschen am Strand, im Wald und auf den Straßen, dass niemand diese ungewöhnliche Musik bemerkte, außer dass ihre Stimmung heiterer wurde, die Seelen sich aufhellten und eine vage Gewissheit entstand, dass irgendwo etwas schön und in Ordnung war, etwas, das man vielleicht ganz in der Nähe finden würde.
»Wunderbar! Dann kommt jetzt runter«, rief Jakob.
»Ja, bin schon dabei!«, antwortete Nele.
Timon und Jakob wussten nichts von Jorams Vorhersage. Sie sollten ruhig denken, dass jetzt gerade eben nur der Nordwind stark genug blies. Momentan ließ der Wind sowieso bereits nach, die Wolken jagten nicht mehr so eilig über den Himmel, und die Wellen wurden flacher.
Es genügte, wenn Nele selbst die Wahrheit wusste. Sie hatte Jorams Geschichte festgehalten. Morgen würde das Schild im Geschichtengarten stehen, bei dem kleinen Vogelbeerbaum, den sie dort neben Vios Kiefer einpflanzen würde. Jeder würde sie lesen können.
Doch die Geschichten seiner Freunde waren wohl vergessen worden. Sollten sie eines Tages von jemandem erzählt werden, mochten vielleicht auch die anderen Teile der Harfe wieder erklingen. Seit sie Hella kannte, war Nele bereit, gelegentlich auch unerklärliche Dinge zu glauben. Vor allem wenn sie selbst Zeugin davon war. Sie hatte getan, was möglich war. Die Zeit würde zeigen, was noch kam. Bis dahin würde der Nordwind dafür sorgen, dass die Musik im Wald nicht verstummte.
Als Nele wieder auf dem weichen Boden zwischen dem Moos stand, kitzelte sie etwas Kaltes, Zartes am Ohr. Überrascht blickte sie auf und streckte beglückt die Hand aus. Weiße Flocken rieselten zwischen den Ästen herab.
»Es schneit!«