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»Guten Morgen! Dieser erstaunliche Anblick sieht so einladend aus. Könnte ich eventuell …«

Franzi fuhr zusammen, dann unterbrach sie den Fremden hastig, indem sie eine Hand hob und den Zeigefinger der anderen auf ihren Mund legte. Eindringlich zeigte sie nach oben. Gerade erst hatte sie entdeckt, dass in der obersten bauchigen Tasse eine Blaumeise begonnen hatte, ein Nest zu bauen. An diese Möglichkeit hatte sie nie zuvor gedacht.

Die Entdeckung hatte Franzi den Tag gerettet, nachdem es ihr heute schwergefallen war, aus den Federn zu kommen. Das war für sie so ungewöhnlich, dass sie ein wenig erschrocken gewesen war. Jetzt, da sie begriff, was der Vogel da oben anstellte, war sie auf einmal überschwänglich glücklich. Sie wollte auf keinen Fall, dass das winzige Wesen gestört wurde.

Die bunten Kaffeetassen am Sanddornbusch schaukelten leise im Wind. Dieser hatte endlich gedreht. Statt des kalten, scharfen Nordwinds der letzten Wochen kam er nun aus dem Süden. Lau und sanft strich er um die Hausecken und trug vom Meer her durch den Wald einen Duft nach Frühling bis in den Garten. Franzi hatte schon eine ganze Weile vor dem Baum mit den baumelnden Tassen gestanden und sie betrachtet, bevor ihr die Meise aufgefallen war.

Als Matteo und sie das Haus gepachtet hatten, war auf dem völlig verwilderten Grundstück überwältigend viel zu tun gewesen. Sie waren auch jetzt längst noch nicht fertig, aber es sah schon deutlich gemütlicher aus.

Franzi hatte es damals nicht übers Herz gebracht, den abgestorbenen Busch, der so knorrig gewachsen war, einfach abzusägen. Stattdessen hatte sie daran nach und nach verschiedene Tassen, die im Alltagsbetrieb angeschlagen wurden oder einen Sprung hatten, an farbigen Bändern aufgehängt. Sie waren ihre ganz persönliche Flagge, die sie hisste. Auch Beschädigtes ist etwas wert, zeigte sie damit. Die bunten Akzente vor dem blauen Himmel füllten die kleinen leeren Stellen in ihrer Vergangenheit mit Fröhlichkeit aus. Außerdem wirkte es wie ein Werbeschild für das Café, das jetzt »Franzis Hafen« hieß. Matteo hatte voller Überzeugung mitgemacht, aber es war zuerst ihr Traum gewesen.

Die Tassen am Baum fingen die Aufmerksamkeit der vorübergehenden Feriengäste ein und auch die mancher Einheimischer. Die Menschen blieben stehen, entdeckten die bequemen Sitze neben blühenden Büschen und kamen herein, um zu frühstücken oder einen Imbiss zu genießen, dazu gern ein freundliches Gespräch. Nach einer Weile hatten sie begonnen, ihre eigenen angeschlagenen Tassen mitzubringen und aufzuhängen. Schließlich gesellten sich sogar Teekannen hinzu.

Seit Franzi dabei war, im Café das alte Geschirr zu ersetzen, waren wieder mehr von ihren eigenen Sachen in den Baum gekommen. An jedem Stück hingen Erinnerungen, sie waren zu schade zum Wegwerfen. Aber auf das neue Geschirr war sie stolz. Es bedeutete, dass sie vorankamen. Diese Teller und Tassen hatte ihre Freundin Nele eigenhändig getöpfert. Sie trugen ein Muster aus Baumsilhouetten, das ausdrucksvoll und lebendig wirkte und perfekt zur Einrichtung passte. Nele stand mit ihrer Töpferei noch am Anfang und probierte viel aus, so konnte sie Franzi die nicht perfekt gewordenen Stücke überlassen. Franzi mochte gerade dies, dass auch hier jede Tasse, jeder Teller einen eigenen Charakter besaß, da ein wenig schief war, dort einen Fleck hatte. Unvollkommen wie die Menschen, denen sie Frühstück servierte. Vor allem wie sie selbst.

Versonnen stupste sie eine hellgrüne Tasse mit Vergissmeinnichtmuster an, um sie noch mehr in Bewegung zu bringen. Frühlingsfarben! Sie hatte sich so danach gesehnt, und nun wurden sie um sie herum wieder Wirklichkeit. Diese Tasse hatte sie in ihrem ersten Ausbildungsbetrieb aus dem Papierkorb gerettet. Sie war damals schon angeschlagen gewesen, aber sie hatte Franzi durch viele anstrengende Jahre begleitet. Zu jener Zeit war sie die unbeholfene Küchenhilfe gewesen. Jetzt führten Matteo und sie ein eigenes Lokal. Manchmal konnte sie es immer noch nicht fassen.

Sie hatte den Mann nicht kommen sehen, so versunken war sie in ihre unerwartete Frühlingshochstimmung gewesen. Er musste ein Feriengast sein, sie hatte ihn hier noch nie gesehen. Nun blickte er leicht amüsiert und betreten erst auf sie, dann nach oben. Die Verlegenheit wich einem Lächeln, er legte ebenfalls einen Finger auf die Lippen und nickte. Franzi winkte ihn um die Hausecke.

»Guten Tag! Entschuldigung. Ich wollte nur nicht, dass wir die Meise verjagen. Was wollten Sie sagen? Möchten Sie frühstücken?«

»Ja, das war mein spontaner Einfall, als ich diesen Tassenbaum sah. Hella Fuchs hat mir neulich Ihr Café empfohlen, ich soll Sie von ihr grüßen. Haben Sie denn schon geöffnet?«

»Ja, selbstverständlich. Sie kennen Hella?«, fragte Franzi interessiert. Die alte Dame wohnte nicht weit weg und war ihr ans Herz gewachsen. Hella hatte ihr schon oft einen guten Rat geben können, denn sie war hier auf dem Darß aufgewachsen, anders als Franzi, die noch nicht lange hier Fuß gefasst hatte.

»Ich habe bei ihr die frei gewordene Stelle als Pfleger angetreten. Sie wissen sicher, dass mein Vorgänger nach Kanada gegangen ist.«

»Ach, wie schön, dass Hella jemanden gefunden hat. Wo waren Sie denn vorher? Haben Sie sich schon eingelebt?«

Hoffentlich war er nett zu Hella und sanft im Umgang mit ihr. Sie schätzte ihn auf ein paar Jahre älter als sie selbst, etwas über vierzig vielleicht. Er hatte erstaunlich grüne Augen. Und die blickten wieder amüsiert.

»Entschuldigen Sie meine Neugier. Aber ich mag Hella sehr, und sie ist doch recht gebrechlich geworden«, schob sie rasch hinterher und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Franzi. Mein Lebensgefährte Matteo und ich führen gemeinsam das Café.«

Sein Händedruck war fest und warm. »Lian. Ja, danke. Ich habe früher schon einmal am Meer gelebt. Damals war es die Nordsee. Jetzt dachte ich, die Ostsee ist mal dran.«

»Ich verstehe. Ich habe auch schon an vielen Orten gearbeitet, das bringt die Gastronomie ja so mit sich. Jetzt hoffe ich, endlich zu bleiben. Setzen Sie sich doch! Was ist Ihnen lieber, drinnen oder draußen? Es ist noch kühl, aber …«

»… draußen ist es am schönsten«, beendete er den Satz für sie und nahm an einem der rustikalen Holztische Platz. »Unbedingt. Warum haben Sie denn das Café gerade hier eröffnet?«

Franzi schob ihm die Speisekarte hin. »Der Wald hier gefällt uns«, sagte sie. »Ich bin in einem Wald aufgewachsen. Ist lange her.«

Sie zupfte ein paar welke Primeln ab, während er las. »Ich nehme ein Käsebrötchen und ein Schinken-Rührei-Brötchen«, entschied er. »Und einen Kaffee, bitte.«

Als sie kurz darauf mit seiner Bestellung zurückkehrte, sah sie, dass Lian sehr gründlich zu sein schien, denn er studierte noch die Rückseite der Karte, auf der einige Worte über das Café und das Impressum standen. Wenn er seine Pflegetätigkeit ebenso sorgfältig ausübte, war Hella in guten Händen.

»Franzi T. Michelly und Matteo Martens«, las er. »Wofür steht das T? Oh, das sieht lecker aus. Vielen Dank.«

»Für Terra«, beantwortete sie seine Frage verblüfft, weil diese noch niemand von ihren Gästen zuvor gestellt hatte. Das T war ihr wichtig, ihr persönlicher Glücksbringer, aber sie hatte nicht gedacht, dass es jemandem auffallen würde.

»Erde? Wie ungewöhnlich. Hat das einen Grund?«

»Meine große Schwester heißt Luna. Mond. Mein Vater sagte, Mond und Erde halten sich gegenseitig im Gleichgewicht, das würde er sich für uns auch wünschen. Aber meine Mutter wollte, dass ich einen normalen Namen bekomme, weil sie ihm schon bei Luna nachgegeben hatte. Daher Franzi. Haben Sie auch Geschwister?«

»Nein.« Er legte die Karte beiseite und goss Milch in seinen Kaffee. »Und? Hat es funktioniert? Das mit dem Gleichgewicht?«

Franzi sah zu Boden. »Ich habe keinen Kontakt mehr zu meiner Schwester«, sagte sie leise. »Schon eine Ewigkeit nicht.«

Es war ein so herrlicher Morgen gewesen. Die Frühlingsstimmung hatte sie mit einem ungewöhnlichen Hochgefühl erfüllt. Und dann kam so ein Fremder daher und traf mit ein paar lässigen Worten zielgenau ihren wunden Punkt. Die Sonne strahlte immer noch, aber auf einmal schien das warme Licht kühl, wie gelbe Tinte.

Sie hatte immer gehofft, das T würde sie erden, dafür sorgen, dass sie nicht aus dem Gleichgewicht kam. Aber so für sich allein funktionierte das leider nur sehr unzuverlässig.

Er blickte betreten. »Tut mir leid! Meine verflixte Neugier. Ich finde Menschen einfach interessant. Berufskrankheit. Ich vergesse dabei manchmal, dass es übergriffig wirken kann.«

»Alles in Ordnung. Guten Appetit.« Franzi klemmte das Tablett unter den Arm und wollte hineingehen, aber die Erde, ihre Namenspatin, schien ihr auf einmal entgegenzukommen, und dann war da für einen Moment gar kein Licht mehr.

Als es zurückkehrte, war es der sanfte Schein einer der gemütlichen Lampen im Gastraum. Mühsam stellte sie fest, dass sie auf einer der Bänke lag, ein Kissen unter dem Kopf und die Füße hochgelegt. Ihr Blick fiel auf das Schiff aus Holzbalken mit Segeln aus Pappe, das sie vor einiger Zeit als Dekoration an der Wand angebracht hatten. Es schien in Fahrt zu sein, denn alles schwankte, bevor das Zimmer schließlich zur Ruhe kam. Eine ruhige, warme Hand fühlte Franzis Puls, und ein fragender Blick aus grünen Augen traf ihren. »Na, wieder da?«

Sie wollte sich aufsetzen, aber Lian schüttelte den Kopf. »Bleib noch einen Moment liegen. Hör auf den Fachmann. Ich bin Pfleger, schon vergessen? Du hast mir Frühstück gemacht, dafür habe ich dich aufgesammelt. Kein Problem.« Er lächelte angenehm gelassen.

Franzi versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. »Bin ich etwa umgekippt? Einfach so?«

»Stimmt genau. Wo ist eigentlich dein … Matteo, richtig?«

»Im Althäger Hafen, Räucherfisch kaufen. Er kommt bestimmt gleich zurück.« Sie war dankbar, dass Lian sie nun duzte, das machte die Situation zumindest etwas weniger peinlich. Jetzt setzte sie sich doch auf. Vorsichtig. Zum Glück blieben Fußboden und Zimmerdecke, wo sie waren. Nur seltsam flau war ihr im Magen. Lian musterte sie mit Kennerblick und drückte ihr ein halbes trockenes Brötchen in die Hand. »Iss, das hilft.«

Sie kaute langsam und stellte fest, dass er recht hatte.

»Hör mal«, sagte er, »ich weiß, normalerweise ginge mich das nichts an, aber als medizinische Fachkraft eben doch. Bist du schwanger?«

Franzi lachte und schüttelte den Kopf. »Aber nein. Sicher habe ich zu wenig getrunken. So viel Sonne ist ja noch ungewohnt.« Doch dann wurde ihr etwas klar. Sie starrte Lian verblüfft an und begann, fieberhaft zu rechnen.

Sie hatte die Pille genommen. Natürlich nahm sie die. Sie war mit Matteo erst drei Jahre zusammen, und in der Zeit hatten sie dreimal den Ort gewechselt und im letzten Jahr das Café aufgebaut. Da war das Thema Kind nicht einmal ansatzweise aufgetaucht. Zwar war ihr irgendwo in ihren ferneren Gehirnwindungen bewusst, dass sie mit ihren siebenunddreißig Jahren nicht mehr allzu lange damit warten konnte. Doch sie hatte es sehr gern dabei belassen. Denn sie wusste nicht, was sie in dieser Hinsicht wollte. Und ob sie sich dafür eignete. Nach allem, was gewesen war.

Aber sie hatte dermaßen viel zu tun gehabt in letzter Zeit. Das Café frühlingstauglich machen, der Garten, der Papierkram, neue Rezepte ausprobieren. Hatte sie da womöglich mal geschludert? Und überhaupt, hundertprozentige Sicherheit gab es ja nie …

»Du bist dir nicht sicher«, stellte Lian fest.

»Bist du immer so direkt?«, erkundigte sie sich irritiert.

»Das bringt mein Beruf mit sich. Alles andere nützt da nichts.« Aber er klang verständnisvoll. »Klarheit ist immer am besten. Finde es heraus.«

»Was soll sie herausfinden?« Matteo stand in der Tür, eine riesige Kiste mit Räucherfisch in den Händen. Er hatte die Vordertür offen gelassen, es zog, und der intensive Geruch stieg Franzi direkt in die Nase. Hastig schlug sie die Hand vor den Mund und flüchtete ins Bad.

»Was ist denn hier los?«, hörte sie Matteo fragen, bevor sie die Tür zuschlug.

Eine Weile später fühlte sie sich so blass, wie es der Spiegel behauptete. War sie das wirklich? Konnte sich innerhalb eines Augenblicks so viel verändern?

Der erschrockene Ernst in ihrem Ausdruck passte überhaupt nicht zu ihrem Wuschelkopf. Sie hatte sich immer blonde Locken gewünscht, wie Luna sie hatte. Stattdessen waren ihre Haare glatt, durchschnittsbraun und widerspenstig. Franzi trug sie in einem schulterlangen fransigen Bob und hatte sich angewöhnt, sie mit ein paar mit Holzperlen verzierten Schnüren aufzupeppen. Sie war eben nicht Luna.

Sie kämmte sich, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, bis sie sich wieder halbwegs menschlich fühlte, und holte tief Luft. Was hatte dieser Lian gesagt? Klarheit ist immer am besten. Alles andere nützt nichts .

Entschlossen ging sie zurück in den Gastraum. Draußen trank Lian seinen Kaffee. Drinnen wischte Matteo die Kiste aus. Der Fisch war wohl schon im Kühlschrank verstaut. Ihrer Übelkeit von vorhin zum Trotz verspürte Franzi plötzlich Appetit darauf.

Matteo kam ihr entgegen und nahm sie in den Arm. »Was ist los? Dieser Lian hat gesagt, dir ist schwindlig geworden.«

»Ja. Er ist jetzt der Pfleger bei Hella. Er hat mich gleich wieder fit bekommen.«

»Gut, dass er da war, aber was war denn bloß der Grund? Du hast bestimmt zu viel gearbeitet, ich wusste es doch! Hier, setz dich.« Er schob sie auf einen Stuhl. »Möchtest du Wasser? Oder besser einen Tee?«

Lian war also diskret. Nett. Aber schade eigentlich. Nun musste sie es Matteo selbst sagen, dabei hatte sie es noch kaum begriffen.

Und doch war Franzi sich auf einmal sicher. Daher die seltsame Euphorie heute Morgen. Von wegen Frühling!

Bald würden sie selbst so etwas wie ein Nest bauen müssen. Wie die Blaumeise in der Tasse. Hysterisches Gelächter stieg in ihr auf.

»Franzi?« Matteo betrachtete sie ratlos und besorgt.

Sie nahm sich zusammen, stand auf und streckte die Hand nach ihm aus. »Es geht mir gut. Ich mache mir gleich einen Kräutertee. Lass uns erst mal an die frische Luft gehen.« Sie zog ihn in den Vorgarten, wo sie allein waren mit den Narzissen und den fröhlichen rosa und blauen Hyazinthen. »Schön, oder?«, fragte sie. »Denk mal an letztes Jahr, da war das hier noch eine Baustelle.«

»Eine Sandgrube voller verwelkter Brennnesseln und Dornengestrüpp. Ja.« Zufrieden sah er sich um, dann küsste er sie. »Ich hoffe, dieses Jahr wird es schon leichter. Vor allem für dich. Wir müssen besser auf dich aufpassen!«

»Das ist es nicht.« Sie lehnte sich einen Moment an ihn, dann sah sie zu ihm auf. »Matteo, es … es kann sein, dass ich schwanger bin.«