ZWEI

GRANT

Ich starrte auf die E-Mail. Die war vor einer Stunde eingegangen und ich konnte mich nicht dazu überwinden, sie zu öffnen. Falls da nicht das drin stand, was ich wollte, dann konnte ich es wieder versuchen. Und das würde ich. Es war zu wichtig für mich, um es nicht zu tun, aber … was, wenn ich es nicht schaffte, aber nicht, weil ich es nicht hartnäckig genug versucht hatte, sondern weil ich nicht das Zeug dazu hatte?

„Willst du einen Spaziergang mit Oberon und mir machen?“ Lucians Stimme ließ mich fast vom Sitz abheben.

„Oh.“ Ich schaltete den Monitor in meinem Büro der Bücherei aus und stand auf. „Ja, das klingt gut.“

Das gäbe mir ausreichend Gelegenheit, nachzudenken oder auch nicht nachzudenken. Ich war mir nicht sicher, was besser für mich war. Aber eines war klar, die E-Mail nicht zu öffnen, änderte nichts am Ergebnis. Ich hatte entweder die Abschlussprüfung bestanden oder nicht. Es gab nichts dazwischen.

Als ich zuerst darüber nachdachte, Onlinekurse in Bibliothekswissenschaft zu belegen, hatte ich erwartet, dass ich Geld bezahle und dafür dann den Kurs erhalte. Ich meine, ging es den Menschen denn nicht immer um Geld? Und während das Rudel noch immer daran arbeitete, sich ein finanzielles Polster anzulegen, schaffte ich es immer, etwas beiseitezulegen, um den einen oder anderen Kurs zu belegen, während ich tagsüber bei einer örtlichen Molkerei arbeitete.

Das war perfekt. Ich half aus, wenn sie mich brauchten, und es brachte dem Rudel Geld ein und eben auch etwas für mich. Und da der Omega des Milchbauern im Frühling Zwillinge bekommen hatte, brauchten sie mich eben häufig.

Aspen versicherte mir, dass es okay war. Unsere eigene Ernte war einträglich, die Bücherei nahm langsam Formen an und es war gut, dass die Rudelmitglieder als Teil der Community betrachtet wurden. Und er hatte recht, vor allem, was Letzteres anging. Viel zu lange hatten die Leute in der Gegend geglaubt, wir wären so ein seltsamer Kult. Die Gerüchte reichten von religiös bis Kannibalismus, aber keines bedeutete etwas Gutes.

Das hatte sich ziemlich geändert, seit Aspens Truck eine Panne hatte und er zufällig unser Alpha wurde. Er hatte so viel für dieses Rudel getan. Aber das Wichtigste, was er getan hatte, war, meinen besten Freund glücklich zu machen, glücklicher, als ich ihn je erlebt hatte.

„Brauchst du noch ein paar Minuten?“ Lucian hielt Oberon, der herumzappelte, weil er abgesetzt werden wollte. Er wollte rennen, rennen, rennen. Das war seine absolute Lieblingsbeschäftigung. „Ich kann Oberon mit nach draußen nehmen und warten.“

„Nein. Ich bin fertig. Ich habe nur meine E-Mails gecheckt.“ Was nicht gelogen war. Ich erwähnte bloß nicht die ganze Geschichte mit der Abschlussprüfung. „Bist du bereit, Kleiner?“

Ich breitete die Arme aus für Oberon, der sich geradezu hineinwarf. „Gran“, sagte er mit einem Lächeln. Er schaffte das T einfach nicht. Es machte mir nichts aus, ich fand es eigentlich sogar niedlich.

Er betrachtete mich als Onkel, der sich jedem seiner Wünsche beugte, was auch stimmte. Er nahm wahrscheinlich an, ich würde ihn in meinem Büro absetzen. Aber das tat ich nicht. Er konnte binnen weniger Sekunden auf alles raufklettern. In anderen Bereichen der Bücherei gern, aber nicht noch einmal in meinem Büro. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, die Karteikarten wieder richtig einzusortieren.

„Willst du spazieren gehen?“ Ich ging Richtung Tür und er grummelte. Hielte ich es nicht für unmöglich, hätte ich geschworen, sein Tier innerlich grummeln gehört zu haben. Er würde ein ebenso harter Alpha werden wie sein Vater. Das war nicht zu leugnen.

„Was führt dich heute zu mir? Ich dachte, du wolltest mit Samuel in die Stadt, um einen Stand für den Handwerksmarkt zu arrangieren.“ Samuel war unser Weber und der Handwerksmarkt war ein wöchentlicher Markt, der von einer kleinen Stadt zu nächsten zog, innerhalb eines ziemlich kleinen Umkreises.

„Wollten wir, aber er hat mich gebeten, es auf morgen zu verschieben, damit wir den Rabatt-Tag im Secondhandladen mitnehmen können.“ Lucian hielt mir die Tür auf und sobald die frische Luft auf unsere Gesichter traf, zappelte Oberon so sehr, dass ich keine andere Wahl hatte, als ihn abzusetzen, selbst wenn das nicht ohnehin meine Absicht war.

„Wir gehen in den Wald“, rief Lucian ihm nach, als das Bärenjunge losrannte.

„Bis wir ihn einholen, ist er längst auf einen Baum geklettert“, sagte ich im Scherz, aber die Einschätzung war nicht verkehrt.

„Stimmt wohl, und ich muss ihm dann wieder nachklettern“, erwiderte Lucian kichernd. „Ich werde langsam ziemlich gut darin.“

Jetzt musste ich lachen.

„Die Jungen sind wirklich gut darin.“ Sie alle liebten Bäume, ebenso wie ich selbst, wenn ich daran zurückdachte. Ich hatte mich aber nicht nur auf Bäume beschränkt, ich war bekannt dafür, auch auf Dächer zu klettern. Das gefiel meinen Eltern damals nicht so sehr.

„Das sind sie.“ Er ging etwas schneller und ich hielt Schritt. Wir mochten Witze darüber machen, wie gut sein Junges klettern konnte, aber letztendlich mussten wir ihn einholen können, daher war es umso besser, wenn er nicht ganz so hoch kam.

„Ich hatte daran gedacht, nachher in die Stadt zu fahren und mich in der örtlichen Bücherei umzusehen. Vielleicht haben sie ein paar Bücher, die wir auch für unsere Bibliothek anschaffen könnten.“ Ich bestellte nicht einfach neue Bücher, ich wollte sie möglichst vorher ansehen. Wir hatten nur ein kleines Budget dafür und ich hatte ein besseres Gefühl dabei, wenn ich sie vorher einmal in der Hand hatte. „Willst du mitkommen?“

„Vielleicht.“ Er fing an zu laufen, Oberon war fast aus unserer Sichtweite verschwunden. Er wurde ziemlich flott. „Das hängt davon ab, was Aspen vorhat. Ich möchte Oberon lieber nicht in eine öffentliche Bibliothek mitnehmen.“

Und das verstand ich hundertprozentig, wobei die öffentliche Bücherei einen extra Raum für Kinder seiner Altersgruppe hatte. Dort gab es Spielzeug und Bilder und Geräte neben den Büchern. Er konnte auch dort Chaos anrichten, aber die waren dort auf so etwas eingestellt.

Wenn wir mehr Platz hätten, wäre das auch etwas für uns hier. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich über so etwas überhaupt nachdenken sollte, als wir damit anfingen. Ein einziger Ausflug in die örtliche Bücherei hatte gereicht, um mich dafür zu begeistern, wie sie einen Bereich nur für die Kleinen eingerichtet hatten.

Aber wir hatten dafür keinen Platz, vor allem, weil mir nicht klar war, dass wir den brauchen würden. So viele Dinge waren gebaut oder geändert worden, seit Aspen hier war, und er hätte mir das nicht abgeschlagen. Es lag eher daran, dass keiner von uns auf den Gedanken gekommen war, dass wir mehr als den großzügig bemessenen Platz brauchen würden.

Das Rudel wuchs und gedieh. Aber es gab noch immer Dinge, die Vorrang hatten, bevor ich mich traute, nach einer Erweiterung zu fragen. Die öffentlichen Bibliotheken für Kinder, die ich gesehen hatte, hatten die Größe unserer gesamten Bücherei, und im besten Fall würde ich sie nach diesem Vorbild einrichten, nur eben auf Bärenjunge ausgerichtet. Ich liebte die Freude auf den Gesichtern der Kinder in der öffentlichen Bibliothek und es war eines meiner Ziele, so einen Platz hier einzurichten.

„Er hat die Baumreihe erreicht“, sagte Lucian.

Wir waren selbst beinahe dort.

„Wollen wir wetten?“, fragte ich.

„Ja. Ich behaupte, das Zweifache meiner Größe.“ Er riet, wie hoch Oberon geklettert sein würde, bevor wir beim Baum ankamen.

„Ich schätze, die doppelte Größe seines Vaters“, gab ich meine Schätzung dazu.

Wir erreichten den Baum und tatsächlich war Oberon hinaufgeklettert. Aber zu unserer beider Erstaunen hockte er auf einem der unteren Äste und hatte es sich dort gemütlich gemacht.

„Daddy.“ Er lächelte strahlend. „Ich sitze. Wie ein guter Bär.“

„Ja, du sitzt wie ein guter Bär“, lobte Lucian. „Und du bist heute sehr schnell gelaufen.“

„So schnell wie Papa.“ Er hatte sich angewöhnt, Aspen Papa zu nennen, nachdem ich ihm die Geschichte von den drei Bären vorgelesen hatte. Wahrscheinlich war das nicht die beste aller Geschichten, da der einzige Mensch darin ziemlich böse war, aber die Bilder waren toll und er hatte es zu einem Spottpreis im Secondhandladen erworben, insofern betrachtete er es als Gewinn.

„Aber kannst du auch so schnell herunterklettern wie Papa?“, fragte Lucian und natürlich rutschte sein Junges sofort herunter.

„Siehst du, Daddy?“ Er richtete sich auf. „Siehst du, Gran?“

„Ich sehe, dass du so schnell heruntergekommen bist wie dein Papa.“

„Willst du wieder hinaufklettern?“, bot Lucian an.

Oberon nickte und kletterte wieder hinauf. Rauf und runter ging es, mindestens ein Dutzend Mal, und jedes Mal fragte er, ob er schneller war als davor und davor. Er hatte seinen Spaß und Lucian ebenfalls, nachdem er nun herausgefunden hatte, wie er ihn vom Baum wieder herunterbekam.

Ich sah ihm gern mit seinem Jungen zu. Er war dafür gemacht, Vater zu sein. Er und auch sein Gefährte. Aspen hielt nicht viel von dem ganzen Alpha-Scheiß, mit dem Lucian und ich aufwachsen mussten. Er war ein sorgender Vater und Spielgefährte – vor allem Spielgefährte. Es war schön zu sehen, dass ein Junges keine Angst vor seinem Alpha-Vater hatte, etwas, das ich in der vergifteten Atmosphäre meiner Jugend nicht erlebt hatte.

Und die anderen Familien fingen an, sich an Aspen ein Beispiel zu nehmen. Die Kinder wurden auf eine Weise geschätzt, wie es sein sollte. Alphas und Omegas wurden behandelt wie Bären und Rudelmitglieder, nicht besser oder schlechter, je nach Rangordnung. Es war großartig, ein Teil davon zu sein.

Und dennoch willst du fortgehen , sagte ich zu mir selbst. Nicht, dass ich das wirklich wollte. Jedenfalls nicht für immer. Ich wollte mehr als nur einen Schulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg – ich wollte einen Studiengrad. Im Grunde war es albern. Was sollte ich hier damit anfangen? Es war ja nicht so, als bräuchte man ein Studium für irgendeinen der Jobs im Rudel. Aber es war mir eben wichtig.

„Ich glaube, uns ist das Unmögliche gelungen.“ Ich stieß Lucian mit der Schulter an. „Ich glaube, wir haben Oberon müde gemacht.“

Er kam langsam zu uns herüber.

„Willst du huckepack nach Hause gehen?“ Ich hockte mich hin, als er sich beeilte. Dieses Angebot ließ er sich nie entgehen.

„Danke, Grant“, sagte Lucian und betonte das T, während er seinen Sohn ermutigte, sich ebenfalls zu bedanken.

„Danke, Gran“, sagte Oberon.

„Jederzeit.“ Wir machten uns auf den Weg zum Alpha-Haus. Es war ein wunderschöner Tag und ich war froh, dass Lucian mich gebeten hatte mitzukommen, aber jetzt, da ich mich der Bücherei näherte, war da wieder der Gedanke an die E-Mail und was sie für meine Zukunft bedeutete.

Wir blieben vor dem Haus des Alphas stehen und Lucian nahm mir den fast schlafenden Oberon ab. „Ich sehe mal nach, was Aspen gerade macht, und komme dann zu dir. Gehst du nach Hause?“

„Vielleicht. Ich muss erst noch etwas aus dem Büro holen. Ich bin in einer Viertelstunde zu Hause, wenn dir das hilft?“

Er war einverstanden und ging hinein, während ich zurück zum Büro eilte und meinen Monitor einschaltete. Die E-Mail starrte mich an, als der Bildschirm hell wurde, noch immer ungelesen, aber nur einen Klick entfernt davon, mir meine Zukunft zu zeigen.

„145. 145. 145“, sprach ich vor mich hin, während der Zeiger der Maus über der E-Mail kreiste. Ich brauchte 145 Punkte, um das Examen zu bestehen. Ein Ergebnis von 165 oder mehr wäre besser, denn dann müsste ich keine Einstufungstests machen, aber mit weniger als 145 wäre ich durchgefallen und müsste von vorn anfangen.

Ich holte tief Luft und klickte auf die E-Mail, dann sah ich zu, wie sie sich auf dem Bildschirm öffnete. Das waren gar nicht meine Testergebnisse. Da stand nur, dass ich mir das Ergebnis abholen könnte.

„Tja.“ Ich klickte auf den Link und ging das übliche Passwort-Gedöns durch, bis meine Ergebnisse endlich vor mir standen. Das Erste, was ich sah, war das Schönste aller Worte: Bestanden.

„Ich habe bestanden!“, quiekte ich. Ich hatte es im ersten Anlauf geschafft. Ich hatte hart dafür gearbeitet und online Praxistests gemacht, wann immer ich Zeit dafür hatte, und alles gelesen, was ich in die Finger kriegen konnte. Ich hatte sogar Apps heruntergeladen, die mir halfen, Mathe zu üben. Ich hatte so hart gearbeitet und es hatte sich ausgezahlt.

Dann sah ich mir die Ergebnisse an und mir klappte die Kinnlade herunter. „Sprachen – 182, Naturwissenschaften – 191, Sozialkunde – 178 und Mathe – 199.“

Ich hatte es geschafft. Ich hatte nicht nur bestanden, ich hatte außerdem auch noch eine so hohe Punktzahl erreicht, dass ich mit ein paar Vornoten ins College starten konnte. Nicht viele. Vielleicht zehn, was ein guter Teil des ersten Semesters sein würde. Das war enorm.

Tränen traten mir in die Augen. Ich hatte gehofft, bestanden zu haben, und ich hatte so viel mehr geschafft als nur das. Jetzt musste ich nur noch Aspen fragen, ob ich ans College gehen durfte. Was konnte er schon Schlimmes sagen? Nein?