DREI

KIT

Der Wagen war beladen und ich sah mich ein letztes Mal in meiner Wohnung um, bevor ich die Tür abschloss. Ich hatte mir zwar erfolgreich eingeredet, ich würde zurückkehren und nichts und niemand könnte mich auf dem Lande des Rudels festhalten, aber dennoch nahm ich alles mit, was von Wert war, sowohl materieller als auch sentimentaler Art. Insgeheim stellte ich mir vor, ich müsste fliehen und ein ähnliches Leben führen wie ein Krimineller, wenn mein Alpha darauf bestand, dass ich dort bleiben sollte, wo ich geboren war.

Mir blieben elf Tage und der Plan sah vor, den Weg zu nehmen, den Aspen gefahren war, als er sich auf den Weg zu seinem neuen Job gemacht hatte. Nicht, dass es Teil seines Plans gewesen wäre, eine Autopanne zu haben und … und … in eine Lage zu geraten, in der es hieß: töten oder getötet werden. Es ging gut aus für meinen Freund, denn er atmete noch im Gegensatz zu dem anderen Typen. Aber der Anführer einer Bärenhöhle zu sein, brachte eben lebenslängliche Verpflichtungen mit sich.

Sobald ich die Stadt hinter mir gelassen hatte, fuhr ich über die Landstraßen, genau wie Aspen es getan hatte, und ich musste zugeben, die rollenden Hügel mit den großen Waldgebieten, dazwischen kultiviertes Farmland, das war beeindruckend. Die frische Luft war auch nicht übel.

Im Gegensatz zu meinem Freund hatte ich ein modernes Auto mit GPS und auch wenn die Angaben über die genaue Lage der Bruin-Ridge-Höhle entlang der schmalen Straße etwas vage waren, fand ich sie doch mühelos, dank eines schön geschnitzten Schildes am Haupttor. Ich hatte keine Ahnung von Holzarbeiten, aber ich wusste gute Handwerkskunst sehr wohl zu schätzen.

Es war unnötig, die Klingel zu betätigen oder meinem Freund per Handy meine Ankunft mitzuteilen, denn er hatte mir den Code genannt, mit dem ich das Tor öffnen konnte. Und während ich darauf wartete, dass es sich hinter mir wieder schloss, kam Aspen schon persönlich die Zufahrt entlanggelaufen, die wahrscheinlich zur Höhle führte. Er umarmte mich wie ein Bär – was immerhin passend für ihn war – noch bevor ich richtig aus dem Wagen ausgestiegen war.

„Freut mich sehr, dich endlich wiederzusehen, Kit.“

„Gleichfalls.“ Ich hatte meinen Freund in der Stadt in Anzügen oder schicker Freizeitkleidung gesehen – auch mal nackt, wenn wir uns verwandelten – aber als ich meinen Blick nun über seine schlanke Gestalt schweifen ließ, in Jeans und kariertem Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, unrasiertes Kinn und mit einer Frisur, die im Büro für skeptische Blicke gesorgt hätte, da fragte ich mich doch, ob Alpha zu sein wirklich so übel war, wie ich es mir vorgestellt hatte.

„Ich habe dich in einer der neuen Hütten untergebracht, die wir für zahlende Gäste gebaut haben.“

„Jetzt bin ich neugierig.“

„Aber stell erst einmal nur deine Taschen ab und wasch dich schnell. Ich will dich meinem Gefährten und unserem Sohn vorstellen.“

In der Höhle ging es geschäftig zu, in der Ferne wurde gehämmert, Kinder sangen in einem der Gebäude und Hühner und Enten liefen herum und pickten auf den Boden. Irgendwo meckerte eine Ziege, da war ich mir sicher. Aber was ich sah und hörte, verblasste, als sich mein Berglöwe regte. Ja, wir waren an einem Ort, wo er sich verwandeln konnte, wann und wo er wollte. Jetzt sofort, wenn er darauf bestand. Aber Verwandeln war gar nicht seine Absicht. Er war aufgewühlt, als wären wir in Gefahr, was nicht der Fall war.

Aspen hatte die faulen Äpfel in der Höhle aussortiert und wenn es jemandem hier nicht gefiel, konnte er jederzeit gehen. Und auch wenn mein Tier gut darin war, Drohungen zu erkennen, wäre er kaum dazu in der Lage gewesen, eine Gefahr für uns direkt nach unserer Ankunft zu erkennen. Nein, es musste etwas anderes sein. Mir fiel nichts Konkretes auf, aber es lag etwas in der Luft, das war spürbar. Vielleicht war es das Aroma von Essen, das irgendwo auf einem Herd köchelte oder in einem Ofen brutzelte, das mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Ich hatte Hunger, daher beruhigte ich mein Tier damit, dass wir später den Wald erkunden würden.

Aspen musste eine lange Liste mit Aufgaben haben, aber er führte mich in seine Hütte und wartete, während ich mir den Staub der Fahrt abwusch. Ich war beeindruckt von meiner Unterkunft. Sie war geräumig, mit zwei Schlafzimmern und einer kleinen Küchenzeile. Die Wände waren weiß gestrichen und dank der Solaranlage auf dem Dach gab es warmes Wasser. Die Höhle hatte auch schon Strom gehabt, bevor Aspen ihr Alpha wurde, aber er erwog, das Wasser zu nutzen, um Strom zu erzeugen. Wie er sagte, hieß die Höhle Bruin Ridge und am äußersten Rand des Höhlenlandes gab es einen Fluss, der über einen Felsgrat in die Tiefe stürzte, was es ideal machte für Stromerzeugung aus Wasser. Damit konnten sie nicht nur Geld sparen, es war auch besser für die Umwelt.

„Jetzt geht es mir schon besser.“ Ich trocknete mir die Haare, während ich in den Wohnbereich hinüberging. Aspen hatte sich nicht wegbewegt oder war in sein zweistöckiges Haus zurückgekehrt, das er mir vorhin gezeigt hatte. Ich ließ mich neben ihn auf die Couch sinken. „Ist alles okay?“

„Sollte ich das nicht dich fragen? Du bist derjenige, der zurück ins Rudel beordert wurde.“

„Danke, dass du mich daran erinnerst.“ Nicht, dass es mir nicht sowieso ständig durch den Kopf ging.

„Sorry.“

„Lass uns erst einmal über dich reden.“ Ich hatte nichts dagegen, mein Problem zu verdrängen. Das Privatleben meines Freundes war offensichtlich glücklich, mit einem liebenden Gefährten und einem kleinen Bärenjungen. Er hatte mir regelmäßig Fotos geschickt und Oberon störte Aspen oft, wenn wir per Video chatteten, weil er mir ein Spielzeug zeigen wollte oder wie schnell er rennen konnte. „Wird dir die Verantwortung zu viel?“ Zusätzlich zu seinem normalen Job übernahm mein Freund immer noch gelegentlich Projekte als Freelancer für den Typen, der sein Boss geworden wäre, wenn sein Tier nicht den vorherigen Alpha getötet hätte.

„Das ist es ja, nein. Ich blühe auf. Mein Kopf ist ständig voller Ideen, wie ich die Höhle und unser aller Leben hier verbessern kann. Ich überlege mir Möglichkeiten, wie wir ein Teil der größeren Gemeinschaft werden können, ich benutze die Talente der Höhlenmitglieder, damit sie Erfüllung finden, und wie wir bei all dem auch noch Geld verdienen können und ich außerdem noch Zeit für meine Familie habe.“

„In deinem Kopf muss ja einiges los sein.“

„Jetzt bist du dran.“

Nein, ich würde meine Ängste über meine Zukunft noch nicht herauslassen, erst recht, wenn das noch Jahre entfernt lag. Es war nächste Woche. Es würde zwei Tage dauern, um das Rudelland zu erreichen, und ich würde erst in allerletzter Minute aufbrechen.

„Ich hätte einen Vorschlag. Wie wäre es, wenn ich erst einmal deine Familie kennenlerne und wir etwas essen? Diese Höhle hat etwas zu essen, oder?“

Aspen schnaubte. „Machst du Witze? Das beste und frischeste Gemüse, Obst, Eier und Fisch im Umkreis von hundert Meilen.“

„Was ist mit einem Pub?“

„So schlimm, was?“ Er erklärte, dazu müssten wir nach Barcombe fahren, der nächsten Ortschaft. Alkohol wurde in der Höhle zwar konsumiert, aber es gab keine Bar an sich. Ich brauchte nicht nur mehr als einen Drink, sondern auch die Atmosphäre eines Pubs, das gedämpfte Licht, die murmelnden Stimmen und das Klirren von Gläsern, dazu noch Musik, bevor ich zugeben würde, wie groß meine Angst war, alles zu verlieren, was ich mir erarbeitet hatte.

Mein Freund meinte, er wollte nachfragen, ob Lucian am Abend etwas vorhatte, und wir spazierten über das Gras zu dem Haus, das von einem weißen Zaun umgeben war. Aber als Aspen das Tor öffnete, kam ein kleiner Junge aus der Tür über die Veranda geschossen und warf sich in die Arme des Alpha.

„Papa.“

Abgesehen von den Videochats war dies die erste Gelegenheit für mich, Aspen in der Vaterrolle zu erleben. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf das Junge gerichtet, er bedeckte ihn mit Küssen, sehr zur Freude des kleinen Jungen in seinen Armen, der begeistert kicherte.

„Oberon, dies ist mein Freund Kit.“

Der kleine Junge musterte mich mit nachdenklichem Blick. „Gran ist mein Freun.“

Aspen nickte. „Wir können mehr als nur einen Freund haben.“

Da mein Tier so aufgebracht war, kostete es mich all meine Energie, es zu zügeln und dem Jungen meine Hand zu reichen. „Hallo, Oberon.“

Aber die Augen des kleinen Jungen waren starr auf die Tasche in meiner Hand gerichtet. „Was das?“

„Das? Das ist ein Geschenk für ein kleines Bärenjunges. Kennst du so jemanden?“

„Mich!“, schrie er und glitt zu Boden.

„Was sagst du dann, Oberon?“, fragte eine unbekannte Stimme. Ich blickte auf und erkannte Lucian, Aspens Gefährten.

„Danke.“ Er holte einen plüschigen Puma heraus, den ich nach langer Suche online gefunden hatte. Menschen machten Spielzeugbären, Löwen und sogar Kängurus, aber leider keine Pumas.

Oberon flitzte ins Haus und ich hielt Lucian meine Hand hin, aber er umarmte mich beinahe so energisch wie sein Gefährte. „Willkommen bei uns zu Hause, Kit.“

Ich atmete seinen Geruch ein, froh, dass etwas anderes mich beschäftigte außer meinem Berglöwen, der noch immer unruhig war.

Ich dachte, du magst die Natur.

Ja. Nein.

Gut, dass wir das geklärt haben.

Lucian führte uns hinein, wo wir von dem Duft eines deftigen Fischeintopfs begrüßt wurden. Mir kamen die Tränen, aber das Aroma weckte meine Geschmacksnerven. „Aspen meinte, du magst Chili“, meinte Lucian, während er mir Nudeln und Eintopf auffüllte.

Oberon hatte bereits gegessen, bevor wir kamen, sodass Aspen ihn nach dem Abendessen badete und etwas vorlas, während Lucian und ich das Geschirr abräumten. „Du musst müde sein, Kit“, sagte der Omega.

„Ein bisschen, aber ich muss über eine Menge nachdenken, während ich hier bin.“ Die Müdigkeit stand mir sicher ins Gesicht geschrieben, aber was Lucian nicht sehen konnte, war, wie angespannt und ruhelos mein Tier war. Ihn vor einem Zusammenbruch zu bewahren, verbrauchte beinahe meine gesamte Energie.

„Wir können nie wissen, was das Universum für uns bereithält.“

Leider brauchte es keinerlei Fantasie, um zu wissen, welche Zukunft mich erwartete.

Aspen küsste seinen Gefährten zum Abschied, dann stiegen wir in den Truck. „Was ist aus Gertie geworden?“

„Sie ist noch in Gebrauch. Wir benutzen sie, um den Höhlenmitgliedern das Autofahren beizubringen.“

Je weiter wir uns von der Höhle entfernten, desto mehr beruhigte sich mein Berglöwe. Er hörte auf, mich innerlich mit den Klauen zu bearbeiten, und schlief sogar ein. Es lag an der Höhle. Das musste der Grund sein. Er wollte zu unserem Rudel zurückkehren und unter unseresgleichen sein. Aber kaum war er zum ersten Mal seit Jahren in einer Gruppe von Gestaltwandlern, da rastete er aus. Das ließ für die Zukunft nichts Gutes erahnen. Nicht, dass es eine Zukunft war, die ich mir wünschte; ich hoffte nach wie vor, mich irgendwie davor drücken zu können.

Die Bar enttäuschte nicht. Klein, gemütlich, mit Sitznischen und ein paar Tischen. Aspen begrüßte ein paar Stammgäste, dann setzten wir uns in den hinteren Bereich. Ich trank eilig mein Bier, während mein Freund sich bei seinem Zeit ließ, da er als Fahrer weniger trinken durfte.

„Jetzt lass uns mal Klartext reden. Was für Notfallpläne hast du, falls du dich nicht aus der Sache herauswurschteln kannst und gezwungen sein solltest, in deinem Rudel zu bleiben?“

„Meine charmante Persönlichkeit?“ Ich lachte gekünstelt, aber Aspen fiel nicht darauf herein. Er legte den Kopf auf die Seite und ich stellte mir vor, er würde das auch machen, wenn er von einem der Höhlenmitglieder enttäuscht war. Er würde nicht toben, außer es ginge um Leben oder Tod, sondern er würde abwarten, bis der andere von selbst darauf gekommen war, wo er Mist gebaut hatte.

Ich seufzte. „Das Problem ist, ich weiß nicht, welcher Grund dahintersteckt, dass ich ausgerechnet jetzt zurückkommen soll, nicht vor fünf Jahren oder erst in zwei Jahren.“

„Oder überhaupt.“

„Aber das ist es nicht, was mich vor allem im Augenblick beschäftigt. Es ist mein Tier, das mir Sorge bereitet.“ Ich beschrieb ihm, wie mein Berglöwe reagiert hatte, als ich in der Höhle war. Er hatte vergessen, wie es war, nach den Regeln zu leben – Wandlerregeln. Sicher, wir mussten uns auch an menschliche Gesetze halten, aber die waren vor allem mein Problem, nicht die meines Berglöwen.

„Ich kann nicht behaupten, diese Art von Energie je erlebt zu haben. Sobald mein Bär mit dem vorherigen Alpha fertig war, lag sein Fokus allein auf Lucian.“ So wie ich, hatte auch Aspen außerdem einer Höhle gelebt, bevor er nach Bruin Ridge kam. Aber anders als ich hatte er keinen Alpha, der seine Rückkehr verlangte. „Wenn dein Tier erst einmal die Harmonie erlebt, die wir hier erreicht haben, dann beruhigt ihn das vielleicht, dass das Leben in einer Gruppe auch Vorteile hat.“ Er zuckte mit den Achseln. „Das ist die beste Erklärung, die mir einfällt.“

Selbst wenn mein Berglöwe überzeugt wäre, dass er ins Rudel gehörte, würde ich es doch niemals so sehen. Alles, was ich mir aufgebaut hatte, wäre zunichtegemacht, und ich wäre den Launen meines Alphas ausgeliefert. Der hatte mich nie gemocht. Er hatte mich immer so behandelt, als wäre ihm seine Zeit für mich zu schade, aber jetzt war ich offenbar wichtig genug, dass das Rudel mich brauchte. Oder er.