ACHT

GRANT

Mein Bär drängelte, drängelte so sehr. Meine gesamte Kraft war notwendig, um ihn im Zaum zu halten. Das Riechzeug funktionierte gerade mal eine halbe Sekunde. Und das Schlimmste daran war, dass es mit der Zeit nicht besser wurde. Es wurde noch schlimmer.

Sollte es nicht helfen, von meinem Gefährten getrennt zu sein? Sein Geruch hing nicht länger in der Luft, um mich anzulocken. Das sollte doch ausreichen, um meinen Bären zu besänftigen, wenigstens vorübergehend.

Aber das war nicht der Fall. Er hasste es, unterdrückt zu werden. Und ich hasste es, ihn zu unterdrücken. Ich konnte mich aber nicht darauf verlassen, dass er Kit nicht in Besitz nehmen würde. Er war zu unnachgiebig.

Heiler versuchte gar nicht erst, mit mir zu reden. Oder falls er es tat, konnte ich ihn nicht hören. Er sorgte dafür, dass die Betas mich dort festhielten, wo er mich haben wollte, dann machte er sich daran – keine Ahnung was zu tun. Mein Bär blockierte mich so sehr, dass ich nur die Hälfte von dem verstand, was um mich herum vorging.

Ich hasste es, dass meine Betas so nahe waren, um Heiler zu beschützen. Oder zumindest nahm ich das an. Ich konnte nicht genug denken, um sicher zu sein.

Ich konnte nichts weiter tun, als mein Tier zurückzuhalten. Das war alles. Sobald ich mehr versuchte, wie dem Heiler zuzuhören, gewann mein Bär etwas Kontrolle.

Ich fing an, im Geiste zu zählen, so wie ich es als Junges getan hatte, um mich verwandeln zu können. Eins. Zwei. Drei. Vier. Und mit jeder Zahl atmete ich tief ein.

Es funktionierte. Mein Bär wollte noch immer heraus und unseren Gefährten finden, aber ich hatte mehr Kontrolle und fühlte mich nicht mehr so, als würde ich sie jeden Moment verlieren.

Meine Haut brannte noch, wie in dem Bruchteil einer Sekunde, wenn ich mich verwandelte. Das war, wenn der Pelz die Haut durchbrach. Heiler meinte, die meisten Leute spürten das gar nicht, aber ich tat es. Schon immer.

Als Junges wurde mir unterstellt, ich würde übertreiben oder wäre ein ‚typischer, weinerlicher Omega‘, das hatte der Beta behauptet, der mich gehört hatte. Heute würde das nicht mehr toleriert. Nicht von Alpha und auch nicht von den anderen Mitgliedern der Höhle, zu der wir uns entwickelten. Damals war das jedoch vollkommen normal.

An dieses Brennen beim Verwandeln hatte ich mich gewöhnt und konnte es meistens fast vollständig ignorieren. Aber in diesem ruhenden Zustand, hier sitzend, tat es weh. Noch schlimmer, es machte mir Angst. Es bedeutete, dass ich nicht ganz menschlich anzuschauen war und dass ich letztendlich den Kampf mit meinem Tier verlieren würde.

Einhundertvierundvierzig. Atmen. Einhundertfünfundvierzig. Atmen. Einhundertsechsund– ich wurde unterbrochen von dem Geruch meines Gefährten. Er war ganz in der Nähe.

Ich rappelte mich hoch und rechnete damit, dass die Betas mich niederdrücken würden. Aber das taten sie nicht. Und da ich nun mehr mitbekam, fiel mir auf, dass sie gar nicht mehr hier waren. Wann war das passiert?

„Heiler.“ Alpha war hier. Das war der Grund, warum ich den Geruch meines Gefährten wahrnahm. Er war bei Alpha, der sich jetzt ein Bild von der Katastrophe machen wollte, die ich darstellte.

Ich ging zu ihm, um ihn zu begrüßen, aber es kamen keine Worte heraus, es klang eher wie ein grollendes Knurren, was mir da über die Lippen kam.

Selbst ohne meine Stimme hatte ich mich nicht besser unter Kontrolle als noch vor fünf Minuten. Und dennoch fühlte sich mein Tier weniger aufgewühlt. Es musste die Anwesenheit des Alphas sein. Es gehörte zu seiner Rolle, uns ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Zumindest war das historisch betrachtet so gedacht. Er hatte alle Regeln über Bord geworfen, daher war es vielleicht reine Projektion meinerseits.

„Heiler?“, fragte Alpha laut und deutlich.

Oder vielleicht war er gar nicht laut. Alles war laut. Das Flackern der Kerze, das Summen der Glühbirne, das Blubbern des kochenden Wassers. Ich konnte alles hören und es wurde mit jeder Sekunde lauter.

„Ich bin gleich fertig, aber er wird es trinken müssen.“

„Ist er dazu in der Lage? Seine Arme bestehen vor allem aus Pelz und seine Worte klingen schlimmer als die der Betrunkenen in der Bar.“ Alpha sprach über mich.

Meine Arme waren vor allem aus Pelz. Meine Worte waren unverständlich. Ich wusste das alles, aber es jemand anderes so beiläufig sagen zu hören, ließ es mir erst richtig bewusst werden.

„Trink.“ Zumindest versuchte ich, das zu sagen. Es klang in meinen Ohren nicht so. „Ich trinke.“

Alles, um die Kontrolle zurückzubekommen. Einfach alles. Sobald ich wieder die Kontrolle hatte, würde ich einen Plan machen, einen Plan, der dieses Elend für uns alle besser machte.

„Er braucht nicht viel“, sagte Heiler und im nächsten Moment füllte eine zähe, heiße Flüssigkeit meinen Mund.

„Trink“, befahl Alpha. „Trink.“

Es kostete mich mehr Energie als angenommen, aber ich schaffte es, einen Mund voll zu trinken, dann noch einen. Beim dritten hatte ich mehr Kontrolle. Mehr Kontrolle und die Fähigkeit, das Zeug zu schmecken.

„Igitt.“ Ich klang wie ich! Das war ein großer Schritt. Ich klang wie ich.

„Versuche, noch etwas mehr zu trinken“, sagte Heiler und ich tat es. Mit jedem Schluck wurde mein Bär weiter und weiter zurückgedrängt. Meine Arme brannten nicht länger, mein Kopf war klarer, als ich mich seit meiner Rückkehr erinnern konnte, und ich konnte denken – wirklich denken.

„Ist mein Bär okay?“ Dass er sich einfach so zurückzog, machte mir etwas Angst. Er war so drängend, so beharrlich, und dann puff – Ich hänge mal hier hinten ab und überlasse alles dir. Es kam mir fast schon zu einfach vor.

„Dein Tier schläft, um es einfach zu formulieren. Das wird für die nächsten Stunden so bleiben“, erklärte Heiler und zum ersten Mal, seit ich hierher gebracht wurde, konnte ich ihn sehen, ihn wirklich erkennen. Die Sorge auf seinem Gesicht irritierte mich. War es denn jetzt nicht besser?

„Was verschweigst du mir?“, fragte ich, ohne den Alpha anzusehen – zum Teil aus Scham und auch aus Angst, dass er mich fortschicken würde, solange sein Freund … bis mein Gefährte zu seinem eigenen Rudel aufbrach.

„Dein Tier – es war im Begriff, dich zu übernehmen. Nicht auf die Weise, wie ich es normalerweise erlebe. Nur einmal in meinem Leben habe ich bisher miterlebt, dass sich jemand auf diese Weise halb verwandelt hat. Nur einmal und das war ein Alpha. Dein Bär sollte nicht so stark sein. Was hat ihn so aufgebracht?“

„Ich habe meinen Gefährten gefunden“, gab ich zu.

„Die Betas hatten recht. Sie glaubten, du hättest Gefährte gesagt, aber ich konnte es nicht verstehen, das Grollen in der Brust war zu laut.“

„Hatten sie.“ Mutig blickte ich Alpha an. „Ich kann gehen, bis sein Besuch vorbei ist. Das ist kein Problem“, log ich. Es würde ein Problem werden, ein verdammt großes Problem, aber nicht so riesig wie das, was passieren würde, wenn mein Bär komplett die Kontrolle übernehmen sollte.

„Du wirst nicht vertrieben“, sagte Alpha. Das war nicht der Auftakt zu einer Diskussion. Er bat mich nicht. Es war eine Feststellung und die Sache war erledigt.

„Es ist Kit gegenüber nicht fair.“

„Nichts daran ist euch beiden gegenüber fair. Jeder, der das mitansieht, konnte es in seinen Knochen spüren.“ Er ging zum Heiler. „Kannst du mehr von dem Zeug machen oder wäre es unklug, das noch einmal zu nehmen?“

„Kann ich, aber es ist nicht ideal. Aber wenn es besser ist als die Alternative, dann mache ich mehr davon.“ Sie sprachen über mich, als wäre ich nicht anwesend und vielleicht war das auch besser so. Ich traute mir im Augenblick selbst nicht zu, Entscheidungen zu treffen, nicht einmal zwischen Toast und Eiern.

„Besser, wir haben es, auch wenn wir es dann nicht brauchen sollten.“ Alpha rieb sich die Augen mit dem Handballen. „Sein Bär kann im Augenblick nicht übernehmen, richtig?“

„Das ist richtig, Alpha.“

„Dann nehme ich ihn jetzt mit und komme später für das Zeug wieder.“ Er klang nicht wütend. Das war immerhin etwas. Jeder andere Alpha meines Lebens hätte mich längst ausbluten lassen.

„Ich kann es dir vorbeibringen lassen.“

„Nein. Ich denke, das ist nichts, was ich anderen überlassen oder sie überhaupt wissen lassen möchte.“ Es war so gefährlich, dass die anderen davor geschützt werden mussten, es überhaupt zu berühren, aber gleichzeitig wurde es für mich gebraucht.

Toll. Ganz toll.

„Verstanden, Alpha.“ Heiler drehte sich um und machte sich wieder daran, was meiner Vermutung nach die Herstellung des Gebräus war, das meinen Bären umgehauen hatte.

„Geht es dir gut?“ Alpha sprach leise, als ob nur ich es hören sollte.

„Ja. Es ist nur, mein Bär wollte etwas Schlimmes tun. Ich habe ihn aufgehalten. Es geht schon.“ Es ging nicht. Eindeutig gar nichts daran ging schon.

„Kit ist draußen. Ich denke, du solltest mit ihm reden, aber wenn du es willst, dann muss er gehen. Die Höhle hat Vorrang. Punkt. Wenn er gehen muss, dann begleite ich ihn persönlich vom Gelände.“

Alpha war bereit, seinen Freund wegzuschicken, wenn ich das wollte. Ich kam damit nicht klar. Ich wollte nicht zu einem Problem zwischen den beiden werden oder der Grund dafür, dass er traurig war, weil er gebeten wurde zu gehen, oder der Grund dafür, dass er auch nur einen Tag länger in seinem Rudel leiden musste.

„Er muss nicht gehen.“ Ich würde ihm das nicht antun – ihnen beiden nicht. „Ich muss nur mit meinem Bären klarkommen.“

„Dein Bär hält sich selbst für einen Alpha.“ Aspen kicherte. Er war nicht der Erste, der mir das sagte, aber das war lange her. Ich war noch ein Junges und damals nahm ich an, es wäre das übliche Was für ein starker Bär du doch bist -Gerede, das man zu neuen Wandlern sagte. Jetzt fing ich an, mich zu fragen, ob sie etwas sahen, was ich damals nicht gesehen hatte. Denn sie lagen sicher nicht falsch damit.

„Er wollte Kit markieren.“

„Nun, darüber solltest du wohl besser mit ihm reden.“ Er deutete Richtung Tür. „Wenn du dich stabil genug dafür fühlst. Ich schätze, was du getan hast, kostet eine Menge Kraft.“

„Tut es. Aber ich habe noch reichlich Adrenalin im Blut, es wird also gehen.“ Ich bedankte mich bei Heiler und ging hinaus, wo Kit stand, die Hände in den Hosentaschen … irgendjemandes Hosentaschen. Die Jeans passte ihm nicht. Müsste ich raten, würde ich sagen, sie gehörte Aspen.

„Sorry. Mein Bär … ist jetzt ruhiger.“ Oder hatte zumindest nicht mehr die Oberhand.

„Ich kann ihn nicht einmal mehr spüren.“ Kit sah mir in die Augen. „Soll ich gehen? Ich tue es. Wirklich. Ich würde lieber – nein, ich möchte, dass du bekommst, was du brauchst, und wenn das bedeutet, dass ich mich nicht auf dem Gelände der Höhle aufhalten kann, dann beende ich meinen Besuch sofort.“

Seine Freundlichkeit weckte den Wunsch in mir, zu ihm zu gehen und ihn zu umarmen. Aber ich hatte Angst – Angst, dass ich mehr wollen würde, wenn ich es tat. Aber mein Bär schlief – es war nicht so, dass ich ihn in Besitz nehmen könnte, selbst wenn ich es wollte, richtig?

„Ich möchte dich in den Arm nehmen. Aber ich will es nicht noch schwerer machen. Ich – mein Leben ist hier und deines nicht. Ich kann daran nichts ändern und du auch nicht. Verdammt. Ich glaube, selbst Aspen könnte es nicht.“ Ich rieb mir den Hinterkopf.

„Ich weiß“, sagte er so leise, als wäre es noch realer, wenn er es lauter ausspräche. „Ich werde dich nie zu mehr drängen, als du geben kannst. Das schwöre ich.“

„Ich glaube dir.“

„Gut.“ Er zog die Hände aus den Taschen. „Vielleicht wäre die Umarmung jetzt okay?“

Ich antwortete ihm nicht, sondern ging zu ihm und schlang meine Arme um ihn und er seine um mich. Wir hielten einander fest, mein Körper schmiegte sich an seinen und akzeptierte seine Kraft, seine Berührung, seine Wärme.

Wir standen so da, keiner von uns drängte nach mehr oder akzeptierte weniger. Ich war zu Hause. Und das erschreckte mich. Denn die Höhle war mein Zuhause. Er konnte nicht auch mein Zuhause sein. So lief das nicht. Überhaupt nicht.

„Ich bin im Alpha-Haus.“ Aspen erschreckte uns beide, aber wir lösten uns nicht voneinander, sondern hielten uns aneinander fest.

„Ja, Alpha“, murmelte ich. Warum ja? Ich hatte keine Ahnung. Jahrelange Automatismen, mit dieser Antwort als der einzig Richtigen, die man einem Alpha gab.

Er achtete nicht darauf, sondern kehrte zurück zu seinem Haus, während ich mein Wunder genoss, auch wenn es mir nur für ein paar Tage gehören würde.