EIN­UND­ZWANZIG

KIT

„Sie werden einen Unfall haben.“ Grant warf einen Blick über seine Schulter auf den Wagen, der uns folgte.

Ein Blick in den Rückspiegel sagte mir, dass Walt, der ausgezeichnete Fahrer, der fast allen Erwachsenen der Höhle das Fahren beigebracht hatte, auf der Straße nach beiden Seiten ausscherte. Zum Glück fuhren wir auf einer Landstraße mit wenig Verkehr, aber auch hier gab es Kurven, auf die man sich beim Fahren konzentrieren musste.

Ich setzte den Blick und fuhr langsamer, während ich gleichzeitig ein Auge auf das Fahrzeug hatte, das Walt fuhr. Es war ein großes, schwerfälliges Biest, eher wie ein Panzer, und schon vierzig Jahre alt. Nur Alpha – mein einstiger Alpha und jetzt Walts Alpha – war berechtigt, es zu fahren, aber da Bronx und Walt jetzt Gefährten waren, hatte er das Privileg erhalten, sich hinter das Steuer setzen zu dürfen.

„Sie halten nicht an. Ich rufe Walt an.“ Grant nahm sein Handy.

„Nein, damit lenkst du ihn noch mehr ab als Bronx mit seinem Blowjob.“

Mein Gefährte verzog das Gesicht. „Du kannst nicht wissen, dass sie das gerade machen.“

„Wirklich? Sie waren voneinander getrennt, haben sich nach ihrer wahren Liebe gesehnt.“ Die beiden hatten das Ritual noch nicht vollzogen, aber die Zukunft des Rudels war gesichert und Bronx würde seinem Vater nachfolgen, wenn die Zeit dafür gekommen war. „Meinst du, sie spielen ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘?“

Grant räusperte sich. „Vielleicht tun sie das – mit ihren Schwänzen. ‚Ich sehe einen wirklich großen Schwanz, den ich lutschen will‘, so in etwa. Die Glücklichen.“ Er verschränkte die Arme und zog eine Grimasse. „Du hast mir gesagt, ich dürfte dir keinen blasen, wenn du fährst. Wieso dürfen die beiden das dann?“

Walt achtete endlich auf das, was vor ihm los war, denn er setzte ebenfalls den Blinker und ich hielt am Straßenrand an. Dann drehte ich mich auf meinem Sitz. „Du, mein Liebster, hast einen Bauch.“ Und auch wenn er noch nicht kugelrund war, konnte ein Blowjob auf dem Vordersitz nur mehr als unbequem für ihn sein.

Ich schickte Walt eine Textnachricht und sagte ihm, er soll Mund und Hände seines Gefährten von sich fernhalten, bis wir die Höhle erreicht hatten. Da seine und Bronxʼ Zukunft im Rudel gesichert war, musste Walter in die Höhle zurückkehren und packen. Er würde das einzige Zuhause, das er je gekannt hatte, verlassen, und nachdem er Aspen angerufen hatte, meinte mein Freund, dass die Höhle ihm eine Abschiedsparty geben wollte. Bronx weigerte sich, Walt aus den Augen zu lassen, daher würden beide ein paar Tage in Bruin Ridge verbringen. Zu Hause. Es war mein Zuhause. Ich hatte endlich meinen Platz in der Welt gefunden.

Als wir weiterfuhren, gab ich Grant ein Versprechen. „Wenn das Baby da ist, fahre ich den Highway auf und ab und du kannst mir einen Blowjob geben. Wie klingt das?“

„Einverstanden“, sagte er und schob die Unterlippe vor. Sein Handy piepte und nachdem er die Nachricht gelesen hatte, änderte sich seine Laune. Er wippte auf dem Sitz auf und ab. „Lucian und ich haben eine Antwort von dem Verlag bekommen, den du empfohlen hast. Sie wollen das erste Kapitel sehen und eine Synopsis vom Rest des Buches. Was, wenn sie es veröffentlichen wollen? Was, wenn daraus ein Film gemacht wird? Was, wenn ich reich und berühmt werde?“

Dies war nicht der richtige Moment, um ihm zu sagen, dass das vielleicht nie eintreffen würde. Es gab so viele Hürden zu überwinden, aber das würde Grant schon von allein merken. Ich wollte seiner Freude keinen Dämpfer verpassen, zumindest jetzt nicht. „Glückwunsch, mein Liebster.“ Ich warf ihm einen Kuss zu.

„Oh, das Baby gratuliert mir auch.“ Ich warf einen Blick in seine Richtung, als er sich eine Hand auf den Bauch legte.

„Unser Kleines ist stolz auf dich.“

Wir fuhren schweigend weiter, ich war in meine eigenen Gedanken versunken. Da ich nun meinen Platz im Rudel aufgegeben hatte, würde ich offiziell ein Mitglied der Höhle werden, und ich fragte mich, was das mit sich brachte. Vielleicht musste ich mir die Haut aufritzen und mein Blut auf das Land der Höhle vergießen. Ich mochte diese Vorstellung irgendwie.

„Wir sind gleich da.“ Grant kurbelte das Fenster herunter und lehnte sich hinaus. „Die Luft riecht hier anders als beim Rudel“, rief er in den Wind und ich hatte Mühe, ihn zu verstehen. Ich kurbelte mein Fenster herunter und sog die Luft ein. Mein Gefährte hatte recht. Die Luft war hier besser. Voller Verheißung.

„Da ist es. Ich sehe das Schild von Bruin Ridge.“

Ich hielt den Wagen an und winkte Walt zu, dass er an uns vorbei in die Zufahrt fahren sollte, denn ich wollte mit Grant einen Spaziergang zum Berggrat machen zur Erinnerung an den Abend, als wir uns kennenlernten. Und außerdem musste Walt Bronx der Höhle vorstellen und ich wollte mit uns und unserer Neuigkeit nicht dazwischenfunken. „Fahrt schon mal weiter, wir kommen nach.“

Bronxʼ blasse Wangen und sein angespannter Gesichtsausdruck signalisierten, dass seine Freude einen Dämpfer erhalten hatte, wahrscheinlich, weil er ein Außenseiter war und bei seinem einzigen Besuch in der Höhle die Abordnung seines Rudels nicht gerade willkommen gewesen und die Atmosphäre angespannt war.

Ich fuhr hinter Walt auf das Höhlenland und das Tor schloss sich hinter uns.

„Wir sind daheim, Kleines.“ Grant umfasste seinen Bauch.

„Gehen wir ein Stück.“ Ich nahm seine Hand und wir folgten dem Pfad, den wir in jener Nacht genommen hatten, als wir unser Fell getragen hatten. Mein Tier war versessen darauf, sich zu verwandeln. Auch wenn wir auf dem Land des Rudels geboren waren, spürte mein Tier doch, dass wir dort nicht hingehörten. Als wir dort waren, gab es kein Verwandeln. Aber jetzt sagte ich ihm, er sollte noch etwas warten, denn ich wollte den Berggrat und das herabstürzende Wasser als Mensch erleben.

Ich erinnerte mich, dass es tief hängende Zweige gab, die ich nun anhob, damit sie Grant nicht im Gesicht trafen. Als wir die Lichtung erreichten, traten wir dicht an den Rand und blickten ins Wasser, das über die Felskante in die Tiefe stürzte.

„Ich möchte, dass unser Baby ganz in der Nähe zur Welt kommt“, teilte Grant mir mit. „Wenn ich gebäre, möchte ich das Dröhnen des Wassers hören.“

Mir fiel wieder ein, dass Lucian Oberon am See zur Welt gebracht hatte, und fragte: „Ist das eine Tradition bei Bären, dass die Babys von Bruin Ridge nahe einem Gewässer zur Welt kommen?“

Er zuckte mit den Achseln. „Nicht, dass ich wüsste. Aber wenn ich unser Baby bekomme, dann ist es beruhigend zu hören, dass das Leben um uns herum weitergeht und dass das Wasser tut, was es schon seit Jahrtausenden macht.“

„Dann werden wir das so machen.“

Mein Tier hätte sich zwar gern verwandelt, aber Grant war nicht in der Stimmung dazu. Obwohl er seit drei Tagen fast nichts getan hatte, außer im Auto zu sitzen, war er müde.

Morgen, bevor mein Gefährte erwacht, gebe ich dir deinen Pelz , versicherte ich meinem Tier.

„Aber ich möchte ein Ritual durchführen, bevor wir nach Hause gehen“, teilte Grant mir mit.

Ritual? Eine Zeremonie zur Aufnahme in die Höhle? Oder eine Tradition, mit der man daheim willkommen geheißen wurde?

Aber mein Gefährte erklärte, dass er etwas Persönliches machen wollte, egal, was Aspen geplant hatte, um sicherzustellen, dass ich ein Mitglied der Höhle war. Er griff in die feuchte Erde nahe der Felskante und hielt mir einen Klumpen Dreck vor die Nase. „Bereit?“

„Ich muss das jetzt aber nicht essen, oder?“

Er kicherte und der wundervolle Klang hallte über die Felskante und fiel zusammen mit dem strömenden Wasser in das Becken dort unten. „Zieh deine Sachen aus.“

Ich zog eine Augenbraue hoch. Er war müde und wollte dennoch …

„Nein. Wir werden nicht ficken. Beeil dich. Runter mit den Sachen.“ Ich zog mich aus, mein nackter Körper glänzte im Licht der Nachmittagssonne. Grant schmierte mir Erde von Bruin Ridge ins Gesicht, auf den Hals, die Arme und dann noch eine Handvoll auf meine Brust.

„Du hast eine Stelle übersehen“, scherzte ich.

Er blickte auf meine Erregung und rollte mit den Augen. „Dreh dich um.“ Seine Hände massierten meinen Rücken und dann meinen Arsch. Ich stöhnte auf, aber er ging auf die Knie und beschmierte meine Beine. Ich gab mir Mühe, seine Hände zu meinem Schwanz zu lenken, aber er ließ es nicht zu. „Sieh mich an, Gefährte.“

Ich tat, was er verlangte und er sagte mir, ich sollte die Augen schließen.

„Ignoriere die Geräusche, atme tief durch und sag mir, was du riechst?“

Das war leicht. „Dich. Dein Geruch überlagert alles andere.“

„Ignoriere auch das. Ignoriere mich. Was sonst? Wenn du Teil dieser Höhle sein willst, musst du die ganzen Aromen unterscheiden können. Versuch es noch einmal.“

Ich holte tief Luft und achtete nicht auf den Geruch meines Gefährten, sondern suchte weiter. Es war, als müsste ich durch dichten Nebel dringen oder einen durchscheinenden Vorhang. Das erste Aroma, das mich traf, war die Erde. Sie roch süßlich, aber ansonsten konnte ich nichts riechen. Aber indem ich langsamer atmete, nahm ich in der Erde Gerüche von anderen Alphas und Omegas auf. Generationen von Bären, die auf diesem Land geboren waren, gelebt und hart gearbeitet hatten und gestorben waren. Über die Jahrhunderte war Blut vergossen und Schlachten geschlagen worden. Mir zu gestatten, das zu riechen, fühlte sich an, als würden die Ahnen mich willkommen heißen.

Ihr Land , teilte mein Berglöwe mir mit. Unser Land.

Ja, wir gehören jetzt hierher.

„Deine Vorfahren, Grant. Ich kann sie riechen und fühlen.“

„Du gehörst wahrlich hierher, mein Liebster.“ Er klatschte mir auf den Arsch, der sich mit dem klebrigen Matsch widerlich anfühlte. „Und jetzt geh und wasch dir das Zeug ab, damit wir nach Hause kommen.“

Ich nahm Grants Hand und wir gingen zu der Stelle, wo wir in jener Nacht gefischt hatten. Dort tauchte ich in das kühle Wasser und rieb mir den Dreck ab, bis meine Haut funkelte. Dann fuhren wir das letzte Stück mit dem Auto. Höhlenmitglieder, die die letzten Sonnenstrahlen genossen, winkten uns zu. Einige standen auf Leitern im Obstgarten und riefen: „Schön, dass ihr wieder da seid.“

Als wir zu der Grünfläche im Zentrum der Höhle gelangten, spielten dort Aspen und Lucian mit Oberon. Der Alpha-Omega umarmte meinen Gefährten und Aspen schüttelte mir die Hand und klopfte mir auf den Rücken.

„Es ist vorbei“, sagte mein Freund.

„Die Vergangenheit, ja. Aber die Zukunft ist vielversprechend.“

„Gran, Kit, schaut mal“, schrie Oberon. Er drehte sich im Kreis, bis ihm schwindelig wurde und er umfiel.

„Sein neuester Trick“, erklärte uns Aspen.

„Geht nach Hause und ruht euch aus“, sagte Lucian. „Morgen müssen wir an dem Buch arbeiten.“

Aspen teilte mir mit, dass ich eine formelle Rolle in der Höhle brauchte, nicht wie jemand, der von einem Ort zum anderen wanderte, der hier etwas reparierte und dort Unkraut zupfte. „Erst einmal kannst du Walts Aufgabe übernehmen und den jungen Bären das Fahren beibringen.“

„Darf ich einen Vorschlag machen?“

Er nickte.

„Mach dir meine Fähigkeiten zunutze.“ Ich deutete mit der Hand auf die Hütten, die sie für zahlende Gäste gebaut hatten. „Ich kann für Publicity sorgen, Artikel für Blogs und Zeitungen schreiben, im Radio und Fernsehen auftreten.“ Sobald wir entschieden hatten, worauf wir uns konzentrieren wollten, konnten wir den Umweltschutz bei unserem Wasser-Projekt vorantreiben. Wenn wir Kontakte zu Colleges und Universitäten knüpften, konnten Studenten einen Teil des Semesters in der Höhle verbringen. Unsere Pläne konnten außerdem von einem Podcast begleitet werden. Die Möglichkeiten waren endlos.

„Und vergiss nicht unser Buch.“ Lucian legte einen Arm um meinen Gefährten. „Du musst eine Lesetour für uns planen – vorausgesetzt, es wird veröffentlicht.“

„Woher weißt du, was eine Lesetour …“ Ich sprach nicht weiter. Natürlich, das Internet. Die Höhle war nicht länger vom Rest der Welt abgeschnitten und die Mitglieder hatten in kürzester Zeit einiges aufzuholen, was der technische Fortschritt mit sich gebracht hatte.

„In dem Fall brauchst du eine ruhige Nacht und erholsamen Schlaf“, sagte Aspen und hob Oberon hoch. „Morgen beginnt der Rest deines Lebens.“

„Gute Nacht, Alpha.“

Dieses Wort von meinen Lippen ließ Aspen innehalten. Ich hatte ihn vorher noch nie so genannt, denn er war bisher nicht mein Alpha.

„Gute Nacht, neuestes Höhlenmitglied.“

Grant und ich gingen Arm in Arm nach Hause. Aber als ich die Tür öffnete, hielt ich ihn auf. „Es ist eine Tradition bei den Menschen, dass ein frisch verheirateter Alpha den Omega über die Schwelle trägt, was etwas drollig ist, aber mir gefällt das.“ Wir waren zwar schon seit einer Weile Gefährten und ein Baby war unterwegs, aber heute war der erste Tag, an dem wir unser Heim betraten, ohne Angst haben zu müssen, dass wir getrennt wurden, oder ob ich unserem Kind ein Vater würde sein können.

„Darf ich?“

„Aber sicher.“

Ich hob meinen Gefährten hoch, ich strich mit dem Mund über seine Kehle und atmete sein Aroma ein, dankbar dafür, dass ich den Rest meiner Tage an seiner Seite verbringen durfte.