5
Bei der Beerdigung hatte ich meine alte Brille auf, das rote Kunststoffgestell. Es war, als würde man einen zu engen Mantel anziehen, einen von früher. Mir wurde direkt schwindlig, aber das war mir egal. Susannah hatte es immer gemocht, wenn ich die Brille aufhatte. Wie das schlaueste Mädchen im Raum sähe ich damit aus, hatte sie immer gesagt, eins von denen, die ein festes Ziel hätten und genau wüssten, wie sie dahinkämen. Ich trug meine Haare am Hinterkopf zusammengesteckt, denn diese Frisur hatte Susannah immer gefallen. Sie betone meine Gesichtszüge, hatte sie gemeint.
Es war mir richtig vorgekommen, mich so zurechtzumachen, wie sie mich am liebsten gesehen hatte. Auch wenn ich wusste, dass sie diese Dinge nur gesagt hatte, um mir eine Freude zu machen, hatte es sich trotzdem richtig angefühlt. Was immer Susannah sagte, ich glaubte ihr. Selbst als sie mir versichert hatte, sie würde nie weggehen, hatte ich ihr geglaubt. Das hatten wir vermutlich alle, sogar meine Mutter. Und dann waren wir alle überrascht gewesen, als es passierte, selbst dann noch, als ihr Tod unausweichlich war, eine Tatsache, selbst dann haben wir es nicht wirklich geglaubt. Es schien unmöglich. Nicht unsere Susannah, nicht Beck. Dauernd hörte man von Leuten, die wieder gesund wurden, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Ich war mir so sicher gewesen, dass Susannah eine von ihnen sein würde. Selbst wenn die Chance bei eins zu einer Million lag. Sie war ein ganz besonderer Mensch, wie es ihn nur einmal unter einer Million gab.
Ihr Zustand verschlechterte sich schnell. So schnell, dass meine Mutter zwischen Susannahs Haus in Boston und unserem pendelte, erst jedes zweite Wochenende, dann öfter. Sie nahm sich Urlaub. Sie bezog ein Zimmer in Susannahs Haus.
Der Anruf kam früh am Morgen. Es war noch dunkel draußen. Es waren schlechte Nachrichten, natürlich. Schlechte Nachrichten sind die einzigen, die nicht warten können. Sobald ich das Telefon läuten hörte, noch bevor ich richtig wach war, wusste ich Bescheid. Susannah war von uns gegangen. Ich lag in meinem Bett und wartete, dass meine Mutter hereinkam und es mir sagte. Ich hörte, wie sie in ihrem Zimmer herumlief, kurz darauf hörte ich Wasser in der Dusche laufen.
Als sie auch danach nicht kam, ging ich in ihr Zimmer. Sie war am Packen, ihre Haare waren noch nass. Mit müden, leeren Augen sah sie mich an. »Beck ist tot«, sagte sie. Mehr nicht.
Ich fühlte, wie mir ganz flau wurde, wie meine Knie zitterten, und ich setzte mich und lehnte mich gegen die Wand, um Halt zu finden. Ich hatte gedacht, ich wüsste, was das wäre, so ein ganz großer Kummer. Hatte geglaubt, beim Abschlussball plötzlich allein dazustehen, das würde mir das Herz brechen. Aber in Wirklichkeit war das gar nichts gewesen. Das jetzt, das war wirkliches Leid. Der Schmerz in der Brust, das Brennen hinter den Augen. Das Wissen darum, dass nichts mehr so sein würde wie vorher. Alles ist relativ, nehme ich an. Du glaubst, du weißt, was Liebe ist, du glaubst, du weißt, was wirklicher Schmerz ist, aber in Wirklichkeit weißt du es nicht. Gar nichts weißt du.
Ich weiß nicht genau, wann ich angefangen habe zu weinen. Aber als ich erst einmal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich bekam keine Luft mehr.
Meine Mutter kam quer durchs Zimmer und kniete sich neben mich auf den Boden, umarmte mich, wiegte mich in ihren Armen. Sie selbst weinte nicht. Sie war wie abwesend.
Am selben Tag noch ist meine Mutter nach Boston zurückgefahren. Dass sie überhaupt an jenem Tag zu Hause gewesen war, lag einzig und allein daran, dass sie nach mir schauen und frische Wäsche für sich holen wollte. Sie hatte geglaubt, es wäre noch mehr Zeit. Sie hätte dort sein sollen, als Susannah starb. Wenigstens wegen der Jungen. Ich war mir sicher, sie dachte dasselbe.
Mit ihrer besten Professorinnenstimme erklärte sie Steven und mir, wir sollten zwei Tage später allein nachkommen, am Tag der Beisetzung. Die musste vorbereitet werden, so viel war noch zu tun, so viel zu erledigen, dabei konnte sie uns nicht brauchen.
Susannah hatte natürlich genau gewusst, was sie tat, als sie meine Mutter zur Testamentsvollstreckerin erklärte. Zum einen gab es einfach keine Bessere für die Aufgabe, die beiden hatten vor Susannahs Tod vieles durchgesprochen. Zum anderen aber, und das war noch wichtiger, war meine Mutter immer dann in Hochform, wenn sie etwas zu tun hatte, wenn es darum ging, Dinge zu organisieren. Sie brach nicht zusammen, nicht, wenn sie gebraucht wurde. Nein, meine Mutter war jeder Herausforderung gewachsen. Ich wünschte, ich hätte dieses Gen von ihr geerbt. Denn ich fühlte mich völlig hilflos. Ich wusste nichts mit mir anzufangen.
Ich überlegte, ob ich Conrad anrufen sollte. Ein paarmal hab ich sogar seine Nummer gewählt, aber dann hab ich’s doch nicht geschafft. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich fürchtete, das Falsche zu sagen, alles nur noch schlimmer zu machen. Dann überlegte ich, Jeremiah anzurufen. Aber ich konnte es nicht, ich hatte Angst. In dem Moment, in dem ich anrief, in dem ich es laut aussprach, in dem Moment würde es wahr sein. Dann wäre Susannah tatsächlich tot.
Auf der Fahrt nach Norden redeten wir kaum. Stevens einziger Anzug, den er bisher nur zu Schulbällen getragen hatte, hing hinten im Wagen in einer Plastikhülle. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, mein Kleid auch aufzuhängen. »Was sagen wir denn zu ihnen?«, fragte ich Steven schließlich.
»Keine Ahnung«, sagte er. »Die einzige Beerdigung, auf der ich je gewesen bin, war die von Tante Shirle, und die war schon ganz alt.« Ich erinnerte mich nicht daran, damals war ich noch zu klein.
»Und wo schlafen wir heute Nacht? In Susannahs Haus?«
»Weiß nicht.«
»Was glaubst du, wie Mr. Fisher damit umgeht?« Mir Conrad oder Jeremiah vorzustellen, das brachte ich nicht fertig, noch nicht.
»Whiskey«, war Stevens Antwort.
Danach stellte ich keine Fragen mehr.
An einer Tankstelle dreißig Meilen vor dem Ziel zogen wir uns um. Als ich sah, wie ordentlich und faltenlos Stevens Anzug aussah, bedauerte ich es, dass ich mein Kleid nicht ebenfalls aufgehängt hatte. Im Auto habe ich dann versucht, es mit den Händen glatt zu streichen, aber es nützte nichts. Meine Mutter hatte mich vor dem Material gewarnt, ich hätte auf sie hören sollen. Außerdem hätte ich es vor dem Packen mal anprobieren sollen. Ich hatte es zuletzt bei einem Empfang an der Universität meiner Mutter getragen, vor drei Jahren, inzwischen war es mir zu klein.
Wir kamen früh an, so früh, dass meine Mutter noch immer vielbeschäftigt war. Sie arrangierte Blumen, redete mit dem Inhaber des Beerdigungsinstituts. Sobald sie mich sah, runzelte sie die Stirn. »Du hättest das Kleid wenigstens bügeln können, Belly«, sagte sie.
Ich biss mir auf die Unterlippe, um nichts zu sagen, was ich später mit Sicherheit bereuen würde. »Ich hatte keine Zeit mehr«, sagte ich, aber das stimmte nicht. Ich hätte reichlich Zeit gehabt. Ich zog an meinem Rock, damit das Kleid nicht ganz so kurz aussah.
Sie nickte knapp. »Schaut mal, wo die Jungs sind, ja? Und Belly – sprich mit Conrad.«
Steven und ich tauschten einen Blick. Was sollte ich sagen? Seit dem Abschlussball war ein Monat vergangen, seitdem hatten wir kein Wort miteinander gewechselt.
Wir fanden die beiden in einem Nebenraum, der mit einigen Bänken wie eine Kapelle hergerichtet war. Kleenex-Schachteln waren dezent in lackierten Dosen verborgen. Jeremiah hielt den Kopf gesenkt, so als betete er, etwas, was ich von ihm nicht kannte. Conrad saß kerzengerade, mit zurückgenommenen Schultern, und starrte ins Leere. »Hey«, sagte Steven und räusperte sich. Er ging zu den beiden und umarmte sie nach Jungenart.
Mir ging durch den Kopf, dass ich Jeremiah noch nie in einem Anzug gesehen hatte. Er schien ihm etwas eng und unbequem zu sein, jedenfalls zupfte er ständig im Nacken an seinem Kragen. Aber seine Schuhe sahen neu aus. Ich fragte mich, ob meine Mutter sie mit ihm zusammen ausgesucht hatte.
Nach Steven ging ich schnell zu Jeremiah hinüber und umarmte ihn, so fest ich konnte. Er machte sich steif in meinen Armen, und als er sagte: »Danke, dass ihr gekommen seid«, klang seine Stimme ungewohnt förmlich.
Einen flüchtigen Moment lang dachte ich, er sei vielleicht sauer auf mich, doch ich schob den Gedanken so schnell weg, wie er aufgetaucht war. Ich schämte mich, dass ich so etwas auch nur denken konnte. Dies war Susannahs Beisetzung, wie konnte ich da an mich denken?
Ich strich Jeremiah unbeholfen über den Rücken, meine Hand bewegte sich in kleinen Kreisen. Seine Augen waren auffällig blau, wie immer, wenn er geweint hatte.
»Es tut mir so leid«, sagte ich, bereute es aber sofort wieder, weil es so nichtssagend klang, so sinnlos. Es drückte nicht aus, was ich wirklich fühlte.
Dann sah ich zu Conrad hinüber. Er hatte sich schon wieder gesetzt, mit steifem Rücken, sein weißes Hemd war völlig zerknittert. »Hey«, sagte ich und setzte mich neben ihn.
»Hey«, antwortete er. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn umarmen oder lieber in Ruhe lassen sollte, also drückte ich ihm nur kurz die Schulter. Er sagte nichts. Er schien wie versteinert. Ich nahm mir fest vor, ihm den ganzen Tag über nicht von der Seite zu weichen. Ich würde da sein, ein ruhender Pol, so wie meine Mutter.
Meine Mutter, Steven und ich saßen in der vierten Reihe, hinter Conrads und Jeremiahs Cousins und Mr. Fishers Bruder und Schwägerin, die sich zu stark parfümiert hatte. Ich fand, meine Mutter hätte in die erste Reihe gehört, und das habe ich ihr auch zugeflüstert. Sie schnaubte nur leicht und meinte, darauf käme es wirklich nicht an. Vermutlich hatte sie recht. Dann zog sie ihre Kostümjacke aus und legte sie über meine nackten Oberschenkel.
Als ich mich einmal nach hinten umsah, entdeckte ich meinen Vater. Aus irgendeinem Grund hatte ich nicht mit ihm gerechnet, dabei hatte er Susannah ja auch gekannt, sodass es eigentlich selbstverständlich war, dass er zu ihrer Beisetzung kam. Ich winkte ihm kurz zu, und er winkte zurück.
»Dad ist hier«, flüsterte ich meiner Mutter zu.
»Natürlich ist er hier«, gab sie zurück. Aber sie sah sich nicht um.
Jeremiahs und Conrads Schulfreunde saßen alle zusammen weiter hinten. Sie schienen sich irgendwie fehl am Platz zu fühlen, unbehaglich. Die Jungen hielten die Köpfe gesenkt, die Mädchen flüsterten nervös miteinander.
Die Trauerfeier zog sich lang hin. Ein Priester, den ich noch nie gesehen hatte, hielt die Ansprache. Er sagte viel Nettes über Susannah, nannte sie freundlich, mitfühlend, anmutig, was sie auch wirklich alles gewesen war, trotzdem klang es so, als hätte er sie nie kennengelernt. Ich lehnte mich zu meiner Mutter hinüber, um ihr das zu sagen, aber sie schien ganz einverstanden mit der Rede des Priesters und nickte zu allem.
Ich hatte eigentlich gedacht, ich würde nicht wieder weinen, aber dann überkam es mich doch mit aller Macht. Mr. Fisher stand auf und dankte allen Anwesenden für ihr Kommen und lud zu einem Empfang im Anschluss an die Trauerfeier zu sich nach Hause ein. Seine Stimme drohte ein paarmal zu kippen, doch schließlich brachte er seine Rede doch zu Ende. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er braun gebrannt und selbstsicher gewesen. An diesem Tag jedoch kam er mir vor wie ein Mann, der durch einen Schneesturm irrt, bleich, mit gekrümmten Schultern. Wie schwer musste es für ihn sein, da vorn zu stehen, vor so vielen Menschen, die Susannah geliebt hatten. Er hatte sie betrogen, hatte sie verlassen, als sie ihn mehr denn je brauchte. Am Schluss war er dann doch noch zurückgekommen, während der wenigen letzten Wochen hatte er ihre Hand gehalten. Vielleicht hatte auch er geglaubt, sie hätten mehr Zeit.
Der Sarg war geschlossen. Susanah hatte meiner Mutter gesagt, sie wolle sich nicht von allen Leuten anstarren lassen, wenn sie nicht wirklich top aussah. Tote sähen irgendwie unecht aus, wie Wachsfiguren. Ich sagte mir selbst immer wieder, dass die Person im Sarg nicht Susannah war, dass es also völlig egal war, wie sie aussah, denn Susannah war schon von uns gegangen.
Als die Trauerfeier mit einem gemeinsamen Vaterunser zu Ende gegangen war, stellten wir uns alle in einer langen Reihe auf, um der Familie unser Beileid zu bekunden. Ich kam mir seltsam erwachsen vor, wie ich so zwischen meiner Mutter und meinem Bruder dastand. Mr. Fisher beugte sich mit Tränen in den Augen zu mir herunter und umarmte mich steif. Dann schüttelte er Steven die Hand und umarmte meine Mutter. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, und er nickte.
Als ich Jeremiah umarmte, weinten wir beide so sehr, dass wir uns gegenseitig stützen mussten. Seine Schultern bebten. Anschließend ging ich zu Conrad und umarmte ihn ebenfalls. Ich hätte gern etwas zu ihm gesagt, etwas Besseres als »Es tut mir leid«, aber es ging alles so schnell, für mehr als das war gar keine Zeit. Hinter mir standen in einer langen Schlange Leute, die alle kondolieren wollten.
Der Weg zum Friedhof war nicht weit. Es musste am Tag zuvor geregnet haben, denn ich blieb immer wieder mit den Absätzen stecken. Bevor sie Susannah in die feuchte Erde hinabließen, legten Conrad und Jeremiah jeder eine weiße Rose auf den Sarg, und auch alle anderen legten Blumen darauf. Ich wählte eine rosa Pfingstrose. Irgendwer sang ein Lied aus dem Gesangbuch. Als alles vorüber war, rührte Jeremiah sich nicht von der Stelle. Er blieb einfach dort stehen, wo ihr Grab sein würde, und weinte. Meine Mutter ging schließlich zu ihm hin. Sie nahm seine Hand und redete leise auf ihn ein.
Zurück in Susannahs Haus verdrückten Jeremiah, Steven und ich uns in Jeremiahs Zimmer. Mit unseren feinen Sachen saßen wir auf seinem Bett. »Wo ist Conrad?«, fragte ich. Ich hatte nicht vergessen, was ich mir fest vorgenommen hatte: dass ich an seiner Seite bleiben wollte. Aber er machte es mir nicht leicht, so wie er dauernd verschwand.
»Ich denke, wir sollten ihn erst mal in Ruhe lassen«, sagte Jeremiah. »Habt ihr Hunger?«
Den hatte ich allerdings, aber ich mochte es nicht sagen. »Was ist mit dir?«
»Ja, irgendwie schon. Es gibt was zu essen, unten.« So wie er das Wort »unten« aussprach, wusste ich, dass er keine Lust hatte, zu all diesen Leuten hinunterzugehen und ihre mitleidigen Blicke zu spüren. Ist es nicht traurig, würden sie sagen, zwei so junge Söhne hinterlässt sie. Jeremiahs Freunde waren nicht mitgekommen zum Empfang, sie waren gleich nach der Beisetzung gegangen. Jetzt waren nur noch Erwachsene da.
»Ich kann gehen«, bot ich an.
»Danke«, sagte er erleichtert.
Ich stand auf und zog die Tür hinter mir zu. Im Flur blieb ich stehen und betrachtete die Familienfotos, die in einheitlichen schwarzen Rahmen auf Passepartouts an der Wand hingen. Auf einem der Bilder trug Conrad eine Krawatte, und ihm fehlte ein Schneidezahn. Auf einem anderen musste Jeremiah acht oder neun gewesen sein, und er trug seine Baseballkappe von den Red Sox, die er einen ganzen Sommer lang nicht abgesetzt hat. Das sei sein Glückshut, hatte er behauptet, und so trug er ihn drei Monate lang tagein, tagaus. Von Zeit zu Zeit wusch Susannah die Mütze und legte sie wieder zurück in sein Zimmer, während er noch schlief.
Unten drängten sich die Leute, man trank Kaffee und redete mit gedämpfter Stimme. Meine Mutter stand am Buffet und schnitt für wildfremde Menschen Kuchen auf. Jedenfalls für mich waren es wildfremde Menschen. Ich fragte mich, ob meine Mutter sie kannte oder ob diese Leute wussten, wer sie für Susannah gewesen war, dass sie ihre beste Freundin war, dass sie fast ihr ganzes Leben lang jeden Sommer miteinander verbracht hatten.
Ich schnappte mir zwei Teller, und meine Mutter half mir, sie vollzuladen. »Geht’s euch so weit gut da oben?«, fragte sie, während sie ein Stück Blauschimmelkäse auf einen der Teller legte.
Ich nickte und schob den Käse wieder zurück. »Jeremiah mag keinen Schimmelkäse«, erklärte ich ihr. Dann nahm ich eine Handvoll Salzcracker und ein paar grüne Trauben. »Hast du Conrad gesehen?«
»Ich glaube, er ist unten, im Souterrain«, sagte sie, und während sie die Käseplatte frisch anrichtete, fügte sie noch hinzu: »Wieso schaust du nicht mal nach ihm und bringst ihm einen Teller? Ich bringe diesen hier hoch zu den Jungs.«
»Okay«, sagte ich. Gerade als ich mit dem Teller durchs Esszimmer ging, kamen Jeremiah und Steven doch noch herunter. Ich blieb stehen und beobachtete, wie Jeremiah mit Leuten sprach, wie er es geschehen ließ, dass sie seine Hand nahmen oder ihn umarmten. Unsere Blicke trafen sich, ich winkte ihm unauffällig zu, und er winkte ebenso zurück. Dabei verdrehte er ein bisschen die Augen – das galt der Frau, die seinen Arm gar nicht mehr loszulassen schien. Susannah wäre stolz gewesen auf ihren Sohn.
Dann ging ich hinunter ins Souterrain. Es war mit Teppichboden ausgelegt und schallgedämpft. Susannah hatte das machen lassen, als Conrad mit der E-Gitarre anfing.
Unten war es dämmrig, Conrad hatte kein Licht gemacht. Ich wartete, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann tastete ich mich Schritt für Schritt die Treppe hinunter.
Ich hatte ihn schnell gefunden. Er lag auf der Couch, den Kopf auf den Schoß eines Mädchens gebettet. Sie strich ihm mit den Händen übers Haar, so selbstverständlich, als gehörten sie dorthin. Obwohl der Sommer kaum begonnen hatte, war ihre Haut schon gebräunt. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und die nackten Beine auf den Couchtisch gelegt. Conrad streichelte sie.
Alles in mir zog sich zusammen, ich erstarrte.
Ich hatte sie auf der Beerdigung gesehen und mich gefragt, wer sie wohl war. Ich fand sie ausgesprochen hübsch. Sie mochte aus Ostasien stammen, eine Inderin vielleicht. Sie hatte dunkles Haar und dunkle Augen und trug eine schwarz-weiß getupfte Bluse zu einem kurzen schwarzen Rock. Außerdem trug sie ein Stirnband, ein schwarzes, im Ernst.
Sie sah mich zuerst. »Hey«, sagte sie.
Conrad blickte auf und sah mich in der Tür stehen, mit einem Teller voll Käse und Cracker. Er setzte sich auf. »Soll das für uns sein?«, fragte er, ohne mich wirklich anzuschauen.
»Meine Mutter schickt das.« Meine Stimme war nur ein heiseres Murmeln. Ich ging zum Tisch und stellte den Teller ab. Anschließend stand ich da, unsicher, was ich tun sollte.
»Danke«, sagte das Mädchen, doch so, wie sie es sagte, klang es mehr nach Du kannst jetzt gehen. Nicht irgendwie gemein, aber es war unüberhörbar, dass ich störte.
Ich ging langsam aus dem Zimmer, aber sobald ich die Treppe erreicht hatte, fing ich an zu rennen. Als ich im Wohnzimmer an all den Leuten vorbeirannte, hörte ich, dass Conrad hinter mir herkam.
»Warte doch mal«, rief er.
Fast hatte ich es durch die Eingangshalle geschafft, als er mich einholte und am Arm packte.
Ich schüttelte ihn ab.»Was willst du? Lass mich!«
»Das war Aubrey«, sagte er, während er meinen Arm losließ.
Aubrey – das Mädchen, das ihm das Herz gebrochen hatte. Ich hatte sie mir ganz anders vorgestellt. Blond. Und nicht so hübsch. Dieses Mädchen war so schön, niemals konnte ich es mit so einer aufnehmen.
»Tut mir leid, wenn ich bei eurem Schäferstündchen gestört habe«, sagte ich.
»Werd doch endlich mal erwachsen!«, fuhr er mich an.
Es gibt Momente im Leben, in denen man sich von ganzem Herzen wünscht, man könnte seine Worte zurücknehmen. Einfach ausradieren. Wenn man könnte, würde man sogar sich selbst ausradieren, die eigene Existenz einfach auslöschen, bloß damit es diesen Moment nie gegeben hätte.
Was dann geschah, gehörte zu diesen Momenten:
Am Tag, an dem seine Mutter beerdigt worden war, sagte ich zu dem Jungen, den ich mehr liebte als alles und alle auf der Welt: »Geh doch zum Teufel.«
Das war das Schlimmste, was ich je zu einem Menschen gesagt hatte, selbst wenn ich diese Worte vielleicht auch zuvor schon ausgesprochen hatte. Nie werde ich den Ausdruck in Conrads Gesicht vergessen. Am liebsten wäre ich gestorben, als ich ihn ansah. Sein Blick bestätigte alles Schlechte, was ich je über mich selbst gedacht hatte, all die Eigenschaften, von denen man inständig hofft, dass bitte, bitte nie jemand sie entdeckt. Denn wenn andere davon wüssten, dann würden sie auch wissen, wie du wirklich bist, und dich verachten.
»Ich hätte mir denken können, dass du so bist«, sagte Conrad.
Jämmerlich fragte ich: »Wie meinst du das?«
Er zuckte nur mit den Schultern. Sein Gesicht war angespannt. »Vergiss es.«
»Nein, sag’s.«
Er wandte sich ab, um zu gehen, doch ich stellte mich ihm in den Weg. »Sag schon.« Meine Stimme war jetzt deutlich lauter.
Er sah mich an. »Ich wusste, dass es keine gute Idee war, mit dir etwas anzufangen. Du bist noch ein Kind. Es war ein gewaltiger Fehler.«
»Das glaub ich dir nicht«, sagte ich.
Inzwischen starrten die Ersten zu uns herüber. Meine Mutter hatte im Wohnzimmer mit Leuten geredet, die ich nicht kannte. Als sie mich hörte, blickte sie auf. Mein Gesicht brannte, ich wagte es nicht, sie anzusehen.
Das einzig Richtige wäre es gewesen, einfach wegzugehen, das wusste ich. Das war es, was ich in diesem Moment hätte tun sollen. Mir war, als schwebte ich über mir selbst, als könnte ich mich und all diese Leute von oben sehen. Aber als Conrad sich nur wieder achselzuckend abwandte und gehen wollte, wurde ich so wütend. Ich fühlte mich so – klein. Ich wollte mich selbst bremsen, aber ich schaffte es einfach nicht.
»Ich hasse dich«, sagte ich.
Conrad drehte sich um und nickte, so als hätte er genau das von mir erwartet. »Gut«, sagte er. Er sah mich mit einem mitleidigen Blick an, der zu sagen schien, dass er genug hatte, dass die Sache für ihn ein für alle Mal erledigt war. Ich fühlte mich so elend.
»Ich will dich nie wieder sehen«, sagte ich. Dann drängte ich mich an ihm vorbei und rannte die Treppe so schnell hoch, dass ich auf der letzten Stufe stolperte und mit aller Wucht mit einem Knie aufprallte. Mir kam es vor, als hätte ich jemanden erschrocken nach Luft schnappen hören. Ich war wie blind vor Tränen, aber ich rappelte mich hoch und stolperte ins Gästezimmer.
Ich nahm die Brille ab, warf mich aufs Bett und weinte.
Nicht Conrad hasste ich, sondern mich selbst.
Nach einer Weile kam mein Vater hoch. Er klopfte mehrmals, aber als ich nicht antwortete, kam er einfach herein und setzte sich zu mir ans Bett.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er so sanft, dass mir gleich wieder die Tränen übers Gesicht liefen. Niemand sollte nett zu mir sein. Ich hatte es nicht verdient.
Ich drehte mich auf die andere Seite, sodass ich ihm den Rücken zuwandte. »Ist Mom böse auf mich?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte er. »Komm wieder runter und verabschiede dich.«
»Ich kann nicht.« Nach so einer Szene sollte ich nach unten gehen und allen Leuten ins Gesicht sehen? Unmöglich. Ich fühlte mich gedemütigt, und zu verdanken hatte ich das ganz allein mir.
»Was war zwischen Conrad und dir, Belly? Hattet ihr Streit? Habt ihr Schluss gemacht?«
Merkwürdig, so einen Ausdruck wie Schluss machen aus Dads Mund zu hören. Ich konnte unmöglich mit ihm über das sprechen, was passiert war, dafür war alles einfach zu grotesk.
»Dad, ich kann mit dir nicht über solche Sachen reden. Würdest du bitte rausgehen? Ich will allein sein.«
»Ist gut«, sagte er, und ich hörte ihm an, wie verletzt er war. »Soll ich deine Mutter holen?«
Mom war nun wirklich der letzte Mensch, den ich jetzt brauchen konnte, deshalb sagte ich sofort: »Nein, bitte nicht.«
Das Bett knarrte, als mein Vater aufstand. Er schloss die Tür hinter sich.
Der einzige Mensch, den ich bei mir haben wollte, war Susannah. Nur sie. Und auf einmal sah ich es vor mir, glasklar: Nie wieder würde ich irgendjemandes Liebling sein. Nie wieder würde ich Kind sein, jedenfalls nicht auf dieselbe Weise. All das war vorbei. Susannah war wirklich tot.
Ich hoffte nur, dass Conrad gut zugehört hatte. Ich hoffte, ich würde ihn nie wieder sehen. Wenn ich ihn je wieder ansehen müsste, wenn er mich noch einmal so ansehen würde wie an diesem Tag – ich würde daran zerbrechen.