8
Jeremiah
Ich weiß noch ganz genau, in welchem Moment sich alles änderte. Es war letzten Sommer. Con und ich saßen auf der Veranda, und ich versuchte, ihm klarzumachen, was für ein Idiot der neue Assistent unseres Footballtrainers war.
»Da musst du eben durch«, meinte er.
Er hatte gut reden, er hatte aufgehört mit Football. »Du kapierst das nicht, der Typ ist doch nicht ganz dicht«, fing ich gerade wieder an, doch er hörte schon gar nicht mehr hin. Im selben Moment bog nämlich das Auto in unsere Einfahrt ein. Erst stieg Steven aus, dann Laurel. Sie erkundigte sich nach meiner Mom und umarmte uns fest, erst mich, dann Conrad. Gerade wollte ich fragen: »Wo ist denn Belly Button?«, da war sie auch schon da.
Conrad sah sie zuerst. Er blickte über Laurels Schulter. Sah sie an. Sie kam auf uns zu, ihre Haare schwangen im Takt, ihre Beine kamen mir endlos lang vor. Sie trug abgeschnittene Jeans und schmutzige Turnschuhe. Ein BH-Träger schaute unter ihrem Tank Top hervor. Nie zuvor war mir an ihr ein BH-Träger aufgefallen, ich schwöre. Sie guckte irgendwie merkwürdig, so einen Ausdruck kannte ich gar nicht an ihr. Schüchtern und nervös, aber gleichzeitig auch stolz.
Ich sah zu, wie Conrad sie umarmte, und wartete, bis ich an der Reihe war. Ich wollte sie fragen, wieso sie so komisch geguckt hatte, woran sie gedacht hatte. Aber ich hab nicht gefragt. Stattdessen bin ich um Conrad herumgegangen, hab sie hochgehoben und irgendwas Blödes gesagt. Sie hat gelacht, und auf einmal war sie einfach wieder Belly. Ich war erleichtert, denn etwas anderes sollte sie auch nicht sein, einfach nur Belly.
Ich kannte sie schon fast mein ganzes Leben lang. Nie habe ich sie als Mädchen angesehen. Sie war eine von uns. Wir waren Freunde. Sie plötzlich mit anderen Augen zu sehen, wenn auch nur einen Moment lang, wühlte mich total auf.
Mein Dad sagte immer, bei allem im Leben gebe es einen präzisen Punkt, der das Spiel verändert. Den entscheidenden Punkt, mit dem alles steht und fällt, nur weiß man das in dem Moment normalerweise nicht. Der Dreier gleich zu Anfang des zweiten Viertels, der das Spieltempo deutlich verändert. Der die Leute wachrüttelt, die Lebensgeister wieder weckt. Auf diesen einen Moment lässt sich später alles zurückführen.
Vielleicht hätte ich ihn vergessen, diesen Moment, in dem das Auto vorfuhr und dieses Mädchen ausstieg, ein Mädchen, das ich kaum erkannte. Es hätte irgendein völlig belangloser Vorfall sein können. Wie wenn dein Blick sich im Vorübergehen ganz kurz mit dem eines anderen Menschen kreuzt oder der Duft eines Parfüms dich anweht. Du gehst weiter und vergisst es gleich wieder. So hätte ich es auch vergessen können, und alles wäre vielleicht weitergegangen wie zuvor.
Doch dann kam der spielverändernde Moment.
Es war gegen Abend, vielleicht in der ersten Sommerwoche. Belly und ich hingen am Pool rum, und sie lachte sich schief über irgendetwas, das ich gerade gesagt hatte. Keine Ahnung, was das war. Ich fand es immer toll, dass ich sie zum Lachen bringen konnte. Sie lachte auch sonst viel, es war also nicht gerade eine Meisterleistung von mir, trotzdem fühlte es sich gut an. »Jere«, sagte sie, »du bist echt der witzigste Mensch, den ich kenne.«
Das war eins der schönsten Komplimente meines Lebens. Aber das war noch nicht der spielverändernde Moment. Der kam erst danach.
Ich war gerade so richtig in Fahrt, machte Conrad nach, wie er morgens aufwacht. Ziemlich frankensteinartig. Dann kam Conrad, setzte sich zu ihr auf den Liegestuhl, zog sie am Pferdeschwanz und fragte: »Was gibt’s zu lachen?«
Belly sah zu ihm auf und wurde tatsächlich rot. Ihr Gesicht glühte, und ihre Augen leuchteten. »Ich weiß nicht mehr«, sagte sie.
Mir drehte sich der Magen um. Es war, als hätte mir jemand einen Tritt versetzt. Ich war eifersüchtig, rasend eifersüchtig. Auf Conrad. Und als sie kurz darauf aufstand, um sich eine Limo zu holen, sah ich, wie er ihr hinterherschaute, und mir wurde ganz flau.
Das war der Moment, in dem ich wusste, dass nichts mehr so sein würde wie vorher.
Ich wollte Conrad sagen, dass er kein Recht dazu hatte. Dass er nicht plötzlich beschließen konnte, sie für sich haben zu wollen, einfach so, weil ihm gerade danach war, obwohl er sie jahrelang nicht beachtet hatte.
Sie gehörte uns allen. Meine Mom vergötterte sie. Sie nannte Belly ihre heimliche Tochter. Das ganze Jahr über freute sie sich darauf, sie zu sehen. Und Steven war immer ihr Beschützer, auch wenn er meist ziemlich ruppig mit ihr umsprang. Alle passten wir auf Belly auf, sie merkte es nur nicht. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, zu Conrad aufzusehen. Solange wir uns erinnern konnten, jeder von uns, so lange liebte sie Conrad schon.
Ich wusste nur eins: Sie sollte mich auch so ansehen. Von dem Tag an war es um mich geschehen. Ich mochte Belly wirklich, sie war mehr als nur irgendeine Freundin für mich. Vielleicht liebte ich sie sogar.
Es hat andere Mädchen gegeben. Aber keine war wie Belly.
Ich wollte Belly nicht anrufen und um Hilfe bitten. Ich war sauer auf sie. Nicht nur, weil sie sich für Conrad entschieden hatte, das war nichts Neues. Sie würde sich immer für Conrad entscheiden. Trotzdem waren wir Freunde. Andererseits – wie oft hatte sie mich angerufen, seit meine Mom gestorben war? Vielleicht zweimal? Ab und zu eine SMS, eine E-Mail?
Doch als ich jetzt neben ihr im Auto saß, war alles wieder da: dieser ganz spezielle Belly-Conklin-Duft (diese besondere Mischung aus ihrer Lieblingsseife, Kokosnuss und Zucker), ihr nervöses Lächeln, ihre abgekauten Fingernägel, ihre Gewohnheit, beim Nachdenken die Nase kraus zu ziehen, ihre Art, meinen Namen zu sagen.
Als sie sich vorbeugte, um die Lüftung neu einzustellen, strich ihr Haar leicht über mein Bein. So weich fühlte es sich an, und plötzlich war mein Kopf voller Erinnerungen. Da fiel es mir schwer, weiter sauer auf sie zu sein, sie wie geplant auf Abstand zu halten. Das war praktisch unmöglich. Wenn ich in ihrer Nähe war, wollte ich sie einfach nur packen und ganz fest im Arm halten und sie küssen, bis ihr die Luft wegbliebe. Vielleicht würde sie ihn dann endlich vergessen, meinen Bruder, diesen Dreckskerl.