17
Wir fuhren durch die Stadt, vorbei an all unseren vertrauten Orten wie der Minigolfanlage und Jimmys Krabbenbar, und Jeremiah pfiff vor sich hin und gab richtig Gas. Ich hätte mir gewünscht, er führe langsamer, diese Fahrt sollte endlos dauern. Aber das würde sie natürlich nicht. Wir waren fast da.
Ich griff in meine Tasche und zog ein Döschen Lipgloss hervor. Ich tupfte mir ein bisschen davon auf die Lippen und fuhr mir schnell mit den Fingern durch die Haare. Sie waren total zerzaust, weil wir mit offenen Fenstern gefahren waren. Ich sah unmöglich aus. Jeremiah beobachtete mich, das sah ich aus dem Augenwinkel. Vermutlich schüttelte er insgeheim den Kopf und hielt mich für ganz schön blöd. Ich weiß ja, dass ich blöd bin, hätte ich ihm gerne gesagt, keinen Deut besser als Taylor. Aber ich konnte unmöglich ins Haus marschieren und Conrad dermaßen verstrubbelt unter die Augen treten.
Als ich sein Auto in der Einfahrt stehen sah, verkrampfte sich mein Herz. Er war also tatsächlich da. Wie der Blitz war Jeremiah draußen, mit Riesenschritten rannte er auf das Haus zu und sprang die Treppe hoch zur Veranda, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ich folgte ihm langsam.
Das Merkwürdige war: Das Haus roch genau wie immer. Aus irgendeinem Grund hatte ich nicht damit gerechnet. Vielleicht hatte ich mir vorgestellt, alles müsse sich anders anfühlen, jetzt, wo Susannah nicht mehr da war. Aber so war es nicht. Fast erwartete ich, sie jeden Moment zu sehen, wie sie in einem ihrer leichten Sommerkleider durchs Haus schwebte oder in der Küche auf uns wartete.
Conrads stinksaure Miene, als er uns entdeckte, war direkt eine Frechheit. Er war gerade vom Surfen zurückgekommen, er trug noch seinen Neoprenanzug, und seine Haare waren nass. Ich war völlig verwirrt. Obwohl es erst zwei Monate her war, dass wir uns zuletzt begegnet waren, hatte ich das Gefühl, einen Geist zu sehen. Den Geist der verflossenen ersten Liebe. Er warf mir einen kurzen, flackernden Blick zu, dann wandte er sich an Jeremiah: »Was zum Teufel machst du denn hier?«, fuhr er ihn zornig an.
»Ich will dich abholen. Ich bring dich zurück zum College«, sagte Jeremiah, und ich merkte ihm an, welche Anstrengung es ihn kostete, locker und entspannt zu klingen. »Du hast echt Mist gebaut. Dad springt im Karree!«
»Sag ihm, er kann mich mal. Ich geh hier nicht weg!«
»Con, du hast zwei Seminare versäumt, und am Montag sind Zwischenprüfungen! Du kannst nicht plötzlich schwänzen. Die schmeißen dich raus.«
»Das ist ja wohl mein Problem. Und was macht sie hier?« Er sah mich nicht an, als er das sagte, und seine Frage traf mich wie ein Stich ins Herz.
Schritt für Schritt ging ich rückwärts Richtung Glasschiebetür. Ich bekam kaum noch Luft.
»Ich hab sie hergebracht, damit sie mir hilft«, sagte Jeremiah. Er warf mir einen Blick zu, dann holte er tief Luft. »Pass auf, wir haben dir deine Bücher und den ganzen Kram mitgebracht. Du kannst heute Abend und morgen den ganzen Tag lernen, und dann fahren wir zum College zurück.«
»Scheiß aufs College. Wen interessiert das schon?« Conrad ging zum Sofa hinüber und schälte sich aus dem Oberteil des Neoprenanzugs. Seine Schultern waren schon leicht gebräunt. Nass wie er war, setzte er sich.
»Was ist eigentlich dein Problem?«, fragte ihn Jeremiah mit gerade noch beherrschter Stimme.
»Jetzt im Moment seid ihr mein Problem. Du und sie. Hier.« Zum ersten Mal, seit wir da waren, sah Conrad mir direkt in die Augen. »Wieso willst du mir helfen? Was machst du überhaupt hier?«
Ich machte den Mund auf und wollte etwas sagen, aber da kam nichts. Mit einem Blick, einem Wort konnte Conrad mich fertigmachen. Wie immer.
Ruhig wartete er, dass ich etwas sagte, und als ich stumm blieb, redete er.
»Ich dachte, du wolltest mich nie wieder sehen. Du hasst mich doch. Schon vergessen?« Sein Tonfall war sarkastisch, demütigend.
»Ich hasse dich nicht«, sagte ich, und dann rannte ich weg. Mit einem heftigen Ruck öffnete ich die Schiebetür und trat auf die Veranda. Dann schloss ich die Tür schnell hinter mir und rannte die Stufen hinunter.
Ich musste einfach zum Strand. Am Meer würde es mir besser gehen. Nichts, absolut nichts gab mir ein besseres Gefühl als der Sand unter meinen Füßen. Er war alles zugleich – fest und immer in Bewegung, konstant und in ständiger Veränderung. Sand bedeutete Sommer.
Ich setzte mich und sah zu, wie die Wellen auf den Strand zurollten, wo sie langsam verliefen wie weiße Zuckerglasur auf einem Kuchen. Es war ein Fehler gewesen herzukommen. Nichts, was ich sagen oder tun konnte, würde die Vergangenheit ungeschehen machen. Conrad hatte nicht einmal meinen Namen ausgesprochen. »Was macht sie hier?«, hatte er gesagt – wie viel Verachtung hatte darin gelegen!
Nach einer ganzen Weile ging ich zum Haus zurück. Jeremiah war allein in der Küche. Von Conrad war nichts zu sehen.
»Na, das lief ja wirklich großartig«, sagte er.
»Ich hätte nicht mitkommen sollen.«
Jeremiah versuchte abzulenken. »Ich wette zehn zu eins, dass er außer Bier nichts im Kühlschrank hat«, sagte er. »Wer nimmt die Wette an?«
Er wollte mich zum Lachen bringen, aber mir war absolut nicht danach. »Da müsste man ja schön blöd sein«, sagte ich und biss mir auf die Unterlippe. Nur jetzt nicht weinen, auf gar keinen Fall.
»Nimm’s dir nicht so zu Herzen«, sagte Jeremiah. Er zog leicht an meinem Pferdeschwanz und wand ihn sich wie eine Schlange ums Handgelenk.
»Ich kann nichts dagegen machen.« Allein schon sein Blick – als bedeutete ich ihm nichts. Weniger als nichts.
»Conrad ist ein Idiot. Er meint es nicht so.« Jeremiah sah mich mit einem schiefen Grinsen an. »Mir tut’s jedenfalls nicht leid, dass du mitgekommen bist. Ich bin froh, dass du da bist. Dass ich nicht ganz allein mit dieser Conrad-Kacke dastehe.«
Weil er sich solche Mühe gab, riss ich mich auch zusammen und zog die Kühlschranktür auf wie eine dieser juwelenbehängten Frauen im Abendkleid in der Gameshow Der Preis ist heiß.
»Ta-da«, sagte ich. Jeremiah hatte recht gehabt – Susannahs Luxuskühlschrank war völlig leer bis auf zwei Kästen Bier. Sie wäre bei dem Anblick ausgeflippt. »Was machen wir jetzt?«
Jeremiah schaute durchs Fenster auf den Strand hinaus. »Sieht so aus, als müssten wir heute Nacht hierbleiben. Ich bearbeite ihn, dann kommt er auch mit. Aber ich brauche noch ein bisschen Zeit.« Er schwieg einen Moment, dann fuhr er fort: »Wie wär’s, wenn du uns ein bisschen was zum Essen besorgst? Ich rede in der Zwischenzeit mit Con.«
Ich wusste, dass er mich aus dem Weg haben wollte, und im Grunde war ich froh darüber. Ich wollte weg von hier, weg von Conrad. »Muschelbrötchen zum Abendessen?«, fragte ich.
Jeremiah nickte, und ich wusste, er war erleichtert. »Klingt gut. Bring mit, worauf du Lust hast.« Er zückte seine Brieftasche, doch ich wehrte ab. »Schon okay.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, dass du dein Geld dafür ausgibst«, sagte er und hielt mir zwei zerknitterte Zwanziger und seinen Autoschlüssel hin. »Es reicht schon, dass du den weiten Weg mit hergekommen bist, um mir zu helfen.«
»Das war mir doch wichtig.«
»Weil du ein guter Mensch bist und Con helfen wolltest«, sagte er.
»Ich wollte auch dir helfen«, antwortete ich. »Und will es immer noch. Du sollst dich nicht ganz allein kümmern müssen.«
Einen kurzen Moment lang sah er gar nicht wie er selbst aus. Auf einmal erinnerte er mich an seinen Vater. »Wer hätte es denn sonst gemacht?« Dann lächelte er mich an, und im selben Moment war er wieder Jeremiah. Susannahs Sonnenschein, ihr lächelnder Engel.
In Jeremiahs Auto hatte ich gelernt, mit Knüppelschaltung zu fahren. Es war ein gutes Gefühl, zur Abwechslung selbst hinter dem Steuer zu sitzen. Statt die Klimaanlage einzuschalten, ließ ich die Fenster herunter und die Salzluft herein. Ich fuhr langsam in den Ort und parkte an der alten Baptistenkirche.
Überall sah man Kinder in Badeanzügen oder Shorts, Erwachsene in Chinos, Hunde ohne Leine. Für die meisten Besucher war es vermutlich das erste Wochenende nach Ferienbeginn. Dieses spezielle Gefühl lag in der Luft. Ich musste schmunzeln, als ich einen Jungen sah, der mit laut klatschenden Flipflops hinter zwei etwas älteren Mädchen herrannte. »Wartet doch mal!«, brüllte er, doch sie liefen nur noch schneller und sahen sich nicht einmal um.
Als Erstes ging ich in das kleine Kaufhaus. Hier hatte ich immer Stunden verbracht und hin und her überlegt, welche Bonbons ich nehmen sollte. Jede Entscheidung schien lebenswichtig. Wenn die Jungs mitkamen, rafften sie einfach irgendwas zusammen, wie es gerade kam, hier eine Handvoll, da eine Handvoll. Ich selbst wählte sorgsam aus: zehn Stück schwedisches Weingummi in Fischform, fünf Malzkugeln, eine kleine Schaufel Jelly Bellys Birnengeschmack. In Erinnerung an die guten alten Zeiten füllte ich auch dieses Mal eine Tüte ab. Erdnuss-M&Ms für Jeremiah, Minischokoriegel für Conrad und Zitronenbonbons für Steven, auch wenn er gar nicht da war. Ein Bonbon-Gedenktag, ein Tribut an das Cousins unserer Kindheit, als der Ausflug in die Stadt zum Süßigkeitenkaufen das wichtigste und beste Ereignis des Tages war.
Ich stand schon an der Kasse an, als auf einmal hinter mir jemand sagte: »Belly?«
Ich drehte mich um. Es war Maureen O’Riley, die Inhaberin von Maureen’s Millinery, dem eleganten Hutgeschäft im Ort. Maureen war älter als meine Eltern, Ende fünfzig, aber sie kannte meine Mutter und Susannah gut. Sie war eine begeisterte Modistin.
Als wir uns umarmten, stellte ich fest, dass sie immer noch diesen unverwechselbaren Geruch hatte – den Duft ihrer ganz speziellen Seife.
»Wie geht es deiner Mutter? Und Susannah?«, fragte sie mich.
»Meiner Mutter geht es gut«, sagte ich. Gerade ging es an der Kasse weiter, und die Schlange rückte ein Stück vor, sodass ich etwas Abstand zu Maureen gewann. Doch gleich schloss sie auf. »Und Susannah?«
Ich räusperte mich. »Der Krebs ist wiedergekommen, und sie ist gestorben.«
Maureen machte ein erschrockenes Gesicht. »Davon wusste ich ja gar nichts. Das tut mir so leid, ich habe sie immer sehr gern gemocht. Wann ist das passiert?«
»Anfang Mai«, sagte ich. Gleich war ich an der Reihe, dann würde ich endlich gehen können und müsste mich nicht länger unterhalten.
Maureen griff nach meiner Hand, und in einem ersten Impuls hätte ich sie fast weggezogen, auch wenn ich Maureen immer gemocht hatte. Es gefiel mir nur nicht, so im Laden zu stehen und über Susannah zu reden, als ginge es um irgendwelchen Klatsch und Tratsch. Dabei ging es doch um Susannah.
Sie musste es gespürt haben, denn sie ließ meine Hand los. »Ich wünschte, ich hätte davon gewusst. Bitte richte den Jungen und auch deiner Mutter mein herzliches Beileid aus. Und – Belly: Besuch mich irgendwann in meinem Geschäft, dann nehmen wir Maß. Es wird langsam Zeit für deinen ersten Hut, einen mit Bändern.«
»Ich hatte wirklich noch nie einen«, sagte ich und kramte nach meinem Portemonnaie.
»Dann wird es Zeit«, sagte Maureen noch einmal. »Ich möchte dir gern einen schenken, einen, der dich so richtig zur Geltung bringt. Komm vorbei, ich kümmere mich persönlich um dich.«
Ich bummelte noch eine Weile durch den Ort, schaute kurz in die Buchhandlung, sah mich im Surf-Shop um. Ich lief ziellos umher, griff gelegentlich in die Tasche und naschte von den Süßigkeiten. Einerseits hatte ich keine Lust, weiteren Bekannten über den Weg zu laufen, andererseits hatte ich es auch nicht eilig, zum Sommerhaus zurückzukehren. Dass Conrad mich nicht dahaben wollte, war unübersehbar. Machte ich alles vielleicht nur noch schlimmer? Wie er mich angeschaut hatte! Ihn wiederzusehen, wieder in diesem Haus zu sein, war schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Tausendmal schwerer.
Als ich zurückkam, mit einer großen Tüte voller Muschelbrötchen, saßen Jeremiah und Conrad auf der Veranda hinterm Haus und tranken Bier. Es war bereits Abend, es schien einen wunderbaren Sonnenuntergang zu geben.
Ich warf Schlüssel und Tüte auf den Tisch und ließ mich in einen bequemen Sessel fallen. »Krieg ich auch eins?«, sagte ich. Nicht, dass ich gern Bier trank, gar nicht – ich wollte nur dazugehören, so wie sie selbst wieder ein bisschen zueinandergefunden hatten, indem sie hier draußen saßen und gemeinsam Bier tranken. Es war wie in den alten Zeiten: Ich wollte einfach nur mitmachen dürfen.
Ich erwartete, dass Conrad mich streng angucken und sagen würde, von ihm kriegte ich bestimmt kein Bier. Als das nicht passierte, war ich zu meiner eigenen Überraschung fast enttäuscht. Jeremiah griff in die Kühlbox und warf mir ein Icehouse zu. »Seit wann trinkt unsere Belly Button denn?«, fragte er augenzwinkernd.
»Ich bin fast siebzehn«, erinnerte ich ihn. »Und außerdem: Findest du nicht, dass ich inzwischen zu alt bin für den Namen?«
»Ich weiß, wie alt du bist«, antwortete Jeremiah nur.
Conrad nahm sich ein Brötchen aus der Tüte. Er biss mit solchem Heißhunger hinein, dass ich mich fragte, ob er an diesem Tag überhaupt schon etwas gegessen hatte.
»Gern geschehen«, sagte ich. Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. Kein einziges Mal hatte er zu mir herübergesehen, seit ich vom Einkaufen zurück war. Ich wollte einfach, dass er mich endlich zur Kenntnis nahm.
Er knurrte ein Dankeschön, und Jeremiah warf mir einen warnenden Blick zu. So als wollte er sagen: Reize ihn bloß nicht, nicht jetzt, wo es gerade ganz gut läuft.
Jeremiahs Handy surrte auf dem Tisch, aber er machte keine Anstalten zu antworten. Conrad sagte: »Ich geh hier nicht weg, sag ihm das.«
Mein Kopf fuhr hoch. Was sollte das denn heißen – er geht hier nicht weg? Überhaupt nie mehr? Ich sah ihn groß an, doch seine Miene war ausdruckslos wie zuvor.
Schließlich stand Jeremiah auf, nahm sein Telefon und ging ins Haus. Die Schiebetür schloss er hinter sich. Zum ersten Mal waren Conrad und ich uns selbst überlassen. Spannung lag in der Luft, und ich fragte mich, ob ihm leidtat, was er gesagt hatte, und ob ich wenigstens versuchen sollte, die Sache wieder hinzubiegen. Aber was sollte ich sagen? Gab es überhaupt irgendetwas, was ich sagen konnte?
Also versuchte ich es erst gar nicht. Ich ließ die Gelegenheit vorübergehen und lehnte mich seufzend in meinen Sessel zurück. Der Himmel färbte sich rosagolden, und mir war, als könnte es nichts Schöneres geben, als wäre dieser spezielle Sonnenuntergang zehnmal schöner als alle Schönheit der Welt. Ich fühlte, wie die Anspannung des Tages von mir wich und davonflog, hinaus aufs Meer. Ich wollte mir alles tief einprägen, für den Fall, dass ich nie mehr hierher zurückkehren sollte. Man weiß nie, wann man einen Ort zum letzten Mal sieht. Einen Ort oder einen Menschen.