21
Ich war gerade im Bad, um mir den Zucker aus dem Gesicht zu waschen, als es mir zum ersten Mal so richtig bewusst wurde. Da kein Handtuch am Haken hing, schaute ich in den Wäscheschrank und sah, im Fach unter den Strandlaken, Susannahs großen weichen Hut. Den, den sie immer am Strand trug. Sie war immer sehr besorgt um ihre Haut. Gewesen.
Nicht an Susannah zu denken, ganz bewusst nicht an sie zu denken hatte es leichter gemacht. So lange war sie nicht wirklich von uns gegangen. Dann war sie einfach nur gerade irgendwo anders. So hatte ich es gehalten, seit sie gestorben war. Hatte nicht an sie gedacht. Nur dass es zu Hause einfacher gewesen war. Hier jedoch, im Sommerhaus, war sie überall.
Ich nahm ihren Hut und hielt ihn einen Moment lang in den Händen, bevor ich ihn zurücklegte. Auf einmal fühlte ich einen Schmerz in der Brust, so heftig, dass ich kaum Luft bekam. Es war so schwer, hier zu sein, in diesem Haus. Zu schwer.
Ich raste nach oben, nahm Conrads Kette ab, zog meine Sachen aus und Taylors Bikini an. Es war mir völlig egal, wie blöd ich darin aussah. Ich wollte einfach nur ins Wasser. Irgendwo sein, wo ich nicht nachdenken musste, wo außer dem Wasser nichts existierte. Ich würde schwimmen, mich treiben lassen, einatmen, ausatmen, einfach nur sein.
Mein altes Teddybärstrandlaken lag wie eh und je im Wäscheschrank. Ich legte es mir wie eine Decke um die Schultern und ging nach unten. Jeremiah saß am Tisch, aß ein Eiersandwich und schlürfte Milch direkt aus der Packung. »Hey«, sagte er.
»Hey, ich geh schwimmen.« Ich fragte nicht nach Conrad, und ich lud Jeremiah auch nicht ein mitzukommen. Ich brauchte ein bisschen Zeit für mich allein.
Ich schob die Verandatür auf und schloss sie sofort hinter mir, ohne eine Antwort abzuwarten. Dann schmiss ich mein Laken auf einen Stuhl und machte einen Schwalbensprung ins Becken. Ich tauchte nicht gleich wieder auf, sondern blieb unter Wasser und hielt den Atem an, solange es gerade noch ging.
Als ich auftauchte, konnte ich wieder normal atmen. Es war, als hätten meine Muskeln sich entspannt. Ich schwamm eine Bahn nach der anderen, hin und her, hin und her. Jedes Mal, wenn ich untertauchte, hielt ich möglichst lange die Luft an.
Irgendwann hörte ich Jeremiah rufen. Widerwillig tauchte ich auf. Er hockte am Beckenrand. »Ich bin mal ’ne Weile weg. Vielleicht geh ich zu Nello, Pizza essen«, sagte er und stand auf.
Ich schob mir die Haare aus den Augen. »Du hast doch gerade erst ein Sandwich gegessen. Und vorher jede Menge Muffins!«
»Jungs im Wachstumsalter brauchen das. Und im Übrigen ist das schon wieder anderthalb Stunden her.«
Anderthalb Stunden? War ich anderthalb Stunden geschwommen? Es war mir wie Minuten vorgekommen. »Oh«, sagte ich und betrachtete meine Finger. Ganz verschrumpelt sahen sie aus.
»Dann noch viel Spaß«, sagte Jeremiah und winkte mir noch einmal kurz zu.
»Bis später!«, rief ich, dann stieß ich mich am Beckenrand ab und schwamm schnell zur anderen Seite hinüber, wo ich eine Rollwende machte. Konnte ja sein, dass er mir noch zusah. Jeremiah hatte meine Rollwenden immer bewundert.
Ich blieb noch eine Stunde im Wasser. Als ich nach der letzten Bahn wieder auftauchte, saß Conrad auf dem Stuhl, auf den ich mein Laken geschmissen hatte. Schweigend hielt er es mir hin.
Ich kletterte aus dem Becken. Mit einem Mal fing ich an zu zittern. Ich nahm das Handtuch und wickelte mich hinein. Conrad sah mich nicht an. »Spielst du immer noch Olympiade?«, fragte er.
Ich zuckte zusammen, dann schüttelte ich den Kopf und setzte mich neben ihn. »Nein«, sagte ich, und das Wort hing eine Weile zwischen uns in der Luft. Ich zog die Knie an. »Das ist vorbei.«
»Wenn du schwimmst …«, fing er an, doch dann brach er ab. Ich dachte schon, er würde den Satz nicht mehr zu Ende bringen, doch dann sagte er: »… dann könnte das Haus in Flammen stehen, du würdest es nicht mal merken. Du bist so konzentriert, es ist, als wärst du gar nicht hier.«
Das sagte er mit einer Art widerstrebendem Respekt. So als hätte er mir schon eine ganze Weile zugesehen. Als hätte er mich seit Jahren beobachtet. Hatte er vermutlich auch.
Ich wollte gerade antworten, aber da stand er schon auf und ging zurück ins Haus. Als er eben die Tür hinter sich zumachen wollte, rief ich ihm zu: »Genau das gefällt mir ja daran.«