23
Später am Nachmittag gingen Jeremiah und Conrad noch einmal surfen. Ich dachte, vielleicht wollte Conrad mit Jeremiah über das Haus reden, allein. Und vielleicht wollte Jeremiah noch einen Versuch machen, mit Conrad übers College zu reden, allein. Von mir aus gerne. Mir reichte es völlig zuzuschauen.
Ich setzte mich auf der Veranda in einen Liegestuhl, mein Handtuch fest um mich gewickelt. Man fühlt sich immer so gut, so geborgen, wenn man tropfnass aus dem Pool kommt und die Mutter einem ein Handtuch wie einen Umhang um die Schultern legt. Selbst ohne Mutter fühlte es sich immer noch gut und gemütlich an. Auf so schmerzliche Weise vertraut, dass ich plötzlich wünschte, ich wäre noch acht. Acht – das war eine Zeit noch vor Tod und Scheidung und gebrochenem Herzen. Hotdogs und Erdnussbutter, Mückenstiche und Splitter im Fuß, Fahrräder und Surfbretter, Knoten in den Haaren, Sonnenbrand auf den Schultern, Bücher von Judy Blume und Schlafengehen um halb zehn.
Lange saß ich da und hing meinen melancholischen Gedanken nach. Von irgendwoher zog der Geruch von Holzkohle herüber; anscheinend wurde in der Nachbarschaft gegrillt. Vielleicht bei den Rubensteins? Oder den Tolers? Was es dort wohl gab? Hamburger? Steaks? Auf einmal merkte ich, dass ich Hunger hatte.
Ich ging in die Küche, fand aber nichts Essbares. Außer Conrads Bier war nichts im Kühlschrank. Taylor hatte mal gemeint, Bier sei im Grunde auch nichts anderes als Brot, pure Kohlenhydrate. Also konnte ich gegen den Hunger auch Bier trinken, selbst wenn es mir eigentlich nicht schmeckte – satt machen würde es auf jeden Fall.
Also griff ich mir eins, ging wieder nach draußen, setzte mich und zog den Verschluss auf. Plopp. Klang schon mal vielversprechend. Merkwürdig, so ganz allein zu sein in diesem Haus. Kein schlechtes Gefühl, nur ungewohnt. Solange ich lebte, kam ich schon hierher, aber die wenigen Male, die ich allein im Haus gewesen war, konnte ich an einer Hand abzählen. Ich fühlte mich um einiges älter als letzten Sommer.
Ich trank einen großen Schluck Bier und verzog das Gesicht – nur gut, dass Jeremiah und Conrad mich nicht sehen konnten, sie hätten sich garantiert über mich lustig gemacht.
Ich trank gerade den nächsten Schluck, als sich hinter mir jemand räusperte. Ich schaute auf und hätte mich fast verschluckt. Es war Mr. Fisher.
»Hello, Belly«, sagte er. Er trug einen Anzug; anscheinend kam er direkt aus dem Büro, dabei war doch Samstag. Und trotz der langen Fahrt war seine Kleidung kein bisschen verknittert.
»Hi, Mr. Fisher.« Ich klang total nervös und zittrig.
Mein erster Gedanke war: Wir hätten Conrad einfach zwingen sollen, ins Auto einzusteigen, zum College zurückzukehren und seine blöden Prüfungen zu machen. Es war ein gewaltiger Fehler gewesen, ihm Zeit zu geben, das wurde mir jetzt klar. Ich hätte Jeremiah drängen sollen, Conrad zu drängen.
Erst als ich sah, wie Mr. Fisher mit hochgezogenen Augenbrauen auf meine Hand sah, merkte ich, dass ich noch immer das Bier umklammert hielt, so fest, dass meine Finger sich schon ganz taub anfühlten. Ich stellte die Dose am Boden ab, und dabei fielen mir zum Glück die Haare vors Gesicht. So konnte ich mich dahinter verstecken und einen Moment lang nachdenken, was ich sagen könnte.
Ich tat, was ich immer getan hatte – versteckte mich hinter den Jungs. »Äh, also, Conrad und Jeremiah sind gerade nicht da.« Meine Gedanken rasten. Die beiden konnten jeden Moment zurück sein.
Mr. Fisher schwieg. Er nickte nur und rieb sich den Nacken. Dann kam er die Stufen zur Veranda hoch und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Er nahm mein Bier und trank einen großen Schluck. »Wie geht es Conrad?«, fragte er, während er die Dose auf seiner Armlehne abstellte.
»Gut«, sagte ich spontan. Sofort kam ich mir blöd vor. Natürlich ging es Conrad gar nicht gut. Er war vom College abgehauen, seine Mutter war vor Kurzem gestorben. Wie sollte es ihm da gut gehen? Wie sollte es irgendeinem von uns gut gehen? Aber in gewissem Sinne ging es ihm vielleicht doch gut, denn er hatte wieder eine Aufgabe. Er hatte einen Sinn gefunden. Einen Grund zu leben. Ein Ziel und einen Feind. Das war ein guter Ansporn. Selbst wenn es sich bei diesem Feind um den eigenen Vater handelte.
»Was denkt sich der Junge eigentlich?« Mr. Fisher schüttelte den Kopf.
Was sollte ich dazu sagen? Noch nie hatte ich gewusst, was Conrad dachte. Und ich war mir sicher, dass es den meisten Menschen ebenso ging. Trotzdem hatte ich das Bedürfnis, ihn zu verteidigen, zu schützen.
Schweigend saßen wir da, Mr. Fisher und ich. Aber es war kein entspanntes Schweigen unter Vertrauten, sondern einfach nur steif und schrecklich. Er hatte noch nie gewusst, worüber er mit mir reden könnte, und ich umgekehrt genauso wenig. Irgendwann räusperte er sich dann doch und fragte: »Was macht die Schule?«
»Ferien«, sagte ich. Ich kaute an meiner Unterlippe und fühlte mich wie eine Zwölfjährige. »Seit ein paar Tagen. Im Herbst komme ich in die Abschlussklasse.«
»Weißt du schon, auf welches College du gehen willst?«
»Nicht wirklich.« Falsche Antwort, das war mir sofort klar. Colleges waren ein Thema, über das Mr. Fisher gern redete. Aber es mussten natürlich die richtigen sein.
Also schwiegen wir weiter.
Auch das kannte ich gut. Dieses Gefühl von Angst, von drohendem Unheil. Das Gefühl, in Schwierigkeiten zu stecken. Ich. Wir alle.