33
5. Juli
»Belly.«
Ich wollte mich einfach auf die andere Seite drehen und weiterschlafen, aber dann war die Stimme wieder da, dieses Mal lauter.
»Belly!« Jemand rüttelte mich wach.
Ich schlug die Augen auf. Es war meine Mutter. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihr Mund war nur noch eine dünne Linie. Sie trug ihre Sweathose, in der sie sonst nie aus dem Haus ging, nicht mal zum Sport. Was in aller Welt machte sie hier im Sommerhaus?
Von irgendwoher kam ein andauerndes Tuten, erst dachte ich, es sei mein Wecker, doch dann begriff ich, dass ich das Telefon umgeworfen hatte, und was ich da hörte, war das Besetztzeichen. Und dann wurde mir auch der Rest klar: Ich hatte im Suff meine Mutter angerufen. Ich hatte sie hergeholt.
Ich richtete mich auf, und in meinem Kopf hämmerte es so laut, dass ich dachte, es sei mein Herz. So also fühlte es sich an, wenn man einen Kater hatte. Meine Augen brannten, ich hatte die Kontaktlinsen nicht rausgenommen. Das Bett war voller Sand, auch an meinen Füßen klebte noch ein Teil.
Meine Mutter stand auf, ich sah sie nur ganz verschwommen. »Ich geb dir fünf Minuten zum Packen.«
»Warte doch mal … was?«
»Wir fahren.«
»Aber ich kann hier nicht weg. Ich muss noch …«
Es war, als könnte sie mich nicht hören, als hätte sie mich auf lautlos gestellt. Sie fing an, meine Klamotten vom Boden aufzuheben, warf Taylors Sandalen und Shorts in meine Reisetasche.
»Mom, hör auf! Hör doch mal ganz kurz auf!«
»In fünf Minuten fahren wir«, wiederholte sie und sah sich im Zimmer um.
»Hör mir wenigstens eine Sekunde lang zu. Ich musste kommen. Jeremiah und Conrad brauchten mich.«
Als ich die Miene meiner Mutter sah, brach ich ab. Noch nie hatte ich sie so zornig gesehen.
»Und du hast es nicht für nötig befunden, mir davon zu erzählen? Beck hat mich gebeten, mich um ihre Jungs zu kümmern. Aber wie kann ich das, wenn ich nicht einmal weiß, dass sie meine Hilfe brauchen? Wenn sie in Schwierigkeiten sind, dann hättest du mir das sagen müssen. Stattdessen hast du es vorgezogen, mich anzulügen. Gelogen hast du!«
»Ich wollte dich nicht anlügen …«, fing ich an.
Sie redete einfach weiter. »Du kommst hierher, um Gott weiß was zu treiben …«
Ich starrte sie an. Ich konnte nicht glauben, was sie da eben gesagt hatte.
»Was soll das denn heißen: Gott weiß was?«
Meine Mutter fuhr herum und funkelte mich wild an. »Was soll ich denn denken? Schließlich bist du schon einmal heimlich mit Conrad hergekommen und hast mit ihm die Nacht hier verbracht! Also sag du mir, wenn es anders war. Für mich sieht es nämlich ganz so aus, als hättest du mich angelogen, damit du herkommen und dich betrinken und mit deinem Freund rumknutschen kannst.«
Ich hasste sie. So sehr hasste ich sie.
»Er ist nicht mein Freund! Du hast doch überhaupt keine Ahnung!«
Die Ader an der Stirn meiner Mutter pulsierte. »Du rufst mich um vier Uhr morgens an, betrunken. Ich rufe auf deinem Handy an, und es schaltet sofort auf Mailbox. Ich wähle die Festnetznummer vom Haus, und es ist immer besetzt. Ich fahre stundenlang durch die Nacht, wahnsinnig vor Angst, dann komme ich hier an, und das Haus ist ein einziges Schlachtfeld. Bierdosen liegen herum, alles ist voller Müll. Was zum Teufel treibst du hier eigentlich, Isabel? Weißt du das überhaupt selbst?«
Das Haus hatte ausgesprochen dünne Wände. Wahrscheinlich hörten die anderen jedes Wort.
»Wir wollten ja aufräumen«, sagte ich. »Aber es war unser letzter Abend hier. Kapierst du nicht? Mr. Fisher verkauft das Haus. Ist dir das ganz egal?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Kiefermuskeln waren angespannt. »Und du glaubst im Ernst, irgendwem wäre damit geholfen, dass du dich einmischst? Die Sache geht uns nichts an. Wie oft soll ich dir das noch erklären?«
»Und ob sie uns was angeht! Susannah hätte gewollt, dass wir dieses Haus retten!«
»Erzähl du mir nicht, was Susannah gewollt hätte!«, fuhr meine Mutter mich an. »Und jetzt möchte ich, dass du dich anziehst und deine Sachen zusammensuchst. Wir fahren.«
»Nein.« Ich zog mir die Decke bis über die Schultern hoch.
»Wie bitte?«
»Ich hab gesagt: Nein. Ich geh hier nicht weg!« Ich sah meine Mutter mit meinem trotzigsten Blick an, aber gleichzeitig spürte ich, wie mein Kinn zitterte.
Mit wenigen Schritten stand sie neben meinem Bett und riss mir die Decke weg. Dann packte sie mich am Arm, zerrte mich aus dem Bett und schob mich zur Tür. Ich wand mich los.
»Du kannst mich nicht zwingen«, schluchzte ich. »Du hast mir gar nichts zu sagen. Du hast kein Recht dazu.«
Meine Mutter ließ sich von meinen Tränen nicht erweichen, sie wurde nur noch zorniger. »Wie ein verzogenes Gör benimmst du dich. Kannst du nicht ein einziges Mal über deinen eigenen Kummer hinausschauen und auch an andere denken? Es dreht sich nicht alles um dich. Wir alle haben Beck verloren. Dein Selbstmitleid ist alles andere als hilfreich.«
Ihre Worte trafen mich so heftig, dass ich ihr ebenfalls wehtun wollte, und zwar tausendmal schlimmer. Also sagte ich das, wovon ich wusste, dass es sie mehr als alles andere verletzen würde. Ich sagte: »Ich wünschte, Susannah wäre meine Mutter und nicht du.«
Wie oft hatte ich das gedacht, mir insgeheim gewünscht? Als ich klein war, bin ich mit allem immer zuerst zu Susannah gerannt, nicht zu meiner Mutter. Ich habe mich gefragt, wie es wohl wäre, eine Mom wie Susannah zu haben, die mich so liebte, wie ich war, und nicht enttäuscht von mir war, weil ich in so vielem ihren Erwartungen nicht entsprach.
Ich atmete heftig, während ich auf die Reaktion meiner Mutter wartete. Dass sie weinte, dass sie mich anschrie.
Sie tat nichts dergleichen. Stattdessen sagte sie: »Wie schade für dich.«
Ich konnte mich noch so sehr anstrengen, nie bekam ich von meiner Mutter die Reaktion, die ich mir wünschte. An ihr prallte einfach alles ab.
»Susannah wird dir das nie verzeihen. Dass du ihr Haus aufgibst. Dass du ihre Jungen enttäuschst.«
Die Hand meiner Mutter schnellte vor und traf mich mit solcher Wucht, dass ich zurückfuhr. Das hatte ich nicht kommen sehen. Ich hielt mir das Gesicht und brach in Tränen aus, aber irgendwo tief in mir war ich auch erleichtert. Endlich hatte ich bekommen, was ich wollte. Den Beweis, dass sie überhaupt zu Gefühlen fähig war.
Ihr Gesicht war weiß. Noch nie hatte sie mich geschlagen. In meinem ganzen Leben nicht, kein einziges Mal.
Ich wartete darauf, dass sie sagte, es tue ihr leid. Dass sie sagte, sie habe mir nicht wehtun wollen, sie habe nichts von alldem so gemeint. Wenn sie das sagte, dann würde ich es auch tun. Denn es tat mir wirklich leid. Und ich hatte es ehrlich nicht so gemeint.
Als sie aber gar nichts sagte, wich ich erst einen Schritt zurück, dann ging ich um sie herum, eine Hand immer noch an die Wange gepresst. Schließlich rannte ich aus dem Zimmer und fiel dabei fast über meine eigenen Füße.
Jeremiah stand im Flur und starrte mich mit offenem Mund an, mit einem Blick, als würde er mich nicht erkennen, als kennte er diesen Menschen nicht, dieses Mädchen, das seine Mutter anbrüllte und schreckliche Dinge sagte. Er streckte einen Arm aus, um mich aufzuhalten. »Warte.«
Doch ich drängte mich an ihm vorbei und lief die Treppe hinunter.
Im Wohnzimmer war Conrad dabei, Bierflaschen einzusammeln und in einen blauen Müllsack zu schmeißen. Er sah mich nicht an. Klar, auch er hatte alles mit angehört.
Ich rannte zum hinteren Ausgang hinaus, stolperte die Treppe hinunter, die zum Strand führte, und ließ mich in den Sand fallen. Dann musste ich mich übergeben.
Ich hörte, wie Jeremiah näher kam. Ich musste mich nicht erst umdrehen, ich wusste sofort, dass er es war. Conrad wüsste, dass es klüger wäre, mir nicht hinterherzukommen.
Ich wischte mir den Mund ab. »Ich will einfach nur allein sein«, sagte ich, ohne ihn anzusehen. Er sollte mein Gesicht nicht sehen.
»Belly«, begann er. Er setzte sich neben mich und schaufelte mit den Füßen Sand über mein Erbrochenes.
Als er sonst nichts mehr sagte, drehte ich mich doch zu ihm um. »Was ist?«
Er biss sich auf die Oberlippe. Dann streckte er eine Hand aus und berührte mein Gesicht. Seine Finger fühlten sich warm an. Er sah so traurig aus. »Fahr jetzt mit deiner Mom, wirklich.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das ganz bestimmt nicht. Den ganzen weiten Weg war ich gekommen, all den Ärger hatte ich auf mich genommen, um ihm und Conrad zu helfen, und nun sollte ich gehen? Tränen traten mir in die Augen, und ich wischte sie mit dem Handrücken weg. »Wieso?«
»Weil Laurel wirklich aufgeregt ist. Alles ist völlig danebengegangen, durch meine Schuld. Ich hätte dich nie bitten dürfen mitzukommen. Es tut mir leid.«
»Ich gehe nicht weg.«
»Wir müssen alle hier weg, bald schon.«
»Und das war’s dann?«
Er zuckte mit den Achseln. »Sieht ganz so aus.«
Eine Weile blieben wir im Sand sitzen. Nie zuvor hatte ich mich so verloren gefühlt. Ich weinte noch ein bisschen, und Jeremiah schwieg, wofür ich dankbar war. Nichts ist peinlicher, als wenn ein Freund einem dabei zusieht, wie man nach einem Streit mit der Mutter heult. Als ich fertig war, stand er auf und reichte mir eine Hand. »Komm«, sagte er und zog mich hoch.
Wir gingen ins Haus zurück. Conrad war nicht zu sehen, das Wohnzimmer war sauber und aufgeräumt. Meine Mutter wischte den Küchenboden. Als sie mich sah, hörte sie auf. Sie stellte den Mopp zurück in den Eimer und lehnte ihn an die Wand.
»Es tut mir leid«, sagte sie, und das, obwohl Jeremiah neben mir stand.
Ich sah ihn an, und er ging aus der Küche und die Treppe hinauf. Fast hätte ich ihn festgehalten. Ich wollte nicht allein sein mit ihr. Ich hatte Angst.
»Du hast recht«, fuhr sie fort. »Ich war abwesend. Ich war so in mein eigenes Leid eingesponnen, dass ich mich gar nicht um dich gekümmert habe. Das tut mir wirklich leid.«
»Mom …«, fing ich an. Ich wollte ihr sagen, dass es mir auch leidtat, was ich gesagt hatte, dieser schreckliche Satz, den ich so gern zurücknehmen wollte. Doch sie hob die Hand und sprach weiter.
»Ich bin einfach – völlig von der Rolle. Seit Beck gestorben ist, finde ich mein Gleichgewicht nicht mehr.« Sie lehnte den Kopf an die Wand. »Ich bin schon mit Beck hierhergekommen, als ich noch ganz jung war, jünger als du heute. Ich liebe dieses Haus, das weißt du auch.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Und ich hab’s nicht so gemeint, das vorhin.«
Meine Mutter nickte. »Komm, setzen wir uns einen Moment, ja?«
Sie setzte sich an den Küchentisch, und ich nahm mir einen Stuhl ihr gegenüber.
»Ich hätte dich nicht schlagen dürfen«, brachte sie mit brüchiger Stimme hervor. »Es tut mir leid.«
»Das hast du noch nie gemacht.«
»Ich weiß.«
Meine Mutter streckte die Arme über den Tisch und nahm meine Hand. Fest wie in einem Kokon lag sie zwischen ihren Fingern. Erst war ich innerlich ganz starr, doch nach einer Weile konnte ich es annehmen, dass sie mich trösten wollte. Denn ich spürte, dass es auch sie tröstete. Lange saßen wir so da, zumindest kam es mir so vor.
Als sie meine Hand schließlich losließ, sagte sie: »Du hast mich angelogen, Belly. Du lügst mich sonst nie an.«
»Ich wollte es nicht. Aber Conrad und Jeremiah sind mir so wichtig. Sie brauchten mich, deshalb bin ich mitgefahren.«
»Ich wünschte, du hättest es mir gesagt. Becks Söhne sind auch mir wichtig, und wenn es irgendein Problem gibt, dann möchte ich davon wissen, okay?«
Ich nickte.
Dann sagte sie: »Hast du fertig gepackt? Ich wäre gern zurück, bevor die Sonntagsausflügler losfahren.«
Ich starrte sie an. »Mom, wir können jetzt nicht einfach wegfahren! Nicht jetzt, wo so viel passiert. Du kannst nicht zulassen, dass Mr. Fisher das Haus verkauft. Das kannst du nicht machen!«
Sie seufzte. »Ich weiß nicht, ob ich ihn irgendwie dazu bringen kann, seine Meinung zu ändern. Belly – Adam und ich sehen viele Dinge mit völlig unterschiedlichen Augen. Wenn er sich in den Kopf gesetzt hat, das Haus zu verkaufen, dann kann ich ihn nicht daran hindern.«
»Doch, du kannst es, ich weiß das. Auf dich wird er hören. Conrad und Jeremiah – die beiden brauchen dieses Haus. Sie brauchen es wirklich.«
Ich legte meinen Kopf auf den Tisch, und das Holz fühlte sich angenehm kühl und glatt an. Meine Mutter strich mir über den Kopf, durch mein zerzaustes Haar.
»Ich rufe ihn an«, sagte sie schließlich. »Und jetzt geh nach oben und stell dich unter die Dusche.« Hoffnungsvoll sah ich zu ihr hoch und sah ihren entschlossenen Mund und die leicht zusammengekniffenen Augen. Da wusste ich, das letzte Wort war noch nicht gesprochen.
Wenn es überhaupt jemanden gab, der alles wieder in Ordnung bringen konnte, dann meine Mutter.