Anfang der Nullerjahre zogen meine Mutter, meine kleine Schwester und ich um. Damals war ich vierzehn, meine Schwester Nadine erst acht. Die Existenz meiner Schwester – ich muss es leider so drastisch sagen – lässt sich maßgeblich als Versuch meiner Eltern deuten, ihre Ehe zu retten. Oder ihre Liebe. Oder auch nur einen Restfunken Zuneigung. Bis heute ist mir unbegreiflich, wie zwei erwachsene Leute allen Ernstes auf die Idee kommen können, dass das funktioniert.

Aber man hört ja doch immer wieder davon.

Meiner Schwester hat das nicht wirklich gutgetan. Sie erlebte unsere Eltern nie oder nur selten als zwei, die sich einen Blick zuwerfen, der eigentlich nicht für Kinderaugen gedacht ist. Ihr wisst, was ich meine, Blick, Blick zurück, geh du doch mal raus auf den Spielplatz, Plastikteller mit Spinat- und Fischstäbchenresten vom Kind in die Spüle gepfeffert, nackter Arsch auf Küchentisch, Stimmbänder rau gestöhnt. So ungefähr.

Ich hatte diese Blicke in meiner frühesten Kindheit noch zwischen meinen Eltern erlebt, auch wenn ich sie damals natürlich nicht umfassend deuten konnte. Aber sie hinterließen in mir ein Gefühl, das Kindheitspädagogen sicher begeistert beklatschen würden, es war das Gefühl von Hier ist alles in Ordnung, hier muss sich niemand Sorgen machen . Urvertrauen, Bindung, dies das. Sorgen machte ich mir erst dann, als diese Blicke weniger wurden. So versuchte ich schon in meiner frühesten Kindheit, Momente des Glücks für meine Eltern künstlich zu erzeugen. Ich tüftelte an ihrer Beziehung herum wie eine kleine therapeutische Handwerkerin. Ich kochte kleine Kindergerichte aus kleinen Kinderzeitschriften nach, die die kulinarische Ebene von überbackenem Toast mit einer Cocktailtomate als Garnierung in der Regel nicht überstiegen. Dabei fühlte ich mich allerdings so, als hätte ich ihnen eine höchst romantische Candlelight-Dinner-Situation verschafft, während sie ganz elternmäßig Begeisterung heuchelten für diese Gerichte, die den Namen Gericht nicht im Mindesten verdienten, und ich stand daneben wie die Chefköchin höchstpersönlich und erfreute mich an meinen sogenannten kleinen, feinen Plänen.

Ich schrieb Zettel mit Botschaften und versteckte sie überall in der Wohnung. Darauf stand dann so was wie »Wer das liest, muss Mama auf den Mund küssen«. Fand ein Elternteil einen dieser Zettel, beobachtete ich den Moment der Ausführung vom Türrahmen aus und freute mich wie eine Schneekönigin über die erfolgreiche Umsetzung meiner kleinen Pläne. Je seltener meine Eltern sich mit dem Glücklich-Blick ansahen, umso heftiger und verzweifelter wurden meine kleinen Pläne. Reagierten meine Eltern zu Beginn noch mit leicht beschämter Freude und tauschten sogar manchmal den von mir erhofften Blick, so wurden ihre Reaktionen mit der Zeit kühler. Als ich meine Mutter einmal einen Zettel mit der Botschaft »Wer das liest, muss Papa ganz fest in den Arm nehmen« öffnen sah, im Inneren schon bereit für einen wärmenden Moment voll elterlicher Liebe, bemerkte ich zum ersten Mal einen ganz anderen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Eher so, als öffnete man den Deckel des Biomülls und entdeckte, dass es angefangen hatte zu schimmeln. Mein Vater, der ebenfalls auf den Zettel schielte, lachte auf eine unangenehm nervöse Art, die ich noch nie an ihm festgestellt hatte, und dann, sehr unbeholfen, sodass möglichst wenig Körper anderen Körper berührte, drückten meine Eltern sich steif unter meinen großen Augen. Es war eine riesige Enttäuschung.

Einige Wochen später sah ich durch den Spalt des Wohnzimmers, wie mein Vater in der Fernsehzeitschrift einen weiteren meiner Ehe-Rettungs-Zettel fand. Ich schaute mit einem leisen Lächeln zu, wie er ihn eine Weile betrachtete und die Botschaft las. Schließlich – nach einigen stillen Sekunden – zerknüllte er ihn in seiner Hand.

Gefrorenes Lächeln auf meinem Gesicht. Während er vom Sofa aufstand, in die Küche ging und dort den Papiermüll öffnete, stand ich mit klopfendem Herzen und einem schmerzhaften Gefühl, das sich heiß und eklig von meinen Oberschenkeln bis zum Hals hochzog, im dunklen Flur und kämpfte gegen die Erkenntnis an, dass meine kleinen Pläne gescheitert waren.

Aber meine Bestrebungen, mich zu kümmern, wären ja wirklich recht einfallslos gewesen, wenn sie sich nicht variabel einsetzen ließen. Eine Festanstellung im Lebenshandwerk, dem selbstlosesten aller Berufszweige, endete nicht nach einem kleinen Misserfolg.

Einige Zeit später sah ich meine kleine Schwester erste tapsige Schritte in Richtung von Armen machen, die nicht ausgebreitet waren, die keine Kapazitäten und keine Kraft hatten für die erbetene Zuneigung. Und, na klar, öffnete stattdessen ich meine Arme für sie, und wie ich sie öffnete. Als mir dann auch noch einfiel, dass Nadine vermutlich niemals gesehen hatte, wie meine Eltern sich – ohne Zettelzwang – küssten, sah ich vermehrten Handlungsbedarf. Neue kleine Pläne wurden geschmiedet. Diesmal für meine Schwester.

Schnitzeljagden bei uns zu Hause, Gutenachtgeschichten, Abenteuer zwischen heißer Lava und Steinen aus Karamell im Sandkasten einen Block weiter. Die Resonanz meiner Schwester auf meine Bemühungen war groß, war zart, sie gab mir die Bestätigung, dass ich das Richtige tat. Dass ich eine gute Handwerkerin war.

Aus irgendeinem Grund wusste ich bereits vor Nadines strahlenden Augen und ihrem begeisterten Quieken, dass die meisten Leute es mögen, wenn man sich um sie kümmert. Da ich viel vor dem Fernseher rumhing und so ziemlich jede Kinderserie kannte, die in den 90ern lief, hatte ich es wohl daher.

Gummibärensaft trinken, alle retten. Macht des Mondes nutzen, alle retten. Ein bisschen Powerpuff hier, ein bisschen Simsalabim da, alle retten. Ich war da, ich war stark, ich war bereit.

Sich zu kümmern, aufzuopfern, allzeit bereit zu sein im Kampf gegen das Unwohlsein der anderen, hieß nur blöderweise auch irgendwie unsichtbar zu werden. Anders als die Figuren in meinen Lieblingsserien wurde ich zur Nebenrolle in meinem eigenen Leben.

Aber das war schon in Ordnung so. Das Wichtigste war schließlich, dass es allen gut ging. Allen anderen.

Und so war auch der Umzug in die neue Stadt etwas, zu dem ich keine Gefühle hatte. Ich beklagte mich nicht, ich weinte nicht, ich trauerte nicht um verlorene Freundschaften. Das neue Leben nahm ich als etwas an, von dem ich schon immer ahnte, dass es eines Tages kommen würde. Eine neue Aufgabe für die kleine Lebenshandwerkerin war da. Mir wurde etwas hingelegt, und ich arbeitete es ab. Lohnarbeit! Kapitalismus! Amen!


Aus den Kinderbüchern, die ich ihr abends vorlas, wusste Nadine, dass Umziehen – insbesondere für Kinder – etwas Schreckliches war. Und so wie ich meine Rolle annahm, schlüpfte sie in die für sie vorgesehene Rolle. Sie tobte und schrie, wenn meine Mutter den Umzug erwähnte. Sie sagte, sie würde nicht mitkommen, und schnürte sich eines Tages sogar ein kleines Bündel, um von zu Hause wegzulaufen. Astrid Lindgren wäre stolz auf sie gewesen. Bis zur Bushaltestelle kam sie, dort weigerte sich der Fahrer, sie mitzunehmen, da ihn eine Achtjährige mit einem Stock, an den ein Beutel geschnürt war, wohl doch zu viele Schwierigkeiten erahnen ließ.

»Um Gottes willen, kannst du dich bitte kümmern?«, stöhnte meine Mutter, als Nadine zwei Tage vor Umzug drei ganze Kartons wieder aufriss und den Inhalt in unserem Zimmer verteilte.

Na klar.

Na klar kümmerte ich mich.

Auftrag angenommen.

Verurteilt mich bitte nicht, ich war ein Kind. Was hättet ihr getan? Oh ja, wahrscheinlich rebelliert. Nadine geholfen, auch noch die restlichen Kartons aufzureißen, und meine Mutter ins völlige Chaos gestürzt.

Aber das tat ich aus irgendeinem Grund nicht.

Mir tat meine Mutter leid, die sich damit abfand, dass ihr Leben von nun an ein trauriges sein sollte. Sie würde auch die kommenden Jahre keinen Versuch mehr unternehmen, etwas daran zu ändern. Mir tat Nadine leid, die sich nicht damit abfinden wollte, dass ihr Leben von nun an ein trauriges sein sollte, und die kommenden Jahre jeden möglichen Versuch unternahm, etwas daran zu ändern. Ich selbst tat mir nicht leid.

Papa hat immer gesagt, Leute, die sich selbst leidtun, sind erbärmlich, würde ich einige Wochen später zu Angelica sagen.

Quatsch, würde Angelica daraufhin antworten und verärgert an ihrer Zigarette ziehen. Aber dazu kommen wir noch.


Wie hat so ein erster Tag an einer neuen Schule auszusehen? Hat man genügend Highschoolfilme aus Hollywood gesehen, dann weiß man, dass eigentlich dazugehört, verschüchtert grinsend neben der Lehrerin zu stehen, während fies aussehende 32-Jährige, die Teenager spielen, kichern und sich Dinge ins Ohr flüstern. Gut kommt natürlich auch immer eine Szene, in der die neue Schülerin an einen Tisch beordert wird und die Person auf dem Platz daneben mit übertrieben angewidertem Gesichtsausdruck wegrückt. Dann mit Tablett in die riesige Mensa, sich von den 32-Jährigen mit einem Pudding bewerfen lassen, bevor man sich wahlweise allein am Ende eines Tisches niederlässt oder von zwei Teenagern, die dank ihres ausgefallenen Styles für die Zuschauerinnen sofort als Nerds erkenn- und einordbar sind, zu sich gewunken wird. Diese beiden Teenager sind von diesem Moment an die Day Ones, die absoluten Foreverfriends, oh mein Gott, dass wir uns gefunden haben! Es muss Schicksal gewesen sein! Die Freude währt meist jedoch nur so lange, bis die Protagonistin es doch schafft, die Aufmerksamkeit der coolen Kids auf sich zu lenken und sich ab sofort und ohne mit der Wimper zu zucken ihnen zuwendet. Ach, die Highschool.

Aber ich war an keiner kalifornischen Highschool, sondern an irgendeinem Nullachtfuffzehn-Gymnasium in Dortmund-Hombruch. Fast das Gleiche. In meinem Fall die bessere Alternative, denn so stand ich zwar einigermaßen verschüchtert neben der Lehrerin, aber blickte nicht in die perfekt geschminkten Gesichter 32-jähriger Teenager, sondern sah eine recht desinteressierte Klasse, die in einem Raum mit schmutzig grauem PVC-Boden hockte, zwischen Wänden, an denen bunte Plakate hingen. Offenbar war es im Unterricht kürzlich um Ökosysteme und Naturschutz gegangen, ich sah auf den Plakaten mit Edding aufgemalte Zeichnungen von Stoffkreisläufen, die mir vage bekannt vorkamen. Irgendjemand war besonders eifrig gewesen und hatte mit blau gefärbter Watte einen Teich auf weißem Tonpapier dargestellt. Im Teich ›schwamm‹ echter Müll, Strohhalme, Bonbonpapier, so was eben. Ohne sie wirklich zu kennen, war ich mir sicher, dass Lehrerin Meinke bei so einer kreativen Ausarbeitung vor Verzückung ganz aus dem Häuschen geriet und es dafür – ungeachtet der inhaltlichen Korrektheit – mindestens eine 2+ gegeben hatte.

Während Frau Meinke neben mir Eckdaten aus meiner Biografie runterratterte und etwas von guter Klassengemeinschaft schwafelte, ließ ich den Blick vorsichtig über die Klasse schweifen und sah, wie Jannik Polzke seinen Kaugummi langsam aus dem Mund zog und ihn seitlich ans Tischbein schmierte, und ich sah, wie sich Sofie Rybka mit gelangweiltem Gesichtsausdruck halb unter den Tisch lehnte und zwei große Sprühstöße Deo aus einer pinken Flasche unter ihre Achseln schoss. Im Sonnenlicht, das durch die schmutzigen Fenster zu ihrer Rechten hindurchdrang, sah man, wie sich der Deonebel in einer riesigen Wolke um sie herum ausbreitete. Alexander Kehlbach, der eine Reihe hinter Sofie saß, begann, übertrieben zu husten und Würgegeräusche vorzutäuschen.

Die Namen meiner Mitschüler wusste ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht, aber ich will es für die Erzählung ein bisschen einfacher machen. Gern geschehen.

» … und die Katharina ist gerade hergezogen, sie wird ab heute Teil der Klasse sein, und ich möchte bitte, dass ihr – VERDAMMTE AXT, SOFIE! WAS STEHT IN DEN KLASSENREGELN? DA HABT IHR ALLE DRAUF UNTERSCHRIEBEN, KEIN DEO IM KLASSENRAUM, WIE OFT NOCH?«

Ich ließ mich in der dritten Reihe neben einem Mädchen mit langen dunkelbraunen Haaren nieder. Ihre Haare waren so voll und lockig, dass ich sie im folgenden Sommer immer wieder leicht kitzelnd auf meinem nackten Arm spüren sollte. Ihre kleine Nase machte einen Schwung nach oben, sodass man sie für die perfekte Skisprungschanze hätte halten können. Sie schob ihr Arbeitsheft in die Mitte des Tisches, und beim Aufschlagen konnte ich für eine Sekunde den Namen »Ekaterini Dimitriou« lesen, bevor sie zur Seite mit den Hausaufgaben von gestern umblätterte und mich ihre Ergebnisse mitlesen ließ. Sie grinste mich von der Seite an. Ich grinste zurück. Das war sie also, meine neue beste Freundin. Das Schicksal hatte uns an diesem vollgekritzelten Tisch zusammengebracht, und da ich passive Fügungen mochte, die Unkompliziertheit und Einfachheit dieser Situation genoss, ließ ich mich hineinfallen, so wie in den Rest meines Lebens. Nicht locker und spontan, sondern bewegungslos und schicksalsergeben, so wie es alle erwarteten, so wie es allen am liebsten war. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass ein zufriedenes Lächeln auf Frau Meinkes Gesicht getreten war, als Ekaterini Dimitriou und Katharina Lange sich einander zugewandt hatten. Glückliche Ekaterini, glückliche Frau Meinke, perfekt! Ich war erst eine halbe Stunde an der neuen Schule, aber ich war schon jetzt in meinem Element, ich war ein Chamäleon, und ich hatte blitzschnell erkannt, welche Farbe hier gerade nötig war. Und die Farbe »unsichtbar« war besonders beliebt in meinem Repertoire.

»Gut, dass dein Spitzname Katha ist und nicht Kati, so heiße ich nämlich schon«, war der erste Satz, den Ekaterini-Kati zu mir sagte. In der kurzen Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden hatte ich mich ihr zuvor als Katha vorgestellt. Sie grinste, aber ich wusste, dass es ihr ernst war. Zwei Katis, das wäre ein Problem gewesen, aber ich machte keine Probleme, nie. Das wusste sie nur noch nicht.

Als es dann gut sechzig Minuten später zur großen Pause klingelte, geriet mein Anspruch von Reibungslosigkeit kurz ins Wanken. Irgendetwas musste zwischen die Zahnräder geraten sein, vielleicht nur ein winziges Sandkorn, es konnte einfach kein ganzer Kieselstein sein, da war ich mir sicher. Trotzdem knarrten die Zahnräder leicht, quietschten unangenehm und hielten schließlich an. Ein schiefes Gefühl durchzog meinen Körper, als alle anderen nach dem Klingeln zur Tür herausschossen. Frau Meinkes »Der Lehrer beendet die Stunde« ging im allgemeinen Stühlerücken unter, und ich blieb ein wenig verloren im Klassenraum zurück.

Frau Meinkes Blick streifte mich kurz, und sie schien zu überlegen, ob ich ein paar aufmunternde Worte gebrauchen konnte, doch entschied sich dagegen. Sie klimperte nur mit dem Schlüssel, um mir zu bedeuten, dass sie hinter mir abschließen wollte. Also griff ich nach meiner Jeansjacke und trottete an ihr vorbei. Im Flur nickte sie mir kurz zu, offenbar die Light-Version der ermutigenden Worte, und rauschte dann Richtung Lehrerzimmer davon. Gut, also raus mit mir auf den Schulhof.

Erste große Pause in Dortmund-Hombruch, 10:45 Uhr, Ende Mai, 22 Grad mit Tendenz nach oben, sonnig. Ein Schulhof, wie er im Buche steht. Viel Beton, ein einzelnes Klettergerüst, für das sich alle ab der 6. Klasse zu cool waren, kaum Sitzmöglichkeiten, wild durcheinander krakeelende Kinder und Jugendliche, ein Lehrer in Karohemd und beiger Weste, der sich die Rente herbeisehnte. Eine offene Tür zur Cafeteria, durch die Schüler ausgestattet mit weißen Brottüten, in denen sich trockene Laugenstangen und Schokokussbrötchen befanden, herausströmten. Eine Linde, die dünn und traurig inmitten eines Stückchens Erde stand und die sich in ihrer betonierten Umgebung zwangsläufig einsam fühlen musste. Ein etwa 13-jähriger Junge, mit Sicherheit noch Jungfrau, der seinen Freunden zuwinkte und sich dann hinter ein Mädchen mit blonden Haaren stellte, um so zu tun, als würde er sie von hinten nehmen. Die ersten zarten Knospen heterosexueller Annäherung, süß.

»Katha, hier!«, rief Ekaterini-Kati, als ich den überdachten Hinterausgang, meinen Beobachtungsposten, verließ und hinaus auf den Schulhof trat. Sie stand mit Deo-Sofie und zwei anderen Mädchen aus meiner Klasse an der Wand der angrenzenden Sporthalle und winkte mir fröhlich zu. Die Zahnräder setzten sich ächzend wieder in Bewegung.

Ich lief auf die Gruppe zu.

Ganz ruhig bleiben.

»Hey!«

»Kommste mit rauchen? Wir gehen hinter die Halle, heute hat nur der Winkelmann Aufsicht, der rafft das eh nicht.«

»Klar.«

An meiner alten Schule rauchte ich auch hin und wieder, aber es war kompliziert gewesen. Schließlich wären meine Eltern an die Decke gegangen, wenn sie was davon mitbekommen hätten. Manchmal kollidierten meine Anstrengungen, in verschiedenen Bereichen bestmögliche Angepasstheit zu erreichen, in der Realität miteinander, wie etwa bei der Rauch-Thematik.

Sich ins Konstrukt gleichaltriger Strukturen einzufügen hieß: mitzurauchen. Sich im familiären Konstrukt als unproblematische Tochter zu präsentieren hätte bedeutet: nicht zu rauchen. Wrigleys-Doublemint-Kaugummis, Vanilla-Kisses-Deo und exzessives Händewaschen hatten mir jedoch stets dabei geholfen, beides in Einklang zu bringen.

Ich folgte Ekaterini-Kati, Deo-Sofie und den anderen hinter die Büsche neben der Sporthalle. In einer seltsamen Gänsemarsch-Formation staksten wir über Gestrüpp hinweg, in dem zerdrückte Dosen, silbernes Kaugummipapier und anderer Müll lagen, bis zum hinteren Ende der Halle. Auf der Rückseite der Sporthalle gab es weniger Gestrüpp, hier war ein langer Grünstreifen mit hohem Gras, das wohl in unregelmäßigen Abständen vom Hausmeister davon abgehalten würde, sich ebenfalls in kaum zu durchdringendes Gestrüpp zu verwandeln. Zur einen Seite des Streifens lag die Sporthalle, auf seiner anderen Seite befand sich ein Zaun aus Draht, hinter dem hohe Büsche und einige Bäume mit schmalem Stamm standen. Durch die Blätter konnte ich in der Ferne ganz vage die Bushaltestelle erkennen, an der ich heute Morgen ausgestiegen war. Es war der ideale Ort.

Sofie ließ sich auf ein paar übereinandergestapelten Holzbrettern nieder, und Kati hockte sich breitbeinig auf einen umgedrehten schmutzigen Eimer, während das Mädchen mit den kürzeren braunen Haaren sich im Schneidersitz ins Gras sinken ließ und die Dunkelblonde ihren Rücken gegen den Drahtzaun drückte. Ich knickte ein Bein ein und lehnte die Schulter gegen die kühle Wand der Sporthalle. Das Standbild war fertig.

»Hast du selber Kippen, oder brauchst du … und äh, wie heißt du noch mal?«, sagte die Dunkelblonde und sah mich fragend über ihre geöffnete Kippenschachtel hinweg an.

»Heut hab ich keine dabei, ich bin Katha … und ihr?«, antwortete ich und streckte die Hand nach der Schachtel aus.

»Habt ihr euch etwa gar nicht vorgestellt? Oh mein Gott, wie unhöflich ihr einfach seid«, kreischte Sofie, klang dabei allerdings gar nicht so, als fände sie es unhöflich. Vielmehr schien es sie ungemein zu erheitern, dass mir bislang wertvolle Informationen vorenthalten worden waren.

»Hab ich halt irgendwie voll vergessen, ich bin Anna«, sagte das Mädchen mit dem braunen Bob, das in der Klasse direkt hinter Alex Kehlbach und Dennis Krawczyk saß, dritte Reihe von vorne, gleichauf mit mir, nur getrennt durch eine Lücke zwischen den Tischen und Katis wunderbare Locken.

Die Dunkelblonde meinte:

»Jessi!«

Ich lächelte.

So weit, so gut, so langweilig.

»Boah, okay, das hätten wir«, meinte Sofie genervt, als wäre diese kurze Vorstellung die anstrengendste Unterhaltung gewesen, der sie jemals beigewohnt hatte. Sie wandte sich mir zu, nun hatte sie eine große Schippe Gleichgültigkeit über ihrer Stimme ausgeleert: »Und, wo warst du vorher?«

Dass Frau Meinke meinen bisherigen Werdegang vor zehn Minuten lang und breit erörtert hatte und dies aber vermutlich durch die Deowolke nicht zu ihr habe durchdringen können, behielt ich für mich. Stattdessen sagte ich:

»Bad Driburg, das ist zwischen Paderborn und Kassel, mein Vater kommt daher, aber jetzt haben meine Eltern sich scheiden lassen, und meine Mutter wollte zurück nach Dortmund, weil sie von hier is’ … joa.«

Recht mechanisch spulte ich das Ganze ab, als wäre diese bis dato einschneidendste Lebensveränderung nichts weiter als ein einzelner umgeknickter Grashalm auf einer ansonsten imposant aufragenden Almwiese.

Auch Sofie gab sich große Mühe, den Riss in meiner Biografie und meine Position als die Neue so klein und unbedeutend wie nur eben möglich zu halten.

Ihr »Ah ja, Bad Driburg, noch nie gehört« signalisierte sowohl mir als auch den anderen, dass nichts an mir besonders spannend war, Nachfragen folglich nicht nötig, ich aber vorerst geduldet wurde.

Ich nahm ihr diese Reaktion nicht übel, schließlich durfte man im Alter zwischen zwölf und achtzehn wirkliche Hingabe nur für neue Deosorten, blamable Entgleisungen von Mitschülern, Kaugummis und ausgewählte Jungs offenbaren, alles andere wurde mit Gleichgültigkeit aufgenommen, insbesondere, wenn man in einer Gruppe unterwegs war. Im Zweierkontakt gab es manchmal Ausbrüche aus der Gleichgültigkeit, für die man sich allerdings hinterher schämte und nie wieder darüber sprach.

Im folgenden Herbst würden Ekaterini-Kati und ich in einem schwachen Moment unsere gemeinsame Begeisterung für Formel 1 entdecken, einen wunderbaren, sorglosen Abend lang nur darüber sinnieren, ob nun Michael Schumacher oder Mika Häkkinen der bessere Fahrer war, uns leidenschaftlich darüber auslassen, wie schrecklich wir Frentzen und Coulthard fanden, heimlich bis zwei Uhr nachts die von Katis Vater auf Videokassette aufgezeichneten Rennen anschauen, dabei am Ende der Aufnahme über eine kurze, nicht komplett überspielte Szene stolpern, in der Katis Vater in Unterhose aus einem zerwühlten Bett aufstand, und am folgenden Montag in der Schule so tun, als hätte das alles nie stattgefunden. Nicht auszudenken, wenn Sofie davon erfahren hätte. Wir wären erledigt gewesen.

Mir war bereits in dieser ersten gemeinsamen Raucherpause hinter der Sporthalle klar geworden, dass ich Sofie nicht besonders mochte und dies auch so bleiben würde. Das war in Ordnung. Manchmal kam es jedoch vor, und das war recht seltsam, dass ich unbedingt wollte, dass mich Leute mochten, die mir selbst unsympathisch waren. Und so schenkte ich Sofie das aufrichtigste Lächeln, zu dem ich imstande war.

Sie war ein Mädchen, das es nicht gewohnt war, dass andere ihr widersprachen. Das sah man sofort. Trotz dieser Klarheit und eines leichten Kribbelns, das mir durch den Kopf und weiter bis in die Fingerspitzen schlich und das flüsterte, wie einfach dieses Gefüge hier aus dem Konzept zu bringen war, ließ ich es bleiben und setzte mich selbst wie das fehlende Puzzleteil, das bis kurz vor Schluss unbemerkt in der Packung gelegen hatte, in die Gruppe ein.


Nadine schlug ihre Zimmertür so heftig in den Rahmen, dass die Tür vor lauter Wucht umgehend wieder aufflog.

»Ich hasse diese beschissene große hässliche Kackstadt«, schrie sie, stampfte quer durch unser gemeinsames Zimmer, trat gegen noch verpackte Kartons, hob wahllos Gegenstände vom Boden auf und warf sie gegen die Wand.

Mit einer Mischung aus Faszination und Sorge sah ich einem kleinen Unwetter bei der Arbeit zu. Verwüstung war das vorrangige Ziel, Verzweiflung der Motor. Ich sah, wie einige meiner persönlichen Dinge mit einem bedrohlichen Krachen gegen die Wand schleuderten. Für mich war das aushaltbar.

An Nadines erstem Schultag hatte offenbar etwas Größeres zwischen den Zahnrädern geklemmt. Darunter litten nun Bücher, Stifte, Radiergummis, Stofftiere, Hörspielkassetten, Nagellackfläschchen, T-Shirts, Socken und Taschen. Sie alle fanden, von Nadine mit aller Härte geschleudert, einen neuen, temporären Platz in unserem Zimmer. Mittendrin meine Schwester, riesengroß und winzig klein, die strohblonden Haare, die so viel heller waren als meine oder die unserer Mutter, elektrisch aufgeladen, das etwas zu große weiße Shirt mit dem Paillettenherz, das ich ihr vermacht hatte, hing halb über ihrer Schulter.

Nach einer Weile waren alle leichteren Gegenstände bewegt worden. Ein Hauch von Wahnsinn trat in Nadines Blick, und als dieser schließlich auf die schweren Kartons fiel, entschied ich mich, zwischen die Zahnräder zu pusten.

»Dini, was ist denn passiert?«, fragte ich mit lauter Stimme, um sie zurückzuholen. Sie hielt inne, offenbar hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu erzählen und dem Drang nach weiterer Zerstörung. Sie stand da, die Zerrissenheit hielt sie fest. Während sie regungslos mitten im Zimmer verharrte, existierte eben dieses um sie herum weiter, still und starr – wie der See im Weihnachtslied – und wartete darauf, weiter auseinandergenommen zu werden. Ein schmaler Schrank, der durch das Auseinander- und Wiederaufbauen recht schief dastand, eine Kommode, zwei Betten, jeweils neunzig Zentimeter breit, angeschmiegt an die vom Vormieter recht lieblos weiß angepinselten Wände – sie alle hielten den Atem an, genau wie der Schreibtisch, zwei kleine Nachttische, ein schiefes Poster der Big-Brother -Kandidaten über Nadines Bett, ein beinahe gerade aufgehängtes Poster von Bro’sis auf meiner Seite und eben viel Unausgepacktes in großen Kartons. Die bereits benannten Gegenstände lagen kreuz und quer verstreut, erschienen durch die offensichtliche Deplatzierung greller und dynamischer als der Rest des Zimmers.

Nach einigen stillen Sekunden sprudelte es aus Nadine heraus. Sie war leicht außer Atem, und so verstand ich nur die Hälfte ihrer aufgeregten Erzählung, in der eine Bahn vorkam, die in die falsche Richtung fuhr, eine Nadine, die zu spät zu ihrem ersten Schultag kam, und ein Jerome, der »unbedingt auf die Fresse haben wollte«.

Gerade als ich den Mund öffnete, um etwas zu sagen, klingelte das Festnetztelefon im Flur. Einer seltsamen Vorahnung folgend, hob ich den Hörer ab und meldete mich nicht mit Vor- und Nachnamen, wie ich es sonst tat, sondern sagte nur knapp: »Lange.«

»Ja, guten Tag, Frau Lange, wie schön, dass ich Sie erreiche, Bornkemann hier, die Klassenlehrerin von Nadine.«

Ich schaltete augenblicklich.

»Ach, Frau Bornkemann, wie schön, dass Sie sich melden, ich habe es eben gehört«, meine Stimme war ein muttermäßiges Zwitschern.

In den nächsten zwei Minuten arbeitete ich mit vielen Hmmhs und Ach Gottchens. Oft genug hatte ich meiner Mutter bei Telefongesprächen zugehört, sie beobachtet, wie sie dastand, die Arme verschränkt, den Hörer zwischen Wange und Schulter geklemmt, ab und zu Wechsel des Hörers auf die andere Seite, ihre Stimme immer ein wenig atemloser, schneller, eifriger als in persönlichen Gesprächen. Nun zahlte sich die jahrelange theoretische Ausbildung aus. Ich imitierte alles perfekt, lief während des Gesprächs sogar in die Küche, um Lebensmittel fürs Kochen bereitzulegen, den Hörer zwischen Wange und Schulter, Gefrierfach auf, ein bekräftigendes Hmmh, Gefrierfach wieder zu. Am liebsten hätte ich mir eine Schürze umgebunden, um die Inszenierung perfekt zu machen. Nadine schlich derweil mit großen Augen um mich herum.

Ich zwinkerte ihr zu, denn nun war es Zeit für das große Finale.

»Ja, wissen Sie, Frau Bornkemann, das ist ja alles keine einfache Situation momentan, gerade für Nadine ist es sehr schwer.«

Mit wohligem, siegessicherem Gefühl hörte ich, wie Nadines Lehrerin den Köder schluckte. Noch zwei, drei weitere Hmmhs, und es war vorbei.

»Was wollte die?«, rief Nadine in der Sekunde, in der ich aufgelegt hatte.

»Na, was wohl?«, fragte ich zurück.

Nadine schnaubte.

»Ist alles geregelt.«

»Ich geh da trotzdem nicht mehr hin«, meine Schwester trat gegen den Türrahmen und polterte fersenlastig zurück in unser Zimmer.

Ich sah ihr nach. Wie unterschiedlich unser Tag verlaufen war, faszinierte mich. Nadine wollte kein fehlendes Puzzleteil sein, sie fügte sich nirgendwo sang- und klanglos ein. Sie gab sich nicht mit Bestehendem zufrieden, sondern wollte mitbestimmen, präsent und sichtbar sein, im Zentrum stehen, gegen jede Ungerechtigkeit kämpfen, die ihr zustieß. Manchmal dachte ich darüber nach, wie es sein konnte, dass wir beide aus demselben widerlichen Ei-Samen-Gemisch entstanden waren und neun Monate im gleichen Uterus verbracht hatten. Da war es doch seltsam, dass wir so unterschiedlich waren. Andererseits hatte ich sie in meiner Funktion als Lebenshandwerkerin, als dritter Elternteil, wie eine kleine schreckliche Einzelkind-Prinzessin verwöhnt, und das war nun wohl das Ergebnis – ein fantastisches Ergebnis, wie ich fand. Ich liebte Nadines Dramatik.

Während der Ofen vorheizte, gab ich Nadine Zeit zum Abkühlen. Fünf Minuten würden reichen. Ich lehnte mich gegen die Wand neben dem Mülleimer und schloss für einen Moment die Augen. Die neue Wohnung bestand aus einer schlauchigen Küche mit einer Küchenzeile aus billigem Holz und einem winzigen Tisch, eine von vier Seiten an der Wand, an den anderen dreien jeweils ein Stuhl, kein Platz für weitere Leute; einem quadratischen Flur, von dem alle anderen Zimmer abgingen; einem Wohnzimmer, aktuell noch voller Kisten und Gegenstände, die mitgeschleppt worden waren, obwohl niemand sie brauchte; dem kleinen Schlafzimmer meiner Mutter und unserem Zimmer.

Irgendwie war hier alles sehr nah beieinander, fand ich.

Das Reihenhaus, in dem wir in Bad Driburg gelebt hatten, war auch nicht sonderlich groß gewesen, dennoch hatte es durch den kleinen Garten und die Aufteilung in obere und untere Etage mehr Rückzugsräume gegeben. In der neuen Wohnung gab es keine Verstecke, das gefiel mir nicht. Wenn ich Mutter oder Schwester nicht gerade sah, hörte ich sie. Nadines Fersen auf dem PVC, meine Mutter am Telefon, die Klospülung, das Öffnen des Kühlschranks, immer war ihre Präsenz spürbar. Noch schlimmer war, dass auch ich mehr oder weniger sicht- und hörbar war. Ständig. Permanent ansprech- und bespielbar für Mutter und Schwester. Natürlich sagte ich nichts zu meiner Mutter, natürlich ließ ich meine Schwester nichts davon merken. Die Umstände waren, wie sie waren. Ich war eine Lebenshandwerkerin, aber ich konnte keine Mauern einreißen, keine Räume ausdehnen. Trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass sich jetzt, während ich so dastand, ein empfindliches Gefühl des Mit-dem-Rücken-zur-Wand-Stehens, das mich seit dem Umzug in die neue Wohnung ab und an beschlich, unangenehm in mir ausbreitete. Meine Schulter zuckte nach hinten, als hätte sich eine Fliege mit kitzelnden Beinchen auf ihr niedergelassen, ich rieb mir hastig mit beiden Händen über die Arme in der Hoffnung, ich könnte das Gefühl auf dem Fliesenboden der Küche zurücklassen.

Schnell raus hier. Doch in zwei, drei Schritten war ich bereits an der Tür unseres Kinderzimmers, das unerwünschte Gefühl dicht hinter mir, und mit der Erkenntnis, nach so wenigen Schritten bereits alle räumlich verändernden Möglichkeiten genutzt zu haben, kam es nun auch von vorne auf mich zu, als hätte es sich von selbst vervielfältigt.

Also nahm ich es.

Ich hatte keine andere Wahl. Aber ich drückte von beiden Seiten gegen das Gefühl, quetschte es zusammen wie eine leere Aludose und verpackte es irgendwo in den Tiefen meines Magens. Ein münzgroßes Stück Aluminium mit scharfen Kanten, das hart in meiner oberen Magengegend feststeckte, irgendwo unter den Rippen. Dass mir das irgendwann noch Probleme bereiten sollte, war mehr als offensichtlich, ich weiß. Doch da es nur beim Atmen wehtat, und das ging ja noch, war Verdrängung, wie für so vieles andere, die meiner Ansicht nach beste Option. Außerdem gab es da noch ein Unwetter, das beruhigt werden musste.

»Ich mach jetzt was zu essen. Vergiss die Idioten, Dini, nächste Woche haben die das vergessen«, rief ich ins Zimmer hinein, »und fütter mal Zlatko, sonst macht der’s nicht mehr lange!«

Nadine, auf dem Bett liegend, stöhnte theatralisch, rollte sich schwerfällig von der Bettkante und ging hinüber zu einem kleinen Käfig aus weißem Metall, der auf unserer Kommode stand. Darin rannte unser Hamster in seinem Rad gerade einem unbekannten Ziel entgegen, das er niemals erreichen würde.

»Das ist alles ihre Schuld«, nuschelte sie im Gehen.

Ihre Schuld.

Ich wusste natürlich, wen sie meinte. Nadine gab meiner Mutter die Schuld für alles, was in den letzten Wochen und Monaten schiefging oder grundsätzlich passierte. Glücklicherweise war sie auf unseren Vater gleichermaßen wütend, sodass es kein antifeministischer Zorn war. Mein Vater hatte den großen Vorteil, dass er durch seine räumliche Abwesenheit Nadines Wut seltener zu spüren bekam. Er sollte nicht der erste und nicht der letzte Vater gewesen sein, der durch sein Fehlen dem berechtigten Unmut seiner Kinder entging. Wer nicht da war, musste nicht argumentieren, sich keinen Konflikten stellen und ganz grundsätzlich gar nicht sehen, was er angerichtet hatte. Wer nicht da war, hatte durch ebendieses Nicht-da-Sein immer eine hervorragende Ausrede. Wer nicht da war, war nicht verantwortlich und konnte keine weiteren Fehler machen, außer eben diesen einen großen der Abwesenheit. Ich glaube schon, dass mein Vater immerhin ein leichtes, stetiges Gefühl von schlechtem Gewissen verspürte, zumindest eine Zeit lang. Als wir aber dann während seiner Besuche nicht gewillt waren, dieses nagende Gefühl in ihm mit Fröhlichkeit und unendlicher Dankbarkeit für die seinerseits geopferten drei bis vier Stunden zu mindern, schien sein Bestreben nach zeitlich begrenzter familiärer Harmonie nachzulassen. Ich denke gerne an einen Nachmittag im Spätsommer zurück, als mein Vater uns, begleitet von seiner neuen Lebensgefährtin, zu einem Ausflug abholte und Nadine sich so herrlich danebenbenahm, dass mir zwar einerseits ganz warm ums Herz wurde bei diesem Schauspiel, und ich andererseits wie eine Ertrinkende strampelte, um den Nachmittag zu retten. Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass es dieser Nachmittag war, an dem meinem Vater aufging, dass die Existenz seiner zwei Töchter für sein neues Leben eher hinderlich als bereichernd war. Aber auch dazu kommen wir noch.

Zunächst muss man fairerweise anfügen, dass Nadine im Recht war, was unsere Mutter anging, denn diese hatte sich in den vergangenen Monaten tatsächlich nicht mit elterlichem Ruhm bekleckert, so empfand ich es zumindest. Vergangene Woche – wenige Tage nach dem großen, physischen Umzug – waren wir die Schulwege zu dritt abgefahren. Während ich mit dem Bus zur Schule fuhr, konnte man Nadines Grundschule schneller und unkomplizierter mit der Stadtbahn erreichen, es waren nur zwei Stationen. Im Prinzip hätte sie auch laufen können, die Entfernungen innerhalb Hombruchs hielten sich in Grenzen, aber ich glaube, es war so ein Erziehungsding meiner Mutter und hatte das Ziel, Nadine mit dem öffentlichen Nahverkehr vertraut zu machen. Zu dritt also die Treppen hoch, hier lief noch alles oberirdisch ab, meine Mutter richtete den Zeigefinger auf die Anzeigetafel, morgens jene Richtung, nachmittags jene andere Richtung, daneben Nadine, die Arme verschränkt, mal wieder viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Ärger über all ihr Leid mit jeder Pore auszustrahlen. Hast du das verstanden? Ja! Wirklich? Ja doch!

Ich ahnte in diesem Moment, dass Nadine nichts verstanden hatte. Viel besser als meine Mutter konnte ich schon immer Nadines Mimik, Gesten und Verhalten deuten, damals hielt ich es für eine besondere Gabe, heute denke ich, dass es sich wohl einfach um schlichte Aufmerksamkeit für die Zeichen meiner kleinen Schwester handelte, zu der meine Mutter in ihrer erwachsenen Hektik gar nicht fähig war. Jedenfalls spürte ich, dass Nadine mit ihren Gedanken ganz woanders war – bei dem bevorstehenden Gespräch mit der neuen Lehrerin, das an diesem Tag noch anstand, bei dem großen Hund, der einige Meter entfernt kauerte und uns anstarrte, an einem Ort, von dem ich nichts wusste –, keine Ahnung, aber ganz sicher nicht bei den Anzeigetafeln über uns.

Natürlich gab ich mir dann, als Nadine von ihrem schrecklichen Tag erzählte, auch eine Teilschuld an der Misere. Ich hätte vermitteln müssen, darauf beharren, dass Nadine noch einmal richtig hinsah, sich beide Richtungen merkte, meiner Mutter sagen, dass sie es für Nadine aufschreiben sollte. Und so antwortete ich auf ihre Schuldzuweisung nur recht vage:

»Hm, na ja …«

»Sie hätte mich hinbringen sollen.«

»Ja, vermutlich schon …«

»Wir hätten gar nicht erst umziehen sollen.«

»Stimmt.«

»Ich hasse diese beschissene, große, hässliche Kackstadt.«

»Das hast du schon gesagt.«

»Und ich sag’s noch tausend Mal!«

»Na hoffentlich!«

Ein kleines Lächeln offenbarte einen Mix aus wackeligen Milchzähnen, einer Lücke und zwei leicht schiefen, bleibenden Zähnen.

Ich erwiderte das schwache Lächeln meiner Schwester, dann fiel mir der Ofen wieder ein, der die berühmte Zweihundert-Grad-Marke wohl längst erreicht hatte. Meine Socken erlaubten mir eine schnelle Drehung, und schon rutschte ich zurück durch den Flur.

»Vielen herzlichen Dank, ihr Fotzköpfe«, brüllte Nadine mir hinterher.

»Vielen herzlichen Daaahaaaank, ihr Fotzköpfe«, antwortete ich noch lauter.

Nadine war verzückt von dieser Formulierung, seit der echte Big-Brother -Zlatko das pfeifende Publikum bei einem Fernsehauftritt auf diese Weise angeschrien hatte. Für uns bedeutete der Satz mittlerweile etwa so viel wie »Hab dich lieb«, wobei es auch »Was für ’ne beschissene Kacke!« und im Prinzip irgendwie alles heißen konnte. Hauptsache, wir hatten die Chance, es so oft wie möglich zu sagen.


In der Küche warf ich einen Beutel mit Tiefkühlgemüse in eine Pfanne und legte gefrorene Kroketten aufs Ofenblech. Die Schwierigkeit würde später darin bestehen, alles so aussehen zu lassen, dass Nadine zumindest einige Gabeln davon aß, der Trick dabei war, insbesondere das Gemüse so sehr mit Ketchup und geriebenem Parmesan aus der Tüte zu beladen, dass es im Prinzip egal war, was sich darunter befand. Während ich in der Küche hantierte und eine erwachsene Idee von mir selbst nachahmte, dachte ich darüber nach, wie die anderen aus meiner Schule wohl ihren Nachmittag verbrachten.

Ekaterini-Kati hatte mir erzählt, dass ihre Eltern ein Restaurant am Rande der Innenstadt betrieben. Vielleicht war sie dort. Sofie tat sicher irgendwas wahnsinnig Cooles. Ich stellte sie mir als eine etwas abgefucktere Version von Cher aus Clueless vor. Der Idee meines TV-beeinflussten Gehirns nach lebte sie genau wie Alicia Silverstones Paraderolle in einer prunkvollen Villa und rutschte auf Matratzen riesige Marmortreppen hinab. Sicher waren Jessi und Anna, vielleicht doch auch Kati, dorthin eingeladen und wirbelten mit Federboas und Sonnenbrillen durch das riesige Haus.

Die Eieruhr, die ich für die Kroketten gestellt hatte, gab den vertrauten, schrillenden Ton von sich und riss mich aus meinen Gedanken, das wässrige Tiefkühlgemüse war eh längst fertig, in jeglicher Hinsicht.

Während ich alles auf Teller lud, brüllte ich einige Male Nadines Namen – keine Reaktion. Seufzend rutschte ich auf Socken hinaus aus der gekachelten Küche und hinüber auf den PVC-Boden des Flurs, die Kante war niedrig, Sliden ging daher gut. Wie eine Inline-Skaterin, wischender Fuß nach links, wischender Fuß nach rechts, schlug ich mich vor bis zur verschlossenen Tür unseres Zimmers und öffnete sie sachte.

Nadine lag ausgestreckt auf dem Rücken in unserem Zimmer und starrte an die Decke. Aus den Boxen des silbernen Grundig-CD-Players drang blechern »Bring me to life« von Evanescence , sie hatte sich offenbar mit einem Kajal unserer Mutter die Augen schwarz umrandet. So lag sie da, theatralisch, völlig eins mit ihrem Schmerz. Ihrer Zeit, ihrer Pubertät einen gnadenlosen Schritt voraus, im kompletten Bewusstsein der weltlichen Ungerechtigkeit. Im Türrahmen lehnend, dachte ich: die perfekte Romanfigur. Ganz im Gegensatz zu mir.


Am Montag rauchten wir das erste Mal hinter der Sporthalle zusammen, und bereits am Donnerstag kam es mir so vor, als wäre es nie anders gewesen. Sofies Clique bestand nicht länger aus vier Mädchen, wir waren nun fünf. Ich wusste es, die Klasse wusste es, sogar Frau Meinke wusste es, und damit war es wohl offiziell. Die anderen Mädchen interessierten uns nicht weiter, die Jungs im Grunde auch nicht, außer Sofie entschied, dass uns einer zu interessieren hatte. Mit Alexander Kehlbach hatte sie allerdings erst vergangene Woche Schluss gemacht, wie mir Kati verriet. Der interessierte uns alle also mal so gar nicht.

So groß und schön die neue Freundschaft in der Schule blühte, so war sie doch bisher auf diese beschränkt geblieben. Jeden Nachmittag wurde sich mit großem Trara am Schultor verabschiedet, viele Küsse, viel Geschmatze, ein wenig Gekreische, und ich ging allein meines Weges. Am Donnerstag in der großen Pause entschied ich, dass es an der Zeit war, einen mutigen Vorstoß zu wagen.

Meine Mutter würde wie jeden Tag erst am späten Nachmittag oder frühen Abend nach Hause kommen. Schon in Bad Driburg hatte sie als Verkäuferin in einer Parfümerie gearbeitet und war nun mit dem Umzug in eine Filiale in der Dortmunder Innenstadt gewechselt. Sie war die Art von Parfümerie-Mitarbeiterin, die sich die teuren Kosmetika und Düfte selbst nur wegen des Mitarbeiter-Rabatts leisten konnte und dennoch auf Kundinnen herabsah, die stirnrunzelnd die Preise betrachteten oder denen sie aufgrund von Äußerlichkeiten unterstellte, keine Ahnung von Kosmetikprodukten zu haben.

Meine Mutter legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, das Haus ungeschminkt zu verlassen, dezent, versteht sich, oder in Jogginghose einkaufen zu gehen. Derartige Ausfälle waren nichts für Andrea Lange. Diesen Anspruch stellte sie nicht nur an sich selbst, sondern auch an uns Kinder. Dass wir ordentlich aussahen, galt schon immer als das höchste Gebot im Hause Lange.

Und wenn in dieser Familie schon alle so schrecklich traurig waren, dann konnte man sich doch immerhin Mühe geben, dass die Außenwelt nichts davon mitbekam. Nadine tat selbstredend ihr Bestes, meiner Mutter dieses Unterfangen so schwierig wie möglich zu machen.

Apropos Nadine, die war donnerstags in der Hausaufgabenbetreuung. Somit verlangten weder Mutter noch Schwester heute nach den Gratisleistungen der Lebenshandwerkerin. Im familiären Gefüge konnte ich mit meiner Abwesenheit also keinen Schaden anrichten.

Die Bedingungen waren optimal. Es musste jetzt sein.

So lässig und gleichgültig wie möglich würde ich mein Anliegen vorbringen. Nicht auszudenken, jemand käme auf die Idee, es wäre mir wichtig.

Wir hockten wie üblich – nach vier Tagen konnte man von Routine sprechen, fand ich – hinter der Sporthalle. Während Sofie rauchte, Kati die Physik-Hausaufgabe von Anna abschrieb und Jessi und ich halbherzig an unseren labbrigen Pausenbroten nagten, wartete ich mit klopfendem Herzen auf eine gute Gelegenheit. Jessi servierte sie mir schließlich auf dem Silbertablett, indem sie ächzte:

»Irgendwie ist der Tag heut richtig öde, nur ätzende Scheiß-Fächer, ich brauch unbedingt noch ’n Highlight heute, sonst dreh ich durch.«

Die anderen stimmten durch »Hm«-Laute und monotones Brummen zu. Meine Chance war gekommen.

»Wir könnten ja noch in die Stadt fahren nach der Schule … oder zum Kanal oder so«, sagte ich und sah keine von ihnen an.

Schweigen.

Mein Herz pochte unangenehm laut.

»Ah, heute geht das nicht«, meinte Anna schließlich zögernd. »Wir gehen später zu Sofie und Lica …«

Irgendwie war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob mein Herz noch schlug oder schon komplett ausgesetzt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wer Lica war, ging aber davon aus, dass es ein Mädchen sein musste, das in Sofies Viertel oder Straße wohnte. An der Art, wie jetzt alle unsicher zu Sofie blickten, wusste ich augenblicklich, dass es sich um eine Veranstaltung für einen auserwählten Kreis handelte.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich so etwas wie Verunsicherung in Sofies Mimik zu erkennen, doch einen Wimpernschlag später lag die übliche Gleichgültigkeit auf ihrem Gesicht wie eine 99-Cent-Erdbeer-Peeling-Maske aus der Drogerie.

Sofie zuckte mit den Schultern: »Komm halt mit.«

Die allgemeine Erleichterung setzte schnell und brachial ein. Jessi, die merkwürdig aufrecht gesessen hatte, fiel zurück gegen die Wand der Sporthalle, Anna atmete wieder, und Kati strahlte mich an, als wäre ich gerade zur Schulsprecherin gewählt worden. Ich lächelte vage zurück.

Um 15:04 durchschritten wir das Schultor, Sofie ging voran Richtung Stadtbahnstation. Ich hatte jede Gelegenheit genutzt, um Kati nach der geheimnisvollen Lica zu fragen, doch keine Chance.

Beim ersten Versuch flüsterte sie bloß »Wart’s ab«, und auf die nächsten drei reagierte sie mit einem vielsagenden Lächeln.

Mit dem Schultor ließen wir die trübe Stimmung hinter uns. Enthusiastisch, an der Grenze zu kopfloser Überdrehtheit, warf Kati im Laufen einen Arm um mich – kitzlige Locken streiften meinen Oberarm – und zog mich mit sich. Ich ließ mich in ihre Stimmung hineinfallen, wurde kicherig und albern, lachte mit ihr über alles und jeden.

Als wir die Station erreichten, waren wir fünf etwa auf dem gleichen Level von jugendlicher Manie angekommen. Wir waren ein bunt wirbelnder Haufen aus Kaugummi-Mündern, Neckholder-Tops und Schnallengürteln, wir waren laut, wir waren schrill, wir waren ein furchtbares Ärgernis für unsere Umwelt.

Ein Student mit widerlich nach hinten geschleimten Haaren verzog sich mit seinem Buch in einen anderen Waggon, er las Adorno. Zu in der Öffentlichkeit Adorno lesenden Typen machte ich ab diesem Moment drei Phasen durch. Phase eins, ich war eine überdrehte Jugendliche im Dortmunder Nahverkehr und hatte keine Ahnung, warum jemand in der Bahn ein Buch mit einem alten Mann als Cover las. Phase zwei, ich war eine leicht zu beeindruckende Erstsemester-Studentin in einer Universitätsstadt und hielt Kerle wie diesen für das Nonplusultra in Sachen Sexyness. Phase drei, ich war Ende zwanzig, desillusioniert, im Aufbaustudium, und die Lächerlichkeit solcher Typen verursachte bei mir Würgereiz.

Damals im stickigen Waggon der U42 war der lächerliche Student allerdings nicht die einzige Person, der wir nicht gefielen. Eine Frau in einem braunen Hosenanzug betrachtete uns die komplette Fahrt über mit missbilligendem Gesichtsausdruck.

Ihr Mund ein schmaler Strich, ihre Augen ein Scanner.

Irgendwann musste Sofie zwangsläufig ihre Position als Anführerin erfüllen und schrie quer durch den Waggon:

»Ist irgendwas? Kann man irgendwie helfen? Oder hängt einfach nur die Buxe unbequem in der Ritze?«

Sie sah sich aufmerksamkeitsheischend um, und wir kleinen Hyänen erfüllten unsere Rollen perfekt, indem wir vor Lachen schrien. Ein letztes genervtes Kopfschütteln, und die Frau wandte sich ab. An der nächsten Station stieg sie aus.

Das Unverständnis unserer Umgebung konnte unserer Großartigkeit nichts anhaben. Dass wir uns entsetzlich aufführten, stand außer Frage, aber im Prinzip war es doch auch genau das, was die Leute von einem Haufen Teenager erwarteten, da wollten wir wirklich niemanden enttäuschen. Es war beeindruckend, wie witzig alles im Alter von vierzehn sein konnte, wenn man sich erst mal in den Zustand der absoluten Albernheit hineingesteigert hatte. Das küssende Paar auf dem Plakat in der Bahn, der zottelige Hund am Ende des Waggons, als Jessi aus Versehen Scheide statt Scheibe sagte – »Iieh, die Scheide ist voll dreckig« –, alles war zum Brüllen komisch. Tut mir leid, ich sage ja, es war albern. Albern und fantastisch.

Momente, in denen man so lachen musste, dass die Knie nachgaben, sollten im Laufe des Lebens bedauerlicherweise rar werden. Im Sommer 2003, in Anwesenheit der vier anderen, waren sie an der Tagesordnung, sorgten an ebenjenem Nachmittag allerdings dafür, dass wir die richtige Station verpassten. Raus aus dem Waggon, rein in die nächste Bahn, wieder zurück. Wir hätten die Strecke auch laufen können, aber so kamen wir uns wohl großstädtischer vor.

Nach der Schwüle im Waggon trafen wir draußen auf eine noch aggressivere Hitze und fast schmerzend warme Sonnenstrahlen, die während der zehn Minuten Bahnfahrt schon in Vergessenheit geraten waren, nun aber für einen Moment die Albernheit wegdrückten.

Rostroter Klinker und beige-graue Hausfassaden wechselten sich auf diesem Teil der Erdoberfläche ab. Sofie folgend, passierten wir eine Apotheke, das Büro eines Pflegedienstes, einen griechischen Imbiss, einen Kiosk. Mülleimer hingen schief an Ampelmasten, neben einem Kleidercontainer stapelten sich Kartons mit schmutziger Kleidung. Es wirkte alles zusammengewürfelt und lieblos, wie das eben so war in Stadtvierteln, in denen man die Menschen größtenteils sich selbst überließ. Stadtplanung war was für Hamburg-Eppendorf.

Bei Großstädten denken die meisten zuerst an schicke Restaurants, angesagte Clubs, an flirrende Aufgeregtheit, bunte Lichter, aber die Wahrheit liegt in den Wohngebieten, die sich mindestens sieben U-Bahn-Stationen entfernt vom Innenstadt-C&A befinden. Hier wohnen die Menschen, die maßgeblich verantwortlich sind für die sechs- oder siebenstellige Zahl im Feld hinter »Einwohner«, die einst wochenlang mit Perso-Kopien und Wohnberechtigungsscheinen quer durch die Stadt geirrt sind.

Einige Hausfassaden des Viertels waren mit eilig dahingeschmierten Schriftzügen besprüht, eine Litfaßsäule warb mit halb abgerissenen Plakaten für Veranstaltungen, zu denen niemand gehen wollte. Das alles hört sich trostloser an, als es war. Da Dortmund eine Stadt ist, die schon immer viel mit Grau arbeitete, war die Gegend, in der Sofie wohnte, irgendwo zwischen Hombruch und Innenstadt, eben eine wie jede andere.

Gut, es war zweifelsohne nicht die Definition von lebenswert, aber im Vergleich auch nicht wirklich schlimmer als die meisten anderen Orte. Woanders is auch scheiße, sagten die Leute in Dortmund gerne. Oder Leute außerhalb Dortmunds glaubten, dass Dortmunder dies gern sagten. Irgendwas davon stimmte.

Wie auch immer, schön war es jedenfalls nicht, das konnte man nicht sagen. Schön war es nur dann, wenn es einem etwas bedeutete, aber so war es wohl mit den meisten Dingen. Bis zu diesem Tag dachte ich eigentlich nicht sonderlich viel darüber nach, ob es irgendwo in der Stadt schön war oder nicht, es war einfach, wie es war. Das sollte sich in Anbetracht des magischen Ortes, den ich heute noch betreten sollte, ändern. Jetzt aber erst mal graue Straßen.

»Da vorne ist es, da wohnt Sofie«, hauchte Kati mir kurze Zeit später ins Ohr. Kribbeln auf meiner Haut, immer und immer wieder diese verdammten Locken.

Das Mehrfamilienhaus war auf den ersten Blick erwartbar trist.

Es gab einen kleinen Vorgarten, der überwiegend aus Gras, Gestrüpp und Löwenzahn bestand, umsäumt von einem niedrigen Steinmäuerchen. Er führte wie ein L um das graue, vierstöckige Gebäude. Hinter den meisten Fenstern hingen weiße, zum Teil leicht vergilbte Gardinen mit Spitzenabschluss. Mein Blick aber wurde angezogen von einem Fenster im Erdgeschoss, keine Spitze, stattdessen geöffnete sonnengelbe Vorhänge, die ein Meer aus Pflanzen umrahmten. Grüne Ranken, die sich aus hängenden Töpfen schälten, Blattkakteen mit roten Blüten, ein Drachenbaum, der alles andere mütterlich überragte.

»Usselig«, würde meine Mutter das nennen. In unserer Wohnung gab es abgesehen von einer traurigen Kaktee auf der Küchenfensterbank und einer langweiligen Grünlilie, für die ich keine Gefühle hatte, keine Pflanzen.

Beim Anblick des Fensters explodierte die Fantasie in meinem Kopf, und ich war, wie schon so oft, froh, dass niemand hineinsehen konnte. Wände voller Efeu; ein riesiges Blatt, das als Sofa diente; eine summende Aufgeregtheit in der gesamten Wohnung; eine geheimnisvolle Gärtnerin, ausgestattet mit einem riesigen Strohhut und einer silbernen Gießkanne, die durch die Wohnung wirbelte. Dass es diese Gärtnerin in der imaginierten Form nicht gab, war selbstverständlich klar, aber dass hinter diesen Vorhängen jemand wartete, dass da eine Person war, die all die Fantasiegebilde in den Schatten stellen würde, das ahnte ich nicht im Geringsten.

Neben mir ließ Sofie gerade ihren taubenblauen Eastpak-Rucksack halb von den Schultern rutschen, sodass er in ihren Armbeugen hing und beim Laufen gegen ihre Kniekehlen schlug, und steuerte auf die verglaste Eingangstür zu.

Ich wollte ihr folgen, aber Kati fasste mich am Arm und zog mich über das kniehohe Mäuerchen, vorbei am Fenster mit den gelben Vorhängen und um das Haus herum.

»Wir gehen hier lang«, sagte sie im Gehen.

Als wir um die Ecke traten und den unteren Teil des gräsernen Ls betraten, öffnete meine Mund sich von selbst, und ich stierte wie ein Ochse auf alles, was sich dort vor mir ausbreitete.

Es war nicht groß, der ganze Bereich erstreckte sich über ungefähr zwölf, vielleicht dreizehn Quadratmeter. Links die Pflanzenwohnung, hinten eine riesige Hecke als Abgrenzung zu weiteren Grundstücken, rechts die fensterlose Wand des nächsten Hauses. Hier war alles bunt. Zwei Pflöcke waren in die Erde geschlagen worden, dazwischen eine Hängematte aus mehrfarbigem, grobem Stoff. Ein einzelner weißer Plastikstuhl mit einer Blumenmuster-Auflage stand etwas verloren auf dem Rasen. Überall verteilt fanden sich Gläser und Flaschen mit zerlaufenden Kerzen darin; bunte Lampions und Lichterketten hingen an Haken an der Hauswand; vor der Hecke lagen gestapelte Paletten, auf denen sich Kissen und weitere Blumenmuster-Auflagen türmten, und unterm zweiten Fenster der Pflanzenwohnung stand eine Holzbank, auch diese mit Blumenmuster-Auflage. Es gab noch ein paar übereinandergestapelte Holzkisten, die als Hochbeete dienten. An der Hecke – das wurde mir allerdings erst später bei genauerem Hinsehen klar – baumelte glitzernder Weihnachtsschmuck.

Das mag im ersten Moment ein wenig nach dem Prototyp jeder alternativ angehauchten Wohngemeinschaft klingen. Manch einer könnte behaupten, dass es sich um Kitsch handelte, und sicher würde das auch eine erwachsene Version von mir denken, aber damals kam es mir nicht so vor. Es war eine Unterbrechung der immer gleichen Häuserreihen, der gleichen weißen Gardinen, der gleichen dezenten Deko, der gleichen braunen Fußmatten, der gleichen milchgläsernen Haustüren, der immer gleichen städtischen Einöde. Eine Unterbrechung, nach der man sich, ohne es zu wissen, sehnte, wenn man die Straßen entlanglief.

Dann, ohne Vorwarnung, klopfte Kati kräftig gegen das Fenster der Pflanzenwohnung. Ich zuckte zusammen.

»Lica! Mach auf!«, rief Kati und klopfte unablässig weiter.

Ich stand wie angewurzelt vor dieser Szenerie – und alles in mir verhakte sich vor Verwunderung und Faszination.

Schließlich öffnete sich das Fenster mit einem leisen Scheppern, und eine Frau kam zum Vorschein.

»Na holla, welch unerwarteter Besuch«, rief sie in gespielt überraschtem Tonfall. Meine Verwunderung hatte gar keine Lust nachzulassen und flammte hoch, als die Frau den Kopf herausstreckte und ihre Wangen kurz und fest gegen Katis drückte. Schmatzgeräusche.

»Jo Lica, was geht ab?« Vier weitere Schmatzgeräusche für Jessi und Anna. Ich starrte sie an und dachte:

Sie gehört nicht hierher.

Jetzt, genau in diesem Moment, war ich plötzlich wütend auf das Viertel, die Stadt, das ganze Land mit seiner Tristesse, weil sie alle dieser Frau in keiner Weise gerecht wurden. Ihre langen Haare waren gewellt, rannen über ihre Schultern und hatten die Farbe dieser Werther’s Karamellbonbons, von denen immer einige bei meinen Großeltern in der Küche rumlagen. Die Lippen rot geschminkt – an einem Donnerstagnachmittag! –, die Nägel dunkel lackiert. Sie trug eine Art Blusenkleid, weit geschnitten, mit auffälligem Wirbelmuster. Aber es war mehr als das, es waren nicht diese Äußerlichkeiten, die im Grunde austauschbar waren. Ich sah ihre Augen, wach, hellgrün und voller Wärme, und irgendwo dahinter, hinter dieser Fensterscheibe aus Hornhaut und Glaskörper, dahinter war etwas, etwas, das die Farbe Gold hatte.

Sie wandte sich an mich.

»Wen haben wir denn hier?«, hauchte sie, blickte zu den anderen, dann wieder zu mir. »Welche Mutproben musstest du bestehen, um in den besten Damenclub der Stadt aufgenommen zu werden?«

Sie lachte kehlig und zwinkerte mir zu.

»Äh, gar keine«, sagte ich dämlich, obwohl klar war, dass sie einen Witz machte. Als sie meine Unsicherheit bemerkte, änderte sich ihr Blick, wurde, falls das überhaupt möglich war, noch eine Spur weicher. Sie stützte sich auf das Kissen, das sie von irgendwo heraufbeschworen und vor sich auf die Fensterbank gelegt hatte. Dann lehnte sie sich ein wenig weiter hinaus.

»Liebes, leg doch mal deinen Rucksack ab, mach’s dir bequem, fühl dich wie zu Hause oder im Zweifel auch besser als dort. Ich bin Angelica«, sagte sie und sprach das G in ihrem Namen aus wie zuckriges Orangengelee. »Die Damenbande nennt mich Lica, das soll mich wohl interessanter machen, nun ja, und wie nennen wir dich?«

Ich dachte, dass das weiche G sie schon interessant genug machte.

»Katha«, sagte ich, ein unsichtbarer Riese umschloss mich mit seiner Faust, hielt mich fest im Griff, und so stand ich wie angewurzelt auf dem ungepflegten Rasen, starrte Angelica an.

Sie muss damals – abgesehen vom roten Lippenstift – gar nicht so viel anders ausgesehen haben als meine Mutter, meine Tanten, meine Lehrerinnen oder andere Frauen auf der Straße, aber in diesem Moment war es für mich, als hätte sich Gott höchstpersönlich zum Fenster herausgelehnt. Ich traf Gott, und ihr Name war Angelica.

Nicht dass der Christentum-Gott mir damals oder heute besonders viel bedeutet hätte. Seit ich denken kann, gingen meine Eltern mit uns an Weihnachten, manchmal auch an Ostern oder auch hin und wieder unterjährig sonntags in die Kirche. Meistens dann, wenn meine Großeltern mütterlicherseits die Befürchtung äußerten, unsere Eltern könnten uns zu, wie sie es nannten, Heidenkindern erziehen. Ich hörte meine Großeltern diesen Begriff einige Male benutzen, eine genauere Erläuterung fand nie statt. Was ich wusste, war, dass Heidenkinder offenbar nicht zur Kirche gingen und sich somit keine leiernden Gesänge und nachgesprochene Floskeln anhören mussten, die in meinen Ohren keinerlei Sinn ergaben. Ich wäre liebend gern ein Heidenkind gewesen. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob mir die Chance darauf durch die zwei, drei erzwungenen Kirchenbesuche im Jahr für immer verwehrt sein sollte.

Wenn ich aber an ebenjene Kirchenbesuche zurückdenke, erinnere ich mich in erster Linie an die Ehrfurcht der Gläubigen vor ihrem Gott und dem Gotteshaus, was stets zu einem, aus meiner Sicht, seltsamen Gebaren führte. In der Kirche gingen alle immer ein wenig gebückter, schrumpften in sich zusammen, es wurde geflüstert, jegliche Form von Freude schien verboten. Zumindest kannte ich diese kirchliche Form der Ehrfurcht so aus Deutschland, und ich mochte sie nicht.

Aber auch hier an Angelicas Fenster verspürte ich etwas, das sich wohl als Ehrfurcht bezeichnen ließ. In einer ganz anderen Form, keine geduckte, keine lähmende. Hier am Fenster war es warm, und die Luft flirrte, und alles war irgendwie verheißungsvoll, und noch bevor sich das Fenster geöffnet hatte, war es besonders gewesen, und mit Angelicas Erscheinen lag dann endgültig etwas in der Luft, das einem versprach, dass hier noch was kam, etwas, mit dem man nicht gerechnet hatte, nicht in dieser Stadt.

Mir fiel ein, dass Angelica gesagt hatte, ich solle es mir bequem machen. Blinzelnd sah ich mich um. Jessi lag in der Hängematte und hatte die Augen geschlossen, Handrücken auf Stirn, als hätte sie heute den härtesten Tag ihres bisherigen Lebens verbracht. Anna hockte schief auf dem weißen Plastikstuhl. Der lockigste Platz von allen war dagegen noch frei, Kati saß strahlend auf der kleinen Bank unterm Fenster und klopfte neben sich. Kaum hatte ich mich dort niedergelassen, warf sie euphorisch die Beine in die Luft und legte ihren Lockenkopf in meinen Schoß. Hinter mir hörte ich das Klicken eines Feuerzeugs, und mir stieg der Geruch von Zigarettenqualm in die Nase. Ich saß stocksteif und verkrampft da, nicht vertraut mit den Verhaltensregeln dieses Ortes.

Irgendwann spürte ich Angelicas Blick auf mir, ich drehte meinen Oberkörper und sah zu ihr hoch. Sie lächelte mich an und knuffte mir dann kurz an die Schulter.

»Ach, ist das schön, dass du hier bist, Liebes, ein neues Gesicht!«, sagte sie laut und überschwänglich und ehrlich.

»Danke«, sagte ich leise und überfordert und wohl auch ehrlich.

Sie lächelte noch breiter, zog dann an ihrer Kippe und sah in die Ferne. Ich beobachtete sie noch eine Weile aus den Augenwinkeln.

Angelica hatte nichts von der erwachsenen Hektik meiner Eltern. Ihre Augen huschten nicht unruhig in alle Richtungen, ihre Finger arbeiteten nicht stetig an ihrer Kleidung, fummelten nicht an herausstehendem Fensterlack herum, und ihre Gedanken schienen nicht schon bei der nächsten Aufgabe zu sein, dabei, was noch alles zu tun war. Sie lehnte einfach auf der Fensterbank und war da.

»Gibt’s eigentlich noch Kaffee, Lica?«, stöhnte Jessi und schloss ermattet die Augen. »Der Tag heute hat mich so fertiggemacht. Doppelstunde Physik ist schlimmer als sonst was!«

»Steht noch ’ne halbe Kanne in der Küche«, sagte Angelica und blies genüsslich eine Rauchschwade an meinem Ohr vorbei.

Jessi seufzte schwer, wandte den Kopf in Richtung Haus, hob träge ein Bein und ließ es dann mit einem weiteren Seufzer wieder sinken.

»Oh mein Gott, ich hol dir deinen scheiß Kaffee«, sagte Anna und stand auf. Sie setzte einen Fuß zwischen uns auf die Bank, kletterte auf das Fensterbrett und an Angelica vorbei ins Haus. Angelica schien das nicht im Geringsten zu stören.

Als Anna kurz darauf wie eine Akrobatin, zwei Kaffeebecher in den Händen, wieder aus dem Fenster stieg, ging eine Frau vorbei. Sie hatte eine dieser peinlichen Oma-Karren dabei, also die, die bei Omas in Ordnung waren, aber bei Leuten unter sechzig eben nicht. Die Frau, die vorbeiging, war uralt, aber nicht alt genug für eine Oma-Karre. Wahrscheinlich war sie Ende vierzig, Anfang fünfzig, das war schwer zu schätzen, weil ihr Gesicht so garstig verzerrt war, und das machte eine genauere Beurteilung schwierig. Sie blieb vorne an der Straße genau am Zaun stehen und musterte uns eine nach der anderen.

»Das ist die Nachbarin, die hasst uns«, flüsterte Kati.

»Guten Tag, Frau Klube, geht’s gut?«, rief Angelica vom Fensterbrett aus und winkte ihr zu.

Die Frau stand da, ihr Blick strich unangenehm lange über uns alle hinweg, noch mal, und noch mal, und blieb dann an Angelica haften.

»Werden ja immer mehr da bei Ihnen, sind das alles Ihre?«, rief sie ohne vorherige Höflichkeiten.

»Auf die ein oder andere Weise ja«, sagte Angelica und fügte an, als die Frau empört den Mund öffnete, »aber nur sie hier«, sie deutete auf Sofie, von der ich gar nicht mitbekommen hatte, dass sie neben Angelica am Fenster aufgetaucht war, »ist blutsverwandt mit mir.«

»Ah ja«, sie ging weiter und zog die Karre hinter sich her. »Und die anderen? Die haben alle kein eigenes Zuhause?«

»Nö«, entgegnete Jessi. »Wir sind alle Waisen. Mein Vater hat zum Beispiel erst meine Mutter erschossen und dann sich, hat’s vorher auch bei mir probiert, aber die Kugel ist an mir abgeprallt. Soll ich Ihnen die Narbe zeigen?«

»Darüber macht man keine Witze«, keifte die Frau. Sie verschwand aus unserem Sichtfeld. Kurz darauf war zu hören, wie die Oma-Karre laut und ruckelnd über das Kopfsteinpflaster der Einfahrt gezogen wurde. Ich sah Frau Klube vor mir, wie sie sich mit dem Rücken zur Haustür drehte, sich gegen das hässliche Strukturglas drückte und kopfschüttelnd ihre Karre über die Schwelle hievte. Sie würde sicher noch den ganzen Tag an uns denken.

Angelica massierte sich mit zwei Fingern die Mundwinkel, um ihr Lachen zu verbergen.

»Irgendwann werden wir hier noch rausgeschmissen«, sagte Sofie entnervt, rutschte vom Fensterbrett in die Wohnung und verschwand.

»Doch nicht wegen so was«, rief Angelica ihr nach.

Ich konnte nur hoffen, dass Angelica und Sofie nicht rausgeschmissen würden, denn dann würde sich dieser Ort auch für mich verschließen. Das durfte nicht passieren. Angelicas Sorglosigkeit war jedoch ansteckend, und so schüttelte ich diese Befürchtungen schnell wieder von mir.

Nach einer Weile stand ich auf und lief über den Rasen, streckte mich ein wenig, um den Eindruck zu erwecken, ich müsse mir die Beine vertreten. Das war natürlich Unsinn, niemand unter vierzig muss sich ›die Beine vertreten‹. Ich verspürte vielmehr den Drang, mich zu vergewissern, dass ich hier war, dass es tatsächlich stattfand und wirklich da war, und ich glaubte, ich müsste den Anblick irgendwie abspeichern, bevor sich etwas veränderte. Verstohlen warf ich einen Blick zurück auf die Szenerie.

Die Bank, das Fenster, all der Kitsch, dazwischen verstreut meine neuen Freundinnen, und dann eben Angelica, leuchtend am Fenster – ich rief mir dieses Bild über die Jahre so oft in Erinnerung, dass ich mir heute nicht mehr sicher sein kann, was davon wahr und was visuell angedichtet ist. Manchmal sehe ich noch heute alles klar vor mir, ich weiß genau, wo sich welcher Gegenstand befand, ich weiß, wie das Fenster aussah, wie sich die Hecke mit der Dekoration darin spiegelte. Oder glaube ich das nur? Manchmal sind Erinnerungen kleine Betrüger.

Immer, in all der Zeit, wenn ich in der Erinnerung Versuche unternahm, an Angelicas Gesicht heranzuzoomen, wurde alles sofort unscharf, dann legten sich andere Aufnahmen meines Gehirns darüber und vermischten sich miteinander. Erinnerungen an Angelicas Gesicht Monate später, schmaler, grauer; an Frauen, die ich später im Leben traf, in denen ich für eine schreckliche Sekunde glaubte, Angelica zu erkennen; an Schauspielerinnen, die ihr ähnlich sahen, das alles stapelte sich über der echten Erinnerung wie ein Turm aus Fälschungen, und ich geriet jedes Mal in Panik, weil ich glaubte, die echte, wahre Erinnerung sei für immer verloren, und ich wühlte voller Angst in meinem Gehirn herum, kratzte die ungewollten Ablagerungen herunter, und am Ende blieb nichts übrig als Verschwommenes. Dann wieder, wenn ich mich nicht anstrengte, wenn ich glaubte, gar nicht an sie zu denken, spülte es mir plötzlich ihr Gesicht vor Augen, ganz klar, jeden ihrer Züge, ihr warmer Blick an ebenjenem Tag, wie sie am Fenster lehnte und mich ansah. Dann war die Erinnerung so scharf, so klar, so schmerzhaft und gemein, dass ich zusammenzuckte, und gleichzeitig war ich in diesen Momenten unendlich erleichtert, dass all das noch da war, irgendwo verschüttet. Doch sobald ich mich an das Bild von ihr klammerte, versuchte, es länger festzuhalten, rann es auseinander wie ein aufgeschlagenes Ei in einer zu kalten Pfanne.

Die Begegnung mit Lica sollte mich noch einige Tage beschäftigen, denn zunächst kam es zu keiner zweiten. Tags darauf, am Freitag, betrat eine neue Figur die Hombrucher Volksbühne, auf der nun mein Leben stattfand.

Wieder wir am Schultor, wir fünf. Den ganzen Tag hoffte ich, dass wir den vorherigen wiederholen könnten, doch Sofie sagte was von Zahnarzttermin, und Jessi verkündete, sie sei beschäftigt. Die Beschäftigung wartete am Schultor und schob ihr mit enormem Muskelaufwand die Zunge in den Hals.

»Wer ist das?«, flüsterte ich Kati zu und konnte dabei einen Hauch Ekel in meiner Stimme nicht ganz unterdrücken. Jetzt legte die Beschäftigung seine bleichen, großen Hände auf Jessis Arsch.

»Thorsten«, hauchte Kati zurück, »die sind quasi zusammen.«

»Wie alt ist denn der?«

»Älter.«

Ganz offensichtlich war er das. Thorsten, nur etwa einen halben Kopf größer als Jessi, somit ungefähr gleichauf mit Sofie und mir, hatte eigentlich dunkle Haare, aber die nach oben gegelten Spitzen waren blond gefärbt. Eine steife Lederjacke mit roten Streifen saß auf seinen Schultern wie ein Panzer, breitbeinig stand er da in einer weiten, ausgewaschenen Jeans. Er wirkte wie verkleidet. Zwar hatte er einen Bart, was aus seiner Sicht wohl bedeutete, dass er ein Mann war, aber darunter lag ein Gesicht, das nichts gesehen hatte. Die Haut war hell und porig wie das Innere einer Toastbrotscheibe. Seine Bewegungen waren so, als hätte er sie bei einem anderen bärtigen Mann beobachtet und dann nachgeahmt. Für mich war er sofort Thorsten, der Kindmann. Beim Anblick seiner Hände, noch immer gespreizt und großflächig auf Jessis Arsch, fühlte ich ein unangenehmes Gefühl der Bedrohung in meinem Magen. Sickerndes, schweres Blei. Als er Jessi genug begrapscht und mit unbeholfenen, groben Berührungen sein Revier auf ihrem Körper festgesteckt hatte, wandte er sich uns zu.

»Hey Kati!«, rief er. Sie hob kurz eine Hand und stierte dann Kaugummi kauend in die entgegengesetzte Richtung, als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen. »Und wer bist du? Dich kenn ich noch gar nicht!«, das ging an mich.

»Katha, bin gerade hierhergezogen«, sagte ich und hob ebenfalls eine Hand. Was Besseres fiel mir nicht ein.

»Ach, geil!«, meinte er und ließ seinen Blick für einige Sekunden über meinen Körper gleiten. Ich dachte an eine riesige Zunge, die eine Kugel Eis von allen Seiten anleckte, und wollte duschen.

Schließlich wandte er sich von mir ab, wieder Jessi zu und überprüfte gewissenhaft, ob es Stellen an ihrem Körper gab, die er noch nicht berührt hatte.

Wir würden Thorsten in diesen frühsommerlichen Wochen noch öfter begegnen. Ständig würde er dort auftauchen, wo wir gerade versuchten, leicht und jung und unbeschwert zu sein, und sich wie ein nasses, schweres Handtuch auf uns legen – was Sofie, Kati, Anna und mich betraf im übertragenen Sinne, was Jessi anging, nun ja. Saßen wir im Schwimmbad auf der Decke, aßen Pommes und kicherten über Annas Pony, den der Friseur ihr verhunzt hatte, trampelte plötzlich Thorsten über die Wiese auf uns zu. Dann wieder, wir zu fünft in einer Umkleidekabine, albern, laut, ausgestattet mit aus heutiger Sicht erschreckend günstiger Fast Fashion, Vorhang auf, ach nö, Thorsten lauerte breitbeinig zwischen den Kleidungsständern. Es war lästig.

Ob er mit seinem Mofa durch die Straßen heizte und an den üblichen Orten nach uns Ausschau hielt, oder ob Jessi ihr gesamtes Taschengeld am Münztelefon in der Schule zurückließ, um ihm unsere Pläne zu verraten – wir wussten es nicht. Keine von uns äußerte je, dass Thorstens Anwesenheit störte. Aber ich sah mein eigenes Empfinden in den Blicken der anderen, wenn der Kindmann unerwünscht irgendwo erschien. Manchmal fragte ich mich, warum Sofie, die sonst kein Blatt vor den Mund nahm, ihr Missfallen nicht kundtat und uns ein für alle Mal von Thorsten befreite. Doch sie blieb stumm wie wir anderen. Ich vermutete, dass sie unter keinen Umständen neidisch wirken wollte, schließlich galt ein älterer Freund in den frühen 2000ern unter weiblichen Teenagern als das Statussymbol schlechthin, und Sofie konnte sich wohl nie ganz entscheiden, ob sie Jessis Beziehung zu Thorsten abstoßend oder beneidenswert finden sollte, also sagte sie gar nichts.

Auch bei Angelica tauchte Thorsten gelegentlich auf, was diese stets mit hochgezogenen Brauen, aber wortlos zur Kenntnis nahm. Trotzdem blieb er nie lange dort. Die Atmosphäre dieses Ortes, unseres Ortes, drückte ihn jedes Mal nach wenigen Minuten hinaus wie einen Fremdkörper.

Thorsten, der Kindmann, war eine von wenigen Wolken, die sich im Jahrhundertsommer 2003 gelegentlich vor die Sonne schoben.

Eine andere war Nadines Leiden. Im Gegensatz zu mir waberte sie nach einer Woche in der neuen Umgebung noch genauso verloren durch ihr neues Leben wie am ersten Schultag. Natürlich wollte sie nie so sehr so dringlich gefallen wie ich, und trotzdem war sie ein soziales Wesen, so wie die meisten anderen Menschen, und hatte augenscheinlich damit zu kämpfen, dass alle in der neuen Klasse sie ablehnten oder sie alle wegstieß oder eben beides gleichzeitig. Es war ein Teufelskreis. Aus Nadines Erzählungen hörte ich heraus – ihre Tonlage, die scheinbar beiläufigen Erwähnungen von Namen, von Situationen waren verräterisch –, dass die Ablehnung der anderen ihr einerseits zu schaffen machte, sie andererseits aber mit glühendem Stolz alle von sich fernhielt und so tat, als wäre sie nur für einen Zwischenstopp mal kurz durchs Schultor hereingeschneit, eigentlich aber auf dem Sprung und grundsätzlich sowieso zu Höherem berufen.

Meine Schwester war ein Produkt der Vermeidung, und möglicherweise war das am Ende der Grund, warum sie so kompromisslos geworden war in allem, was sie tat, in ihrer Existenz als solche. Keine halben Sachen, das war Nadine. Die neue Stadt und all ihre Bewohner wurden leidenschaftlich gehasst, selbst wenn das Qual bedeutete.

Ich beschloss, das Ganze aufzufangen.

Am Freitagabend versanken Nadine und ich in unserer Schwesternschaft, die nur Platz für uns zwei bot. Meine Mutter war auf ein trauriges, erwachsenes Glas Wein mit einer alten Schulfreundin verabredet, sodass es niemanden kümmerte, als wir wie von der Tarantel gestochen durch die kleine Wohnung schossen. Na ja, abgesehen von den Nachbarn unter uns vermutlich, aber die spielten jetzt keine Rolle, schließlich hatten wir wichtige Missionen zu erfüllen.

»Die sind hinter uns her, renn, Katha! Komm aufs Bett!« Nadine schlitterte auf Socken über den PVC-Boden, hielt sich mit einer Hand im Türrahmen fest, die Haare zerzaust, die Wangen gerötet.

»Jetzt mach schon!«, schrie sie. Es war ihr ernst, es ging um Leben und Tod.

Ich raste hinter ihr her, riss im Flur beinahe die Station des Festnetztelefons mit mir und erreichte keuchend das Bett, Nadines ausgestreckte Hand rettete mich in letzter Sekunde vor den Kreaturen, die am Boden lauerten.

Wir hielten uns aneinander fest. So wie wir es schon immer getan hatten.

Auf dem Bett waren wir sicher, doch plötzlich – von einer Sekunde auf die andere – ließ Nadine meine Hände fallen, ihr Blick hatte sich verändert. Voller Misstrauen zog sie die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, legte den Kopf schief und tippte mir dann mit einem Finger auf die Brust.

»Du«, sagte sie dramatisch, »du hast mich hintergangen!«

»Wie könnte ich? Niemals!«, beteuerte ich, doch Nadine ließ sich nicht abbringen.

»Verrat!«, kreischte sie, »du hast den Monstern gesagt, dass wir hier sind. Wie hätten sie sonst davon erfahren können?«

Darauf wusste ich keine Antwort. Für Nadine war mein Schweigen der sichere Beweis meiner Schuld.

»Der König soll über dein Schicksal entscheiden, mein treuer Freund, wie konntest du nur?«, brüllte sie inbrünstig und sprang mit einem Poltern vom Bett, ihre Fersen krachten nachbarschaftsfeindlich auf den Boden.

Mit gewichtigen Schritten ging sie hinüber zum Hamsterkäfig.

Sie hob den Deckel heraus, schnappte sich mit einer Hand das arme Tier, das nicht schnell genug in sein Haus hatte flüchten können. Mit triumphierendem Blick drehte sie sich zu mir um, das zitternde Pelzknäuel hockte auf ihrer Handfläche.

»Verbeug dich vor König Zlatko dem Ersten!«

»Oh nein«, rief ich theatralisch, »nicht König Zlatko, er ist doch für seine grausamen Urteile bekannt!«

»Tja, das hättest du dir früher überlegen sollen.« Nadine nahm ihr Kopfkissen vom Bett, legte es auf den Boden und setzte König Zlatko sachte darauf. Dann rannte sie zu meinem Nachttisch und nahm einen der billigen Ringe aus der Box, in der ich meinen Schmuck achtlos und unsortiert aufbewahrte. In dieser Box verknoteten sich angelaufene Goldketten meiner Großmutter mit bunten Kitschketten aus dem Bijou Brigitte, hingen Ohrringe mit Haken in Armbändern aus Glasperlen. Ich erinnerte mich nicht daran, sie ineinander gedreht zu haben, ich erinnerte mich nicht daran, sie verhakt zu haben, und doch waren da Knoten und scheinbar unwiderrufliche Verbindungen. Es schien, als würde allein die Enge der Box für eine zwangsläufige Verworrenheit der Dinge sorgen. Allein, dass die einzelnen Teile so dicht nebeneinander existierten, zog sie in Verflechtungen, die sich niemand wünschte, die niemand lösen konnte, ohne einen immensen Aufwand zu betreiben. Die Ohrringe, das verstand ich ja noch, sie waren flink, sie wirbelten kopflos durch die Gegend, und schon waren sie in etwas hineingeraten, aber die Ketten und Armbänder, in sich geschlossene Systeme, wie konnte ihnen ohne Zutun etwas Derartiges passieren? Sie lagen doch bloß da. Nicht nur, dass sie sich anderen annäherten und sich dann wie von Zauberhand mit ihnen zusammenschnürten, sie verschlangen sich auch in sich selbst, ließen Knoten in ihrer eigenen Struktur entstehen, ganz so, als ertrügen sie den Zustand der glatten Absolutheit nicht.

Nadine legte Zlatko den Ring auf den Kopf. Nun sah man, dass er tatsächlich König war.

Sie winkte mich zu sich, und ich kniete mich neben ihr auf den grauen Teppichboden.

»Erwarte dein Urteil, Angeklagte!«, sagte Nadine und beugte sich zu Zlatko hinunter, dem seine improvisierte Krone bereits vom Kopf gerutscht war. Meine Schwester hielt ihr Ohr ganz nah an den König und hörte aufmerksam zu, er sprach so leise, dass ich ihn nicht verstehen konnte. Schließlich richtete sie sich auf und verkündete:

»Der König verlangt, dass du ins Verlies geworfen wirst für deine schrecklichen Taten.«

»Das soll der König mir noch mal selbst sagen, hab ihn nicht verstanden.« Ich hob die Augenbrauen und sah meine Schwester herausfordernd an.

Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache, dann rief sie: »Der König hat sein Urteil gefällt, ab ins Verlies mit dir«, und stürzte sich auf mich. Das kam unerwartet.

Für eine so kleine Person war sie ziemlich stark, und sie hatte den Überraschungseffekt auf ihrer Seite. Sie umklammerte meine Handgelenke, wollte mich zu Boden drücken, doch nachdem ich die erste Verblüffung überwunden hatte, wehrte ich mich. Natürlich war ich viel stärker als sie, schließlich hatte ich sechs Jahre Vorsprung. Um Nadine den Spaß nicht zu verderben, wägte ich meine Kräfte ab, stellte sie so ein, dass wir ebenbürtig waren. Eine Weile kabbelten wir uns auf dem Boden, bis meiner Schwester die Kräfte ausgingen. Sie ließ sich auf den Rücken fallen, streckte Arme und Beine von sich und warf den Kopf zur Seite.

»Sie ist zu stark, König, vergebt mir!«, stöhnte sie verzweifelt.

Doch auf die Vergebung des Königs würde Nadine lange warten müssen.

Zlatko war verschwunden.

Auf dem Kissen war nicht mal eine Kuhle. 30 Gramm, ein Zwerghamster war zu leicht, um sich wirklich einzuprägen.


Fast eine Stunde lang suchten wir die komplette Wohnung nach ihm ab. So sauber war der Boden vermutlich nie zuvor gewesen. Ein praktisches Bodenwisch-Set für null Euro, wie wir da so durch die Gegend krochen. Nadine lag flach auf dem Bauch und zog sich an den Armen über den PVC, um unter alle möglichen Kommoden und Schränke zu sehen. Ich verrückte ganz vorsichtig die unausgepackten Kartons in Flur und Wohnzimmer, krabbelte komplett unters Bett und legte eine Spur aus Hamster-Trockenfutter aus, damit Zlatko nach Hause finden konnte.

Doch er blieb verschwunden. Als Nadine vor Müdigkeit bäuchlings auf dem Badezimmerteppich wegdöste, beschloss ich, dass die Suche unterbrochen werden musste.

»Wir finden ihn morgen«, sagte ich mit fester Überzeugung.

»Oder er findet uns«, nuschelte Nadine erschöpft.

Während meine Schwester nach dem von mir verordneten Zähneputzen direkt ins Bett fiel und nach etwa einer halben Minute einschlief, lag ich noch lange wach und dachte nach. Nichts Besonderes, mein Gehirn quälte mich in der Zeit vorm Einschlafen immer besonders gern, da es wusste, dass es dann einige Stunden darauf verzichten musste. Gelegentlich gelang ihm allerdings noch ein besonderer Coup, indem es mir ein paar unangenehme Träume unterjubelte.

Nadine atmete einige Meter entfernt. Die Atemgeräusche waren wie aus dem Lehrbuch: ruhig und gleichmäßig. Ich bin mir sicher, wenn sie gewusst hätte, dass sie der Norm entsprechend atmete, so wie man es von ihr verlangte, hätte sie versucht, etwas daran zu ändern.

Die oberste Lamelle der Jalousie stand offen, sodass sich meine Augen, während ich an die Decke starrte, langsam an die Dunkelheit gewöhnten und mir der Raum nach einiger Zeit taghell vorkam.

Das war erwartbar gut gelaufen mit den neuen Freundinnen, dachte ich, sogar besser, Erwartungen übertroffen. Ich wusste, wie bereits erwähnt, um mein großes Talent des Farbwechsels. Auch bei Chamäleons dient die aktive Veränderung oberflächlicher Farbzellen nicht vordergründig der Tarnung, sondern der Kommunikation mit Artgenossen. Ich hatte gleich vier Artgenossen angelockt. Ob ich jede Einzelne von ihnen wirklich mochte, eine Verbindung spürte, war erst einmal zweitrangig. Sie waren da, und ich war mittendrin, das zählte. Kati mochte ich sehr. Sie war süß wie Nadines liebste Schokolade, Rittersport Knusperflakes. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand sie nicht mochte. Anna war mir noch ein Rätsel, sie drehte sich wie ein Fähnchen im Wind und konnte sich oft nicht entscheiden, ob sie Sofie oder Jessi nach dem Mund reden sollte, dann schlug ihre Stimmung plötzlich komplett um, und sie tat das Gegenteil von allem, was ihr noch kurz zuvor richtig erschienen war. Jessi war meist übermüdet und vermeintlich schlecht gelaunt, worauf sie aber offenbar ihre Persönlichkeit aufbaute. Miese Laune war hier also eher Lifestyle als tatsächlicher Gemütszustand. In Thorstens Gegenwart verwandelte sie sich in eine seltsam mausige Version von sich selbst, ihre Stimme vier Oktaven höher.

Sofie, ja Sofie, da konnte ich sagen, was ich wollte, und dennoch war sie Hirn und Antrieb der Damenbande. Sie hielt die unterschiedlichen Teile zusammen wie ein Kleber, sie gab die Richtung vor, keine Entscheidung wurde ohne sie getroffen. Auch das Tempo bestimmte stets sie und bremste dementsprechend manches Vorhaben unter dem Deckmantel von Gleichgültigkeit und Coolness aus.

Nach meiner Analyse über die Damenbande dachte ich noch eine Weile über Nadine und ihre Einsamkeit nach, darüber, dass sie eigentlich eine kleine Sofie hätte sein können, ich überlegte, warum glühender Stolz manchmal an die Spitze und manchmal in die Einsamkeit führte. Als ich damit nicht weiterkam – meine Gedanken sprangen am Abend häufig hin und her wie die Kinder bei ›1, 2 oder 3 – letzte Chance vorbei!‹ –, dachte ich daran, und das tat ich abends besonders gern, wer aus meinem Umfeld wohl gerade genau wie ich im Bett lag. Frau Meinke lag sicher schon seit Stunden im Bett, die kurzen, sonst adrett frisierten Haare nun etwas platt gedrückt, in einem geblümten Schlafanzug, neben ihr dann wohl Herr Meinke, vermutlich laut schnarchend. Auf ihrem Nachttisch, sorgfältig mit Lesezeichen versehen, irgendein Krimi. Ich war mir sicher, dass die beiden so eine gekreppte Bettwäsche hatten, die sich ganz eklig auf der Haut anfühlte und die nur alte Menschen besaßen.

Ich dachte daran, dass mein Vater gerade in unserem ehemaligen Zuhause war. Er lag noch immer in dem Bett, das er jahrelang mit meiner Mutter geteilt hatte. Morgen früh würde er in die Küche gehen, die auch mal unsere gemeinsame Küche gewesen war, und sich Frühstück machen. Ich war mir unsicher, ob mein Vater sich überhaupt allein Frühstück machen konnte. Die Vorstellung war irgendwie bizarr. Jetzt kippte das abendliche Nachdenken ins hässliche Grübeln, das passierte immer dann, wenn der Körper nicht schon beim okayen Nachdenken das Licht ausknipste. Irgendwann war man im Kopf zu weit gegangen, eben lief man noch über grünes, saftiges Gras, das so aussah wie das vor Angelicas Fenster, und dann berührten die nackten Füße plötzlich graue und tote Halme. Vor mir umgeknickte Bäume und schwere Düsternis, ich wirbelte herum, aber ein Zurück gab es nicht mehr. Ich konnte nicht mehr zurück ins Schlafzimmer der Meinkes und über ihre Bettwäsche lachen. Stattdessen stand ich neben meinem Vater in der Küche und sah zu, wie er es nicht schaffte, die Kaffeemaschine anzustellen, mein armer, hilfloser Vater, er brauchte doch seinen Kaffee, und niemand war da, um ihm zu sagen, dass man den Einschaltknopf nicht nur einmal, sondern zweimal hintereinander ziemlich fest drücken musste. Unfähig, ihm zu helfen, starr, wie eingefroren, musste ich zusehen, wie er schließlich aufgab und sich stattdessen ein Glas mit Leitungswasser füllte. Dann saß er da, allein am Küchentisch, an dem viel, viel früher mal Nadines Hochstuhl gestanden hatte, an dem ich krakelige Bilder gemalt hatte von Familien, die aus vier Personen bestanden. Es riss mich förmlich auseinander. Am nächsten Morgen erst, Stunden nachdem mein Gehirn mich mit diesen Bildern gequält hatte, sollte mir wieder einfallen, wie mein Vater entnervt geseufzt hatte, wenn Nadine schrie, wenn sie ihre Schale mit Babybrei umwarf, wenn ich eine Frage stellte, wenn er meine Mutter nur ansah. Mir sollte einfallen, wie er sich vor seiner Familie zurückzog, wie er so tat, als ginge ihn das alles nichts an, wie er den Eindruck erweckte, er wäre in die Falle gelockt worden, von meiner Mutter, von uns, als wäre er irgendwie ausgetrickst worden, dieser arme Mann.

Wochen später würde Angelica sagen: Deine Eltern haben all diese Entscheidungen getroffen, meine Liebe, nicht du.

Aber davon war ich weit entfernt an diesem Abend im dunklen, taghellen Zimmer. Ich drückte meine Hände fest ineinander, atmete schneller, die Vorstellung quälte mich so sehr, dass ich am liebsten aufgestanden wäre, das Haus verlassen hätte, um meinem Vater die Tasse Kaffee zu machen, die er so dringend brauchte. Am Freitagabend um 23:14 Uhr.

Ich drehte mich von einer auf die andere Seite, klappte mein Kopfkissen um, versuchte, meinen Kopf auszuleeren, doch die Vorstellung von meinem Vater, allein am Küchentisch, mit seinem Leitungswasser, wollte einfach nicht verschwinden. Dann wurde es noch schlimmer, denn mir fiel ein, dass ich noch jemanden allein gelassen hatte: Zlatko. Klein, verwirrt, ängstlich saß er sicher irgendwo in einer Ecke und wusste nicht, wohin mit sich. Nicht mal Leitungswasser hatte er.

Menschen, denen das allabendliche Grübeln unbekannt ist, werden an dieser Stelle sicher den Kopf über mich schütteln. Im Grunde wusste ich selbst, dass die Nacht alles verdreht, alles größer macht, maßlos übertreibt, aber es war nun mal so, dass wenn man erst mal auf dem grauen Teil der Wiese stand, es kein Entkommen mehr gab.

Irgendwann hörte ich Zlatko dann durch die Wohnung schleichen. Kleine, trippelnde Schritte, die nach einer Weile näher kamen. Dann wurde meine Bettdecke von winzigen Pfoten nach unten gedrückt, er wuselte zunächst noch durch meine Haare, dann war er dicht an meinem Ohr. Seine Barthaare kitzelten recht unerfreulich auf meiner Haut. Er würde jetzt gehen, flüsterte er. Er müsse mich aber unbedingt noch wissen lassen, was für ein blöder Fotzkopf ich doch sei. Während er das sagte, trat er kräftig gegen meinen Kopf, es tat nicht besonders weh, er war ja nur ein Hamster. Trotzdem schlug ich ärgerlich nach ihm, doch er war schon weg. Er stand im Türrahmen, war plötzlich so groß wie meine Mutter und sah auch irgendwie so aus wie sie, er trug diese schreckliche beigefarbene Strickjacke, die meine Mutter dreimal besaß, und während er sprach, sah er die Wand an. Ich glaube, er hatte noch Zlatkos Gesicht, aber es wurde von dem fransigen, blond gesträhnten Bob meiner Mutter umrahmt. Ich nahm die Typveränderung ungerührt hin. Er war ein Hamster, den musste man machen lassen, sonst ging alles schief.

Warum er denn nicht bleiben könne, fragte ich. Das sei doch klar, erklärte Zlatko, während er die Tür langsam Zentimeter für Zentimeter schloss. Unsere Familie sei ein Käfig, und er hasse nun mal Käfige. Hier käme niemand lebend raus, schon gar nicht, wenn man immer nur so leise fiepen würde wie der letzte Nager, da müsste man schon mal etwas lauter sein. Ob ich das verstehen würde, fragte er und stampfte so heftig mit seinen Pfoten auf dem Boden herum, dass die ganze Wohnung bebte.

Ich solle es doch auch mal versuchen, meinte er noch, als die Tür nur noch einen winzigen Spalt geöffnet war.

Weiß sie überhaupt, wie das geht, weiß sie es?, krakeelte er laut und schrill.

Besorgt warf ich einen Blick auf Nadine, die friedlich schlummerte und von dem ganzen Krach nichts mitbekam. Ich wollte etwas antworten, aber meine Stimme war weg, so richtig. Kein Krächzen, kein heiseres Flüstern, kein gar nichts. Die Tür war fast zu. Verzweifelt versuchte ich, Worte zu produzieren. Nichts passierte.

Was für ein Pech das doch sei, Zlatko kicherte richtig böse, so hatte ich ihn noch nie lachen hören. Dann schrie er: Du bleibst im Käfig.

Ich zuckte zusammen, und die Tür ging endgültig zu.

Trotzdem hörte ich ihn durch die Tür weiterreden. Er monologisierte darüber, ob er wohl noch mal zurückkäme, vielleicht eines Tages, aber nicht in naher Zukunft. Ein Scheppern verriet mir, dass er offenbar die Küchenschränke nach Proviant durchsuchte. Ich konnte nur hoffen, dass er nichts von Nadines Müsli nahm, oder zumindest nur so viel, dass sie morgen noch genug hatte, sonst würde es sicher Ärger geben.


Am Montagmorgen, zwei Tage später, fand ich den toten Zlatko hinter unserem Bioabfall. Ich war in die Hocke gegangen, um eine Bananenschale aufzuheben, die ihr Ziel verfehlt hatte, und dann sah ich den kleinen, steifen Körper. Er lag auf der Seite, die Pfoten eng an der Brust, das kleine Mäulchen geöffnet, sodass ich seine Zähne sehen konnte. Mit einem Finger strich ich über sein Fell, das noch immer weich war, aber sich plötzlich künstlich anfühlte. Der Kloß in meinem Hals war riesig, als ich ihn in beide Hände nahm. Ich sog meine Lippen ein und presste die übrig gebliebenen Ränder fest zusammen. Dann hörte ich Nadines Schritte im Flur. Zlatkos Leichnam verschwand in meiner Schultasche. Niemand sollte mit diesem Elend behelligt werden. Meine Mutter sah an diesem Morgen eh schon wieder so aus, als lastete der gesamte Schmerz der Welt auf ihr, und Nadine war verschlafen und grummelig. Einen verstorbenen Hamster wollte ich ihnen nicht zumuten.

Minuten später war ich auf der Straße. Sorgsam setzte ich einen Schritt vor den anderen. Bis zur Bushaltestelle trug ich den toten Zlatko, nahm ihn sachte aus meinem Rucksack und legte ihn dort unter ein Gebüsch. Ich gab mir noch fünf Sekunden, in denen ich ihn anschaute. Es war mir wichtig, dass ihn jemand zum Schluss noch einmal ganz genau ansah, jemand mit Verbindung zu ihm, ich, die ihn gut gekannt hatte. Dann legte ich einen kleinen Zweig mit Blättern über ihn, sodass er ab jetzt seine Ruhe hatte und vor neugierigen, fremden Blicken geschützt war. In zwei Minuten würde der Bus kommen. Ich fächelte mir Luft zu, um das verräterische Rot von meinen Augen und meiner Nase zu vertreiben. Nicht dass sich noch irgendeine Oma im Bus dazu berufen fühlte, die Fürsorge, die ihre Enkel nicht haben wollten, an mir auszuleben. Ich kam klar. Das tat ich immer.

Die achtminütige Busfahrt verbrachte ich damit, mein Handgelenk über das gebrochene Plastik an der Unterseite meines Sitzes zu reiben. Am Ende der Fahrt war die Haut gerötet und aufgerissen und lenkte mich hervorragend vom inneren Schmerz ab.


In der Schule ging es an diesem Tag um statische und quasistatische elektrische Felder, um Mitose, um Menschenbilder und um Jessis neue Jeans. Vereinzelt wurde noch über das Nacktfoto von Juliane Peters aus der Neunten gesprochen, das sie an einen Jungen aus der Parallelklasse per msn gesendet und das der kleine Wichser an die ganze Schule verschickt hatte, noch bevor Juliane ihre orangefarbene Nikon Coolpix wieder in der Schublade verstauen konnte.

Über die Teilung des Zellkerns – Pro, Prometa, Meta, Ana, Telo und fertig – hatte ich bereits im März in Bad Driburg alles gelernt. Das sagte ich aber nicht. Wenn man einem Lehrer so was sagte, bekam man entweder eine Extra-Aufgabe oder musste die ganze Stunde die kleine, schlaue Assistentin spielen. In diese Falle war ich oft genug getappt. Ich wusste ja aufgrund meiner permanenten Selbstbeobachtung, dass ich nicht Nein sagen konnte, also mussten derartige Lagen direkt im Vorfeld vermieden werden. Ich war schließlich keine einfache Allerwelts-Lebenshandwerkerin, die sich freiwillig für jeden die Finger schmutzig machte.

»Die Katha kennt sich ja schon aus, die könnt ihr auch fragen, wenn ihr Hilfe braucht«, dieser Satz würde zwangsläufig kommen, wenn ich mich als Mitose-Wissende offenbarte. Ich hielt also schön den Mund und genoss meine freie Zeit, indem ich aus den Augenwinkeln beobachtete, wie die Sonne, die schräg durch die schmutzigen Fenster hereinschien, sich in Katis Locken verlor.


»Ich glaub, ich tausch die Jeans um. Irgendwie sieht mein Arsch da so komisch drin aus«, sagte Jessi in der großen Pause, verdrehte den Oberkörper und begutachtete mit skeptischem Blick ihre Rückseite. Wir hingen wieder hinter der Sporthalle rum.

»Sieht doch voll gut aus«, meinten Kati und ich im Chor.

»Chips-Cola«, schrie ich, bevor Kati auch nur begriffen hatte, was vor sich ging.

»Keiner sagt ihren Namen«, brüllte Sofie.

»Hey, wisst ihr, was ein cooler Name ist?«, fragte Anna in die Runde. »KA- rina!«

»Ich esse richtig gerne KA- rtoffelsalat«, sagte ich.

»Jessis Arsch sieht in der Jeans richtig KA- cke aus«, meinte Sofie.

So machten wir noch eine Weile weiter, und Kati saß da, mit betrübtem Blick, zum Schweigen verdammt, bis jemand ihren Namen aussprach. Still aß sie ihr Butterbrot, während wir anderen plapperten. Schon nach kurzer Zeit tat sie mir leid, und ich bereute, dass ich sie verhext hatte. Doch ich wagte es nicht, mich Sofies Befehl zu widersetzen.

Als wir zurück zum Unterricht gingen, sah Kati mich von der Seite mit großen Augen an, deutete auf ihren Mund und machte eine flehende Geste mit den Händen. Ich hob entschuldigend die Arme und fühlte mich angesichts ihrer traurigen Augen hundeelend.

Die Doppelstunde Physik begann, und Katis Hand schoss sofort in die Höhe. Der junge Referendar blinzelte verwirrt, einerseits, weil es so früh noch keine Fragen geben konnte, und andererseits, weil Kati sich in seinem Unterricht sonst nie zu Wort meldete. Mir war klar, welchen Plan sie verfolgte. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann begriffen Kati und ich im selben Moment, dass er ihren Namen nicht kannte. Doch glücklicherweise hatten wir es hier nicht mit einem ernüchterten Fünfzigjährigen, sondern mit einem übermotivierten Endzwanziger zu tun, der unsere Namen am ersten Tag fein säuberlich in einen selbst gezeichneten Sitzplan eintrug. Auf diesen schielte er jetzt und rief dann:

»Ja, bitte, Kati?«

Kati atmete lautstark aus, so als wäre ihr nicht nur das Sprechen, sondern auch die Sauerstoffaufnahme untersagt worden.

Der Physiklehrer schaute verwirrt.

»Äh, kann ich die Tafel für Sie putzen?«, fragte Kati und sprang leichtfüßig nach vorne, ohne eine Antwort abzuwarten.

Ich war mindestens so erleichtert wie sie.

Zwanzig Minuten bevor die Schulglocke zum großen Finale dieses Montags klingelte, landete ein kleiner, zusammengefalteter Zettel auf meinem Tisch. Der Zettel war in erster Linie an Jessi adressiert, darunter, in Klammern und etwas kleiner, stand:

Weitergeben an Anna, Kati und Katha.
Nach der Schule gehen wir zu mir.
Sofie

Alle Fenster waren geöffnet. Sonnengelbe Vorhänge flatterten zart und verheißungsvoll im Durchzug. Nachdem ich die erste Schüchternheit abgelegt hatte – noch nicht zur Gänze, aber Teile davon –, kam mir alles noch viel besser vor als am vergangenen Donnerstag. Die Wirkung dieses Ortes ließ die dumpfe Erinnerung an Zlatkos kleine, steife Pfoten, die mich den ganzen Tag über immer wieder heimgesucht hatte, kurzzeitig irgendwo zwischen Hippocampus und Amygdala versickern. Wie selbstverständlich sah ich, dass Jessi sich erneut mit einem theatralischen, ihrer selbst gewählten Rolle angemessenen Seufzer in die Hängematte warf. Anna im weißen Plastikstuhl, Kati und ich auf der Bank unter Angelicas Fenster, Sofie irgendwo in der Wohnung. Nach einer Weile kam Angelica ans Fenster, schwang die Beine hinaus, sodass Kati und ich ihr Platz machten, und rief:

»Habe die Ehre, meine Damen!«

Im Sitzen machte sie eine tiefe Verbeugung und tat, als würde sie einen imaginären Hut ziehen. Kati, Anna und ich kicherten. Jessi hatte die Augen geschlossen und dementsprechend nichts mitbekommen.

»Was gibt’s Neues, meine Lieben?«, fragte Angelica, und Jessi stöhnte: »Nichts, wie immer, alles ist langweilig.«

»Ach herrje, ihr Armen, das Leben spielt euch wirklich übel mit«, antwortete Angelica und ahmte Jessis theatralischen Tonfall nach. Ich sah zu ihr hoch, und sie zwinkerte mir zu.

»Würden denn vielleicht ein paar Pierogi mit Zwiebelchen die Laune heben? Mir war heute Vormittag plötzlich so hausfraulich zumute, und da habe ich etwas zu viel gekocht.«

»Jaaa«, brüllten Kati und Anna, während Jessi einen ausgestreckten Daumen in die Höhe hielt.

Wenig später saßen wir alle beisammen mit jeweils einem Teller Teigtaschen auf dem Schoß und kauten andächtig vor uns hin. Jessi hatte sich unter Seufzen und Ächzen zu uns gesellt, da Angelica sich geweigert hatte, ihr das Essen bis in die Hängematte zu servieren, und auch Sofie war aus den Tiefen der Wohnung aufgetaucht. Sie hockte neben Jessi auf dem Rasen.

»Gewöhnt euch bloß nicht daran, ihr Heuschrecken, ich mutiere in diesem Leben nicht mehr zur guten deutschen Hausfrau«, sagte sie, hob drohend den Zeigefinger und sah uns aber gleichzeitig mit einem liebevollen Ausdruck in den Augen an, der so gar nicht zur Drohgebärde passen wollte. »Und ich brauche eine Freiwillige für den Abwasch.«

Alle stierten Löcher in die Luft oder taten so, als ob die Nahrungsaufnahme so viel Aufmerksamkeit benötigte, dass man zu keiner Art von Kommunikation mehr in der Lage war.

»Was ist mit dir?«, fragte Angelica und sah mich an. »Wir hatten noch gar nicht das Vergnügen.«

»Äh ja, klar«, stammelte ich und verschluckte mich halb an einer Teigtasche.

Kurze Zeit später stand ich neben ihr in der Küche und trocknete Töpfe, Besteck und Geschirr ab. Verstohlen sah ich mich in der Küche um und versuchte, einen Blick auf die restliche Wohnung zu erhaschen. Es gab viel zu sehen. Angelica besaß eine Menge Krams, aber nicht dieses deutsche Möbelhaus-Dekozeugs. Vieles schien selbst gemacht oder geerbt oder gesammelt oder sonstwoher. In der Küche gab es viel buntes Geschirr, schiefe Müslischalen, getrocknete Blumen, die von der Decke hingen, einen kleinen roten Tisch, der aussah, als hätte Angelica ihn selbst gestrichen, alles war irgendwie zusammengewürfelt. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass im Flur ein bunter Flickenteppich auf dem Boden lag, die Wände waren voller Bilder, die eine jüngere Sofie gemalt haben musste, sie zeigten Blumen, Menschen, Tiere, alles in kindlichem Zeichenstil. Auf einer schiefen Kommode, an der eine Schublade fehlte, stapelten sich Bücher, Zeitschriften und Briefe.

Angelica fragte mich, wie es mir in der neuen Stadt und an der neuen Schule gefiel, ich nuschelte etwas Vages vor mich hin. Ihre Fragen machten mich nervös, einerseits, weil sie mich zum Nachdenken zwangen, und andererseits natürlich, weil ich mit meinen Antworten gefallen wollte.

Meine Mutter stellte entweder keine Fragen oder gab sich mit Antworten wie »gut« oder »alles wie immer« zufrieden. Solange es keinen Ärger gab, hatte sie nicht das Gefühl, sie müsse sich weiter interessieren. Angelica allerdings hakte nach, spezifizierte ihre Fragestellungen, wenn sie das Gefühl bekam, sie wären nicht präzise genug formuliert gewesen. Es war ungewohnt.

Sie fragte nach meiner alten Schule, ob es mir schwergefallen war, mitten im Schuljahr zu wechseln, ob der Unterrichtsstoff ähnlich sei, welche Fächer mir gefielen, ob ich genau die gleichen Fächer belegte wie an der alten Schule, ob es schwierig gewesen sei, meine Schulfreundinnen zu verlassen, wie ich mich am ersten Tag gefühlt hatte, ob es große Unterschiede gäbe zwischen Dortmund und Bad Driburg, was mir dort besser gefiel, was mir hier besser gefiel. Ich antwortete erst schnell und knapp, aber mit der Zeit brauchte ich länger für meine Antworten, die im Gegenzug ausführlicher wurden.

Irgendwann sagte Angelica: »Ist denn so insgesamt alles in Ordnung bei dir, Liebes? Da ist heute etwas in deinem Blick, das vergangene Woche noch nicht da war.«

In meinem Hals bildete sich innerhalb von Sekunden ein ekliger, stopfender Kloß. Ich presste die Lippen aufeinander und spannte alle erdenklichen Muskeln zwischen Kiefer und Bauch an, sodass ich alles, was dort gerade drohte, sich groß und dramatisch aufzutürmen, stattdessen weiter ins Innere stülpte. So machte ich das eigentlich immer. Egal, ob ich am oberen Ende der Treppe im Bad Driburger Reihenhaus stand und hörte, wie mein Vater sagte, dass er jetzt genug von »der ganzen Scheiße» habe, oder ob meine Mutter mich ausschimpfte, weil ich zugelassen hatte, dass Nadine am Umzugstag in ihrem Kommunionkleid am Frühstückstisch auftauchte, egal, ob Wut oder Schmerz, alles wurde gut verpackt, gut verstülpt. Nichts durfte nach außen dringen. Manchmal schlang ich in diesen Momenten sogar die Arme fest um mich, damit nichts verrutschen konnte. Stülpen, stülpen, stülpen. Da war schließlich riesig viel Platz in mir.

Angelicas direkte Frage traf mich wiederum so unvorbereitet, dass sich beim Stülpen etwas verhedderte. Zu allem Überfluss sah ich genau in dem Moment zu ihr herüber, als sie mir einen besorgten Blick zuwarf. Unsere Augen blieben kurz ineinander hängen, und das war offensichtlich zu viel für mich.

»Ich hab heut meinen Hamster neben dem Müll gefunden«, sagte ich, meine Stimme klang rau. »Er ist gestorben.«

Einfach mal den Mund halten, dachte ich und schluckte mehrmals hintereinander. Ich versuchte, alles wegzustülpen, was jetzt plötzlich nach oben drückte, aber es wollte nicht so recht gelingen.

Angelica hörte augenblicklich auf, das Geschirr zu spülen. Ihre Hände verteilten das Spülwasser auf ihrer Stoffhose. Dann drehte sie sich zu mir, stützte eine Hand in die Hüfte, die andere fand Platz auf der Küchenarmatur.

»Das klingt furchtbar«, sagte sie.

»Ja«, sagte ich. Ich konnte sie nicht ansehen und betrachtete stattdessen eingehend den Druck eines Sonnenblumenbildes, das neben der Tür hing. So sehr konnte sich niemand für van Gogh interessieren, das wusste wohl auch Angelica. Ich spürte ihren Blick auf meinem Gesicht.

»Wie ist das passiert?«, fragte sie.

Ich atmete tief ein, von mehreren Signalpunkten meines Körpers wurde gemeldet: Stülpen fehlgeschlagen. Ausatmen, und dann erzählte ich ihr von Nadine und mir, davon, wie wir unsere Abende verbrachten, ich beschrieb ihr, wie Nadine war, und plötzlich war ich mittendrin, ich nahm eine Schleife nach der anderen, nach einer Weile wusste ich nicht, ob Angelica überhaupt noch mitkam, irgendwann hörte ich mich über die Scheidung meiner Eltern reden, legte an Tempo zu, weil sie das sicher nicht weiter interessierte, aber ich musste zumindest kurz erklären, wie wir zu Zlatko gekommen waren, ich redete so schnell, dass sie sicher Kopfschmerzen bekam, also sprach ich langsamer, dann vergaß ich kurz, was ich sagen wollte, wo ich noch mal hinwollte, irgendwie baute ich noch die Nachbarn mit ein, die uns sicher hatten trampeln hören an dem Abend, als Zlatko entkommen war, was das für die Geschichte tat, wusste ich nicht, aber ich dachte doch, dass ich die Nachbarn erwähnen sollte, damit Angelica wusste, dass ich an die Nachbarn dachte, nicht dass sie glaubte, mir wären meine Mitmenschen egal, zwischen zehn und zwanzig Mal während meines Monologs entschuldigte ich mich für mich selbst, dafür, dass ich überhaupt sprach, und Angelica wedelte mit der Hand und sagte, um Gottes willen, weiter, nur weiter, und dann redete ich auch weiter, ich machte noch einen riesigen Bogen über die letzte Big Brother -Staffel, warum diese niemals mit der ersten und zweiten mithalten konnte, wen Nadine und ich in der ersten Staffel gemocht hatten und wen nicht und warum und dass wir das alles auf Videokassette hatten, immerhin war das wichtig, damit Angelica verstand, warum Zlatko Zlatko hieß, nein, geheißen hatte, Kloß im Hals, das Sonnenblumenbild war jetzt wieder sehr spannend, dreizehn, vierzehn, wo sollte da eine fünzehnte sein, na ja, jedenfalls sollte er doch nur kurz mal raus, ich erzählte, wie Nadine ihn zum Schiedsrichter, zum König, gemacht hatte und dass er dann weg gewesen war, von seiner Verabschiedung und seinen Plänen, aber ich lachte zittrig dazu und merkte an, dass ich das wohl nur geträumt hatte, nicht dass Angelica glaubte, ich bräuchte Hilfe. Schließlich endete ich damit, dass ihn wohl der Schreck der Freiheit zu sehr mitgenommen hatte.

»Das ist ja eine ganze Menge, was der arme Zlatko da mitgemacht hat«, sagte sie.

»Ja«, ich wandte meine Augen von dem Sonnenblumenbild ab und sah hellgrün.

»Warum hast du deiner Mutter nichts gesagt?«, fragte Angelica.

»Ich weiß nicht«, sagte ich, obwohl ich es wusste. Es war kompliziert.

»Werden sie sich nicht wundern, wohin der Hamster verschwunden ist?« Angelicas Stimme war sanft, sie klang nicht vorwurfsvoll, eher interessiert.

Ich zuckte mit den Schultern.

Nach einer Pause sagte ich:

»Es ist besser so, meine Mutter wird es vergessen, und Nadine kann daran glauben, dass er irgendwann zurückkommt« – kurze Pause, dann setzte ich noch ein »Es ist echt besser so« hinten dran. Ob ich damit Angelica oder mich überzeugen wollte, war nicht ganz eindeutig.

»Du wolltest die ganze Traurigkeit für dich allein, hm?«, sagte Angelica lächelnd, »wie egoistisch von dir.«

Ich riss den Mund auf, starrte sie an und suchte nach Worten. Offenbar sah ich wütend aus, denn sie setzte nach:

»Liebes, schau mal. Du kannst nicht die Traurigkeit der ganzen Welt für dich allein haben, auch die anderen dürfen ruhig ein bisschen was davon abhaben. Deine Mutter hält das schon aus, und auch deine Schwester verkraftet die Wahrheit, glaub mir. Du meinst es gut, das verstehe ich, aber wenn du als Einzige die ganze Traurigkeit nimmst, dann ist das ein bisschen zu viel, besser man verteilt das Gewicht ein bisschen, oder?«

»Hm«, sagte ich nur und drehte mich wieder zur Küchenanrichte.

Auch Angelica wandte sich erneut der Spüle zu. Schweigend fuhr sie mit dem Schwamm über Teller, Tassen und Löffel, stumm drehte ich das nasse Zeug anschließend durch das Küchenhandtuch.

Das Gewicht verteilen, klar, das klang im ersten Moment plausibel, aber es lastete ja schon genug auf meiner Mutter und Nadine, das wusste Angelica eben nicht, aber ich wusste es, und dementsprechend musste ich nun mal handeln. Wie immer war ich die Einzige, die das große Ganze durchschaute, und so war es am besten, wenn ich weiterhin die Verantwortung übernahm. Natürlich hatte Angelica es gut gemeint, ich war ihr dankbar, aber am Ende hatte sie einfach nicht den Überblick. Sie wusste nichts von der immerwährenden, fatalistischen Traurigkeit meiner Mutter, die in mir zwar häufig unbändigen Zorn auslöste, mich jedoch gleichzeitig zwang, alles von ihr fernzuhalten. Die Traurigkeit meiner Mutter war eine Ansammlung von Kratern, in die alles hineinfiel, wenn man ihr zu nah kam. Deswegen musste Nadine stets an meiner Hand bleiben, und meine Mutter, die aus den eigenen Kratern nicht mehr herauskam, durfte nicht belästigt werden.

Auch über Nadine wusste Angelica nichts, mal abgesehen von den paar Schnipseln, die ich vorhin erwähnt hatte. Sie hatte keine Ahnung von ihrer Rolle als gescheiterter Eheretterin, sie ahnte nichts von dem verloren gegangenen Blick meiner Eltern, nichts von Zetteln und nichts von Gummibärensaft oder Streifenhörnchen auf Rettungsmission, und sie wusste eben nicht, dass es meine Aufgabe war, das ganze System aufrechtzuerhalten. Ihr war ja nicht klar, dass wenn ich die Fäden losließ, wenn ich meine Mutter und meine Schwester mit toten Hamstern konfrontierte, dass dann alles zusammenbrechen würde. Trotzdem würdigte ich Angelicas warme Worte mit höflicher Dankbarkeit.

Als wir fertig mit dem Abwasch waren, kletterte ich auf die Küchenfensterbank und sagte leise über die Schulter:

»Danke, Lica.«

Dann sprang ich von der Fensterbank in den Garten und ging zu Kati, die sich den Platz in der Hängematte erobert hatte.

»Pass auf«, quiekte sie, als ich versuchte, zu ihr hineinzuklettern. »Du musst das Gewicht richtig verteilen, sonst fallen wir beide.«


Die ersten Wochen des Sommers flossen dahin. Nadine trank Unmengen Capri-Sonne und beschwerte sich über alles Ungerechte. Meine Mutter schüttete allabendlich Weißwein mit Eis in ein Glas und starrte ins Nichts. Mein Vater trank vermutlich Leitungswasser und rief selten an. Ich trank Eistee vor Angelicas Fenster, ich lutschte an Cola-Wassereis im Schwimmbad, ich kippte das V+ herunter, das Thorsten uns am Kiosk kaufte, und konnte nicht glauben, wie freundlich das neue Leben zu mir war.

Dass Thorsten mir nach drei Mischbieren widerliche Dinge ins Ohr flüsterte, wenn Jessi pinkeln oder sonst irgendwie außer Hörweite war, blendete ich aus. Solche Nichtigkeiten durften mir nun wirklich nicht im Wege stehen und die Idee eines perfekten Sommers stören. Überdies hatte ich mich auch damit abgefunden, dass sich die meisten Männer merkwürdig verhielten – Referenzpunkte waren mein Vater, meine zwei Großväter, die Jungs in meiner Klasse und eben Thorsten – und dass es Zeitverschwendung war, das groß zu hinterfragen.


Die Quadratmeter vor Angelicas Fenster wurden für mich zum schönsten Ort.

Es gab nach dem ersten Gespräch zunächst keinen Moment zu zweit mit ihr, was mir gelegen kam, ich schämte mich für meinen emotionalen Ausbruch. Wegen dem ollen Zlatko war ich ein bisschen neben der Spur gewesen, und Angelica glaubte sicher, ich wäre nicht ganz richtig im Kopf. Natürlich ließ sie sich nichts anmerken, ihr Blick lag warm und wohlwollend auf mir wie am ersten Tag. Trotzdem versuchte ich in der Zeit danach, das Bild zu korrigieren und so lässig und abgeklärt wie möglich rüberzukommen, eine besonders souveräne Version meiner selbst abzugeben, was sich als gar nicht so leicht erwies.

Die Zeit am Fenster konnte man im klassischen Sinne als Abhängen bezeichnen. Wir besetzten die verschiedenen Gartenmöbel, Angelica stellte Fragen zu unserem Schultag, wir erzählten, und sie hörte zu, zwischendurch versuchten wir uns an den Hausaufgaben, Angelica verschwand gelegentlich im Haus, um Haushaltskram zu machen, manchmal kam sie mit einem Teller Kekse zurück, aber sie verhätschelte uns nicht, die Pierogi blieben eine Seltenheit, wenn auch eine beliebte. Wenn wir Hunger hatten, deutete sie in der Regel auf Herd und Küchenschränke, und manchmal kochten Kati oder Anna dann einen Topf mit verklebten, matschigen Nudeln. Später nahm ich mich meist dieser Aufgabe an. Ich brauchte eine Weile, um mich an all das heranzutasten, was mir an diesem einzigartigen Ort serviert wurde.

Jessi war keine Köchin, wenn keine Nudeln gekocht wurden, latschte sie manchmal mit Anna im Schlepptau in den nahe gelegenen Penny und kam mit den billigsten Chips und riesigen Flaschen Eistee, die sie fast allein trank, zurück. Angelica sagte uns nie, was wir zu tun hatten und was nicht. Das hieß nicht, dass sie mit ihrer Meinung hinterm Berg hielt. Jessis Eistee-Obsession kommentierte sie wie folgt:

»Liebes, 1,5 Liter flüssiger Zucker in Plastik, diese Sucht wird dich noch in den Abgrund treiben.«

Dann sah sie auf die Zigarette in ihrer Hand, hob die Brauen, zuckte mit den Schultern, und wir lachten alle wie die Bekloppten.

Es schien, als wäre die alles überziehende Gleichgültigkeit, die jedes Teenagerleben in eine nicht zu durchbrechende Form aus Coolness verpackte wie ein schlaffes Pausenbrot in Frischhaltefolie, als wäre diese Gleichgültigkeit an Angelicas Fenster löchrig, im guten Sinne. Woran das lag, bekam ich nicht so richtig heraus. Vielleicht war es Angelica, die unsere erzwungene Coolness durchschaute und mit ihren spitzen Kommentaren in unsere scheinbar abgeklärte Attitüde hineinpikste wie eine Nadel, immer wieder, sodass wir gar keine Chance hatten, als am Ende wir selbst zu sein oder das zu sein, was sich gerade eben entwickelte, das war schließlich nicht immer so ganz klar.

Wenn man so jung war wie wir damals, überraschte einen die eigene Gefühlslage jeden Tag neu. Manchmal war da auch wochenlang nur irgendwas Dumpfes. Oder ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, kam die große Dramatik, ob positiv oder negativ. Ich erinnere mich wirklich nur sehr ungern daran, wie ich einen schrecklichen Tag im Juli glaubte, in Dennis Krawczyk verliebt zu sein, und mich in Zukunftsfantasien hineinsteigerte, nur um am nächsten Tag mitzuerleben, wie er seinen Furz vor der gesamten Klasse mit einem Feuerzeug anzündete. Den Rest meines Lebens schämte ich mich für diesen gefühlsschwachen Dienstag.

Fühlen und dann ein bisschen schämen ist besser als ewige Gleichgültigkeit, das denke ich heute, vielleicht dachte ich es schon damals. Ich kannte die Gleichgültigkeit auch aus Bad Driburg, und bereits da nervte sie. Eine Passivität getarnt als Gleichgültigkeit, als unerträgliche Coolness, lag oft wie ein schweres Paar Ketten auf meinen damaligen Freundinnen und mir und hielt uns bei allem zurück. Keine nassen Haare im Schwimmbad, man könnte ja blöd aussehen, besser noch Shorts überm Bikinihöschen, die Rasierpickel und eingebildete Dellen am Po überdecken sollten, es kam manchmal einem Spießrutenlauf gleich. Meine Jugend fühlte sich dann an wie ein viel zu langer Schaufensterbummel. Die Welt lag ausgebreitet zu unseren Füßen, aber wir nahmen uns zu wichtig, waren zu cool für alles.


Möglicherweise hatte die löchrige Gleichgültigkeit an Angelicas Fenster auch mit Sofie zu tun, die hier nicht so über uns herrschte, wie sie es in der Schule tat. Sie nahm in diesem außerschulischen Abhängen eine merkwürdige Rolle ein.

Sofie ging nie mit uns zusammen ans Fenster, jedes Mal nahm sie den Weg über die Haustür und blieb dann für eine Zeit verschwunden, manchmal sahen wir sie fast gar nicht. Dann war sie plötzlich da, lehnte sich neben ihre Mutter auf die Fensterbank und nahm eine Zigarette aus der Packung. Mutter und Tochter, die eine entspannt, sonnenhell, weich, die andere schmal, hellblondes Haar, fast weiß, mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck, wie ihn sonst nur alte Menschen haben, auf den ersten Blick wenig gemeinsam, keine Gilmore Girls , und doch bildeten sie in diesen Momenten eine Einheit, die neidisch machte – mich zumindest. Immer öfter würde ich Sofie in den folgenden Monaten gedanklich aus dieser Komposition wegradieren und mich selbst dorthin neben Angelica malen. Ekelhaft, ich weiß. Um den Grund zu erraten, muss man keine Psychologin sein. Meine eigene Mutter war abwesend, sah weder meine Schwester noch mich, außer es lief etwas schief. Ohne es zu wissen, lechzte ich offensichtlich danach, gesehen zu werden, und die Sehende zu teilen kam nicht infrage.

Unscharf ahnte ich in den folgenden Monaten, dass meine Konkurrenzgedanken Sofie gegenüber nicht fair waren. Doch ich beruhigte mich stets damit, dass sie ihre Mutter gar nicht wertschätzte, nicht so wie ich. Sofie nahm Angelica als selbstverständlich hin, sah sie gar nicht richtig an, war oft patzig und kühl zu ihr. Dass sie sie wie wir mit »Lica« oder wenn sie schlecht gelaunt war mit »Angelica« ansprach, verwirrte mich.

Dass die meisten Jugendlichen nicht besonders sanft mit ihren Müttern umgehen, blendete ich aus. Gedanken über meine eigene Mutter, die so wenig wohlwollend waren, all das, was ich meiner Mutter übel nahm, das Bild, das ich von ihr in meinem Kopf gezeichnet hatte und das sie aus meiner Sicht mit ihrem Verhalten immer weiter ausmalte – alles vollkommen gerechtfertigt. Aber eine Mutter wie Angelica zu haben, dafür müsste man dankbar sein, fand ich. Aus meiner Sicht war Sofies Verhalten Angelica gegenüber ein unverzeihlicher Affront und legitimierte meinen Neid.

Doch ich greife vor, noch war es nicht so weit. Noch ahnte ich nichts von all den Gefühlen, die auf mich warteten. Erst mal war da nur Angelica, die aus unerklärlichen Gründen ihren Blick auf mich richtete.


Der raue Stoff kratzte unangenehm über meine Oberarme und Kniekehlen, als ich mich auf den Rücksitz sinken ließ und noch ein paar Mal unruhig hin- und herrutschte. Ich zog an den Enden meiner kurzen Jeans, umfasste den Haltegriff über dem Fenster, ließ ihn wieder los, legte die Hände auf meine Oberschenkel. Die Enge des Autos war noch beklemmender als die in unserer Wohnung, und ich spürte, wie das Stück Alu mit einer scharfen Kante am oberen Teil meiner Magenwand entlangrieb. Ich ignorierte es. Die Julisonne prallte auf das Dach des silbernen Honda Civic, die Luft im Auto meines Vaters war dünn und warm, die Stimmung angespannt. Ich sah zu Nadine hinüber, die starr auf die Kopflehne vor sich blickte.

Etwa sechs Wochen nach dem Umzug nach Dortmund war dem Mann, der Nadine und mir das Leben geschenkt hatte – zumindest zu fünfzig Prozent, oder sagen wir dreißig, das erscheint mir fairer –, eingefallen, dass wir noch existierten. Er hatte viel zu tun und wollte uns nicht nur kurz zwischen Tür und Angel sehen, natürlich. Heute war also der große Tag gekommen, und der war so geplant, dass wir zunächst in der Dortmunder Innenstadt zusammen ein Eis essen würden, und anschließend durfte sich jede von uns in einem Bekleidungsgeschäft ihrer Wahl etwas aussuchen. Da Nadine neue Turnschuhe brauchte und ich mitgehört hatte, wie meine Mutter meinen Vater telefonisch mit dem Kauf beauftragte, war die Wahlfreiheit meiner Schwester bereits im Vorfeld begrenzt worden. Ich dagegen wurde auf Folgendes hingewiesen:

»Denk dran, dass du keine Übergangsjacke mehr hast.«

Dass ich keine Übergangsjacke hatte, war bekannt, und dennoch wollte ich einen Bikini. Ich dachte an den Sommer, meine Mutter dachte an den Herbst, der Jahrhunderte weit entfernt war. Mit einem brandneuen Bikini zur Tür hereinzumarschieren würde – trotz des vorgetäuschten »Sucht euch was aus« – mit hochgezogenen Brauen und Vorwürfen quittiert werden, darauf hatte ich keine Lust. Deswegen feilte ich schon seit Tagen an einem Plan, einer passenden Rechtfertigung. Lügen war immer eine hervorragende Option, um Konflikte zu umgehen. Aktuell war die Idee, zu behaupten, es habe keine Jacken gegeben – nur Sommerware –, und daher hätte mir mein Vater Geld gegeben, um später noch einmal nach der Übergangsjacke zu schauen. Den Bikini würde ich ganz unten in meiner Handtasche verstauen. Es durfte sich nur niemand verplappern.

Mein Vater startete den Wagen, kaum hatten Nadine und ich die Autotüren zugeworfen. Ich spürte seine Unruhe. Sie wogte aufmerksamkeitsheischend direkt neben meiner eigenen. Vom Rücksitz aus beobachtete ich, wie er noch ein, zwei Mal nervös in den Rückspiegel sah, als glaubte er, meine Mutter, seine ehemalige Frau, Geliebte, Vertraute, würde jeden Moment auf die Straße stürmen und ein Loch in sein neues Leben reißen. Das ›neue Leben‹ kannten wir bis dato noch nicht, aber heute saß es auf dem Beifahrersitz, dazu kommen wir gleich.

Was war das doch für eine Merkwürdigkeit, dass man einen Menschen kennenlernte, sich verliebte und ihm eine Zeit lang gar nicht nah genug sein konnte. Ich meine wortwörtlich. Es war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar, aber ich selbst würde Augenblicke erleben, Menschen begegnen, denen ich so unendlich nah sein wollen würde, dass ich am liebsten in sie hineingekrochen wäre. Aber irgendwann war dieses Gefühl vorbei. Dann nützten nicht einmal mehr kleine Liebeszettel etwas, die jemand in der ganzen Wohnung verteilt hatte, und stattdessen würde sich eine solche Distanz einnisten, dass man es nicht einmal ertrug, im Auto sitzend, getrennt durch mehrere Wände, in der gleichen Straße zu sein wie der einst so begehrte Andere. Meine Güte, das Leben war manchmal so unendlich traurig, dass es einem bei genauerer Betrachtung fast zynisch vorkam. Wer dachte sich so was aus?

Die neue Freundin meines Vaters drehte sich langsam um, während sie in ihrer riesigen Handtasche herumfummelte. Sie hatte etwas Kindliches an sich, war eine Kindfrau, so wie Thorsten ein Kindmann war, was allerdings in diesem Fall den genau gegenteiligen Effekt hatte. Ihre Ausstrahlung war weder gruselig noch bedrohlich wie bei Thorsten, sondern eher naiv und unschuldig. Ganz seltsam. Damals schob ich es unmittelbar auf ihr Geschlecht – weiblich –, heute würde ich eher sagen, dass es die ansozialisierte Verniedlichung einer jungen Frau war, die noch nicht erfahren hatte, dass man sie nur ernst nahm, wenn sie graue, klobige Härte über sich stülpte, dass man sie nur dann nicht sexualisierte, ihre Ansichten nicht bagatellisierte – oder eben doch, nur anders.

Retrospektiv war Lydia absolut in Ordnung.

Es war der falsche Zeitpunkt, wie so oft im Leben.

»Ich freu mich so, dass ich euch endlich kennenlerne«, sagte sie und strahlte uns an.

Nadine sagte nichts.

»Ja … «, murmelte ich. Mehr kam irgendwie nicht raus, obwohl ich wusste, dass mein Vater sich Harmonie wünschte. Ich schloss die Augen und ließ in meinem Kopf einen Schalter umspringen. Die Systeme fuhren hoch, der rote Knopf, der den Einsatz des Autopiloten ankündigte, blinkte wie verrückt.

Nadine, zu jung, zu trotzig, zu sehr sie selbst, saß neben mir, noch immer starr und voller Rebellion. Die Erwachsenen waren emotional angegriffen, die letzten Monate hatten ihnen einiges abverlangt. Es lag also nah, dass ich mich dieser Herausforderung annahm. Der Druck kauerte groß und schwer auf mir, drückte meine Schultern nach unten, zog unangenehm aufdringlich an meinen Eingeweiden, und dennoch gab mir die Vertrautheit des Gefühls die nötige Sicherheit, um mich in die neue Aufgabe zu stürzen.

Lydia, die neue große Liebe, hatte endlich gefunden, was ihre Tasche versucht hatte, vor ihr zu verbergen. Freudestrahlend zog sie zwei Tüten Schokobons hervor.

»Hab euch was mitgebracht. Mögt ihr die? Ich ess die so gerne!« Ihre Stimme zitterte leicht vor Nervosität. Sie reichte die Tüten nach hinten.

»Hmh ja, die sind lecker«, hörte ich mich sagen. Das war nicht schlecht für den Anfang.

Nadine nahm ihre Tüte schweigend entgegen. Für einen Moment starrte sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck auf die Süßigkeiten in ihrer Hand, während Lydia sie begierig beobachtete. Dann hob Nadine ihre linke Hand, kurbelte langsam das Fenster herunter und warf die Schokobons bei voller Fahrt aus dem Fenster.

Begierde und Vorfreude bröckelten wie alter Putz aus Lydias Gesicht und verschwanden irgendwo im Fußraum des Hondas. Ihre Kinnlade fiel leise und diskret ein paar Zentimeter nach unten. Während mein Vater nichts von der Aktion mitbekommen hatte und gerade konzentriert auf die Bundesstraße auffuhr, drehte sich Lydia langsam wieder nach vorne. Den Rest der Fahrt schwieg sie.

Es ließ sich schwer sagen, wer am meisten unter diesem Nachmittag litt, den mein Vater, meine Schwester, die neue große Liebe und ich miteinander verbrachten. Letztlich machten Lydia und Nadine das Ding wohl unter sich aus.

Nadine benahm sich in einer Intensität daneben, dass es bemerkenswert war. So empfand ich es zumindest. »Bemerkenswert« wäre sicher nicht das Wort, das mein Vater gewählt hätte. Immer wenn Lydia sie ansprach, tat Nadine, als könnte sie sie nicht hören, und reagierte nicht. Manchmal pulte sie sogar kurz in ihrem Ohr herum oder klopfte dagegen, als hätte sie ein störendes Fiepen vernommen. Irgendwann gab Lydia auf und richtete das Wort nur noch an meinen Vater und mich, doch so leicht gab meine Schwester sich nicht geschlagen. Als sie Lydias geänderte Taktik bemerkte, passte sie augenblicklich die ihre an. Jedes Mal, wenn Lydia den Mund öffnete, gähnte Nadine theatralisch, oder sie begann damit, die von Lydia angesprochene Person ihrerseits mit Fragen oder Geschichten aus der Schule zu bombardieren. Ich gab mir alle Mühe, Nadines Verhalten auszugleichen. War besonders freundlich zu Lydia, bedankte mich höflich und viel bei meinem Vater für Eis und Shopping und versuchte, Nadine abzulenken und ihren Trotz zu sabotieren, was misslang, denn sie war Profi, und sie kannte mich. Einerseits war ihr Verhalten Lydia gegenüber nervig, andererseits war es wahnsinnig unterhaltsam. Ich sah die Verzweiflung in den Augen dieser mehr oder weniger erwachsenen Frau, die zwar Geschlechtsverkehr mit meinem uralten Vater hatte, aber gleichzeitig keine Ahnung, wie sie die Angriffe einer Achtjährigen abwehren sollte.

Der uralte Vater dagegen machte seinem Ärger über Nadines Trotz alle halbe Stunde cholerisch Luft und sorgte dafür, dass es für alle Anwesenden, einschließlich Lydia, noch unangenehmer wurde.


»Und?«, fragte meine Mutter in der Sekunde, in der Nadine in unser Zimmer geflüchtet und die Tür hinter ihr mit einem leisen Scheppern zugeschlagen war.

Und

Es war dieses Und, das etwas, das sich schon in den vergangenen Wochen angekündigt hatte, nun hart und gerade unterstrich: das drohende Ende per Geburt definierter familiärer Machtverhältnisse.

Für einen Moment überlegte ich, ob ich so tun sollte, als verstünde ich nicht, was sich alles hinter diesem winzig kleinen Und verbarg.

»Was ›und‹? Was meinst du mit ›und‹?«, hätte ich meine Mutter anfahren können.

Ich hätte so tun können, als hörte ich den Vorwurf nicht, der in das Und eingeschlagen war, als hörte ich die Angst auf dem hinteren ›d‹ nicht, als hörte ich nicht, dass meine Mutter danach lechzte, alles über den Nachmittag zu erfahren, und wie sie gleichzeitig fast zerbrach an der Sorge, was ich ihr gleich erzählen könnte. Mit diesen drei Buchstaben warf meine Mutter den gesamten Nachmittag, den sie in ihrer Trauer um ein verlorenes Leben verbracht hatte – ein Leben, das sie eigentlich gar nicht haben wollte –, über mich. Ganz schön schwer, dachte ich so bei mir.

»War okay, nichts Besonderes passiert«, murmelte ich.

»Dir muss man auch immer alles aus der Nase ziehen«, keifte meine Mutter.

»Wir waren zuerst Eis essen, da bei dem Eiscafé neben dem Europabrunnen, und dann sind wir noch so ’n bisschen durch die Stadt gelaufen, haben neue Sportschuhe für Nadine geholt, das hattest du ja gesagt … und das war’s im Prinzip«, sagte ich und ließ mich widerstandslos auf die freundliche Aufforderung nach mehr Erzählstoff ein.

»Habt ihr denn auch was zu Abend gegessen, oder muss ich jetzt noch was machen?«

Ich fragte mich, ob meine Mutter überhaupt in der Lage war, einen Satz zu formulieren, der ohne Vorwurf auskam.

»Papa hatte keinen Hunger, aber wir drei hatten noch Pommes auf die Hand, also musste nix machen«, ich hoffte, dass das Verhör damit endlich ein Ende fand.

»›Wir drei‹?«, fragte meine Mutter, und ihre Stimme knallte wie ein Peitschenschlag durch den kleinen quadratischen Flur.

Was war ich doch für ein gottverdammter, dämlicher Idiot.

Die Augenbrauen meiner Mutter waren so weit oben, dass ihnen die Luft sicher dünn werden würde. Meine Situation war ähnlich sauerstoffarm.

»Ähm, also … Lydia war auch dabei«, gestand ich, als wäre all das meine Schuld und mein perfider Plan gewesen.

Und dann brach die Hölle los.

Was denn das bitte solle, und wie könnte er nur, das sei doch wohl die Höhe, warum ich ihr nicht Bescheid gegeben hätte, warum er ihr nicht Bescheid gegeben hätte, was sich diese Frau denke, und überhaupt, UND WIRKLICH ÜBERHAUPT, was sich dieser Mann erlaube, wie er uns da einfach mit reinziehe, das ginge doch wohl nicht, ob er nicht mal einen Nachmittag ohne diese Frau sein könne, sich nicht ein Mal seinen Kindern widmen könne, dass es am Ende doch Nadine und ich seien, die darunter zu leiden hätten (ach!), dass dieser Mann ihr wirklich den letzten Nerv raube, das könnte man doch echt nicht glauben, das sei doch einfach nicht zu fassen, einfach nicht zu fassen, sprachlos sei sie, wirklich sprachlos, und die Turnschuhe für Nadine, die sollten doch für die Halle sein, aber jetzt wär die Sohle ja in so einem komischen Grau, die Schule hätte extra gesagt, Nadine bräuchte Schuhe mit heller Sohle, sie selbst hätte extra gesagt mit heller Sohle, aber dieser Mann, dieser Mann, und diese Frau, was die sich denken, graue Sohlen.

Wie ein Regenschauer, der einen auf freier Fläche erwischt, weit und breit kein Unterstand zu sehen, Regenjacke zu Hause, Regenschirm kaputt, ließ ich den Ausbruch über mich ergehen, stand da wie ein begossener Pudel. Doch trotz des Versuchs des Abladens, trotz der Regenmassen, hatte sich etwas verschoben.

Von außen blickte ich auf die unansehnlichen Reste meiner Kindheit.

Ich sah meine Mutter, tobend und zeternd, sie war viel kleiner als ich und riss an meinem Rockzipfel, ich daneben irgendwie hilflos und überfordert, aber doch größer als sie. Sie sah nach oben in mein Gesicht, ich sah nach unten in ihr Gesicht.

Nach ein paar beschwichtigenden Hms, einem »Ja, weiß auch nicht, was er sich gedacht hat«, einem lahmen Schulterzucken meinerseits und einem lang gezogenen mütterlich-entnervten Schnauben war ich endlich entlassen.

Fazit des Tages: meine Eltern, eine einzige schimmernde Glanzparade.


»Lydia ist echt cool«, sagte Nadine später am Abend ganz beiläufig während der Werbeunterbrechung irgendeiner RTL-Samstagabendshow, ihre Augen blitzten zu unserer Mutter hinüber. Meine Schwester war wirklich ein Biest vor dem Herrn. Gott, schütze sie.


Als das Biest dann kurz darauf friedlich schlummernd im Nachbarbett lag und wie immer unbeabsichtigt regelmäßig atmete, war es beinahe unmöglich, ihr auch nur die geringste Gemeinheit zuzutrauen. Während Nadines Rebellion mal wieder laut gewesen war und eine noch lautere Reaktion nach sich gezogen hatte, probte ich im Stillen den Aufstand. Unter meinem Schlafanzug trug ich den neuen Bikini. Ich befummelte den Knoten aus wasserabweisendem Bikinistoff im Nacken, während meine Gedanken um die Ereignisse des Tages kreisten. In erster Linie ging es natürlich darum, was ich hätte besser machen können. Während mir lauter ungenutzte Chancen einfielen, die sicher alles harmonischer und angenehmer gemacht hätten, wurde mein Mund ganz trocken. Die Wasserflasche neben meinem Bett fühlte sich beim Anheben ungewöhnlich leicht an. Ich hielt sie gegen den schwachen Lichtschimmer, der durch die obersten Lamellen der Jalousie schien, und sah, dass sie nur noch einen winzigen Rest Wasser enthielt und das Plastik im oberen Teil bereits beschlagen war. Wie dieser letzte Schluck schmecken würde, ahnte ich sehr genau, und schwang daher mit einem leisen Seufzer die Beine aus dem Bett. Ich schlüpfte aus unserem Zimmer und tappte auf nackten Füßen durch den dunklen Flur Richtung Küche, Richtung Wasserhahn. Die Wohnzimmertür, billiges Holz, hässliches Milchglasfenster, leuchtete verheißungsvoll. Ich hielt inne, als ich die Stimme meiner Mutter hörte. Hin- und hergerissen zwischen Neugier und dem Wunsch, schnell zurück ins Bett zu kommen, gefror ich für einen Moment in der Mitte des Raumes.

Mein Blick fiel auf die schmale Kommode, darauf das Festnetztelefon, dahinter an der Wand, eine Dreifachsteckdose und Kabel. Wie seltsam hier alles wirkte. Die Wohnung kam mir vor wie ausgedacht. Sie war eine schlechte Erzählung, künstlich und konstruiert, eine Erzählung, die aufgeblasen wurde durch Unnötiges und der doch gleichzeitig entscheidende Details fehlten. Etwas, das einem niemand abkaufen würde. Vom Sofa im Wohnzimmer, das merkwürdig eng an der Wand stand, über die räumlich leicht versetzte Schrankwand auf der gegenüberliegenden Seite bis hin zur Stehlampe mit der goldenen Fassung, im Grunde war doch all das eine Kopie unseres alten Lebens. Wie eine Theaterkulisse, die an einem Ort abgebaut und auf einer anderen Bühne wieder aufgebaut wurde, die aber doch nicht ganz passte, bei der sich beim zweiten Aufbauen manches plötzlich nicht mehr ganz ineinanderfügte und die sich nicht so hübsch in die neue Umgebung einsetzen lassen wollte, wie sie es an ihrem Ursprungsort getan hatte. Zu den alten Bad Driburger Möbeln hatten sich außerdem neue Einrichtungsgegenstände gesellt – war doch einiges an Inventar bei meinem Vater verblieben –, die in den ersten Tagen nach unserer Ankunft von schlecht gelaunten Möbelpackern in unsere Wohnung getragen worden waren. Die Kombination aus altem und neuem Leben in Möbelform machte alles noch schräger. Ich meinte immer, dass doch jeder, der in unsere Wohnung käme, sagen müsste: Was habt ihr denn hier versucht?

Und wir würden sagen: Wir spielen hier Wohnen.

Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich zusammenzucken, als wäre ich gerade beim Ladendiebstahl ertappt worden. Noch heute steigt in mir manchmal das Gefühl auf, ein Einbrecher in meiner eigenen Wohnung zu sein, wenn ich sie in tiefster Nacht durchquere, es hat etwas Verbotenes, die warmen Laken noch einmal zu verlassen, bevor die Sonne aufgegangen ist, bevor der Startschuss für einen neuen Tag gefallen ist.

Und so fühlte sich auch damals in diesem dunklen Flur, den ich erst seit wenigen Wochen kannte, der irgendwie noch fremd roch, nicht neu, aber auch nicht gewohnt, alles falsch und heimlich an.

Blickrichtung Küche, so stand ich da, bereits nach wenigen Sekunden siegte die Neugier, und ich drehte mich in Zeitlupe zur Wohnzimmertür. Schritt für Schritt, auf Zehenspitzen, näherte ich mich ihr, mein Herz wummerte verräterisch laut zwischen den Rippen.

Die Tür stand einige Zentimeter auf, ein schwacher Lichtschein fiel auf den PVC-Boden des quadratischen Flurs. Ich schlich darauf zu, drückte mich gegen die Wand, verlernte für einen Moment das Atmen und versuchte, es dann so leise wie möglich neu zu starten, mechanisch ein und aus, während die Stimme meiner Mutter gedämpft aus dem Wohnzimmer drang.

»Weißt du, ich … es fühlt sich so an, als wäre mein Leben vorbei, als käme jetzt nichts mehr, ich hab alles auf diese Ehe gesetzt, und was soll ich denn jetzt mit mir anfangen …?« Ihre Stimme zitterte bei den letzten Worten und brach dann ganz ab. Ich hörte ihr schwaches Schluchzen, das ab und an durch ein klägliches »hm« unterbrochen wurde, offenbar redete jetzt die Person am anderen Ende der Leitung. Dann wieder meine Mutter.

»Ich meine, wie soll ich das denn finden? Was denkt er denn, wie ich mich dabei fühle? Alle kriegen das mit, wie er mich vorführt …«

Schweigen.

»Ja, aber … ja, ich weiß, trotzdem … ja, du hast ja recht, aber es ist einfach so anstrengend, das kannst du dir nicht vorstellen, der Job, die Kinder … Nadine ist so aufmüpfig, dass ich manchmal komplett die Nerven verliere, und Katha …«

Ich löste mich von der Wand, meine Haut blieb für eine Sekunde unangenehm daran kleben, so leise und gleichzeitig so schnell wie ich konnte hastete ich ins Badezimmer. Das war näher als die Küche, eine warme, geflieste Rettungsinsel. Ich lehnte mich von innen gegen die Tür, schloss die Augen, und die Abgrenzungen des Raumes wurden mir angenehm bewusst. Mein Herz hatte aufgehört zu wummern, es schlug nun langsam und bedächtig. Fast schon zu langsam. Unter meinen Füßen ruckelte es leicht, ich fasste mit einer Hand ans Waschbecken, mit der anderen an den fleckigen Duschvorhang. Einatmen, ausatmen. Ich musste nur ein bisschen Sauerstoff in meine Lungen lassen, dann würde der Raum sicher aufhören, sich zu bewegen. Doch alles Geatme half nix, es gab ein lautes Krachen, ein Schwanken von links nach rechts, ich musste mich stärker am Waschbecken festklammern, um nicht umzufallen, und dann, als hätte es nur auf diese Gelegenheit gewartet, schwebte das Badezimmer mit mir davon.


Zunächst ging es durch einen Tunnel mit glitschigen Außenwänden, dunkelorange, kleine gelbe Flecken tanzten dort wie aufgeregte Glühwürmchen bei Einbruch der Nacht, ich konnte das Außen sehen, denn da war ja das kleine Fenster über der Toilette direkt vor mir, in Fahrtrichtung, mit der Funktion einer Windschutzscheibe. Das Badezimmer und ich, wir flogen gemächlich dahin, das Außen waberte, das Orange wurde zeitweise von hellen Schlieren durchzogen, und mir war etwas langweilig. Also nahm ich meine Hände zu Hilfe, presste sie mit Druck auf meine geschlossenen Augenlider, und die Farben im Tunnel veränderten sich, dunkle Flecken, glitzernde, verschlungene Muster, Schachbrettformationen, flirrende Punkte wie bei einem kaputten Fernseher, all das kam hinzu, je nachdem, wohin ich meine Aufmerksamkeit lenkte, und dann blieb der Raum stehen, ganz plötzlich.

Ich nahm vorsichtig die Hände von den Augen und öffnete sie. Wie von einer mystischen Kraft geleitet, wusste ich, dass ich durch das kleine Fenster klettern musste, wenn ich mehr erleben wollte. Hinter dem Fenster sah ich eine Kulisse, die mir bekannt vorkam. Ich krabbelte hinaus und fand mich im Garten eines kleinen Reihenhauses wieder, unseres Reihenhauses. Es war alles noch wie früher. Im Blumenbeet lag der kleine Ball mit den Disneyfiguren, die aufgrund spielfreudiger Abnutzung kaum noch als solche zu erkennen waren. Der Wind bewegte den roten Plastiksitz einer Schaukel sachte hin und her.

Die furchtbaren Möbel, die Lydia meinem Vater aufgeschwatzt hatte, gab es nicht. Stattdessen stand die Hollywoodschaukel noch da, die Nadine und ich uns so sehr gewünscht und um die wir bei jedem Gartencenterbesuch gequengelt und gefleht hatten, bis unsere Eltern nachgaben und das Teil kauften. Am Nachmittag hatte mein Vater erzählt, dass er die Hollywoodschaukel über eine Zeitungsannonce verkauft und stattdessen neue Gartenmöbel im Baumarkt gekauft habe. Er zeigte uns ein Foto vom neu gestalteten Garten. Eine Sitzgruppe aus Rattanmöbeln war zu sehen, mehrere Sessel und mittendrin ein riesiges rundes Etwas mit einer Art Dach, das an eine Wiege erinnerte. Darin saß Lydia und winkte strahlend in die Kamera.

Während mein Vater uns das Foto hinhielt, nuschelte Nadine neben mir etwas von »alles abfackeln«.

Doch jetzt gab es hier nichts, was abgefackelt werden musste, alles war so, wie es sein sollte.

Ich ließ mich in die Hollywoodschaukel fallen und gab mir selbst Anschwung, indem ich mit den Füßen hin- und herwippte. Nadines Beine waren immer zu kurz gewesen, fiel mir ein. Sie hatte mich – und meine Beine – für das Schaukelerlebnis gebraucht, und wenn ich jetzt daran dachte, hörte ich ganz genau, wie sie mich anfeuerte, wie sie danach verlangte, dass wir doller schaukelten. So hatten wir uns oft in einen Zustand der absoluten Heiterkeit hineingewippt, bis Nadine so lachte, dass sie Schluckauf bekam.

Und wie ich so an diese kleinere Version von Nadine dachte, deren Füße in der Luft schwebten und die hickste und lachte und hickste und lachte, da wusste ich, dass ich keinen weiteren Schritt allein in diese Wunderwelt setzen durfte.

Den Fuß schon in der Luft, halb im Aufstehen von der Schaukel, fror ich ein. Es war wohl besser, ich ginge zurück, zumindest vorerst. Zurück ins Neue, ins Fremde.

Noch ein letztes Mal ließ ich den Blick über den Garten schweifen, in dem meine Schwester und ich so viel Zeit verbracht hatten.

Ich schwebte langsam zurück.

Wenige Augenblicke später stahl ich mich durchs dunkle Zimmer zurück ins Bett, ich hörte Nadine leise atmen und spürte eine angenehm kribbelnde Vorfreude.

Morgen würde ich meiner Schwester von der geheimen Kraft unseres Badezimmers erzählen. Dass man damit überallhin fliegen konnte, würde ihr sicher gefallen.


›Achtung: Geheime Information! Niemandem weitersagen! Komm heute um Punkt 18 Uhr ins Badezimmer, mach die Augen zu, und sag laut das Passwort‹, stand auf dem Zettel, den ich tags darauf in die Arme von Nadines Plüschfrosch legte. Darunter in kleinerer Schrift das Passwort, das nur Nadine wissen durfte.

Nadine und ich fanden heraus, dass man mit dem Badezimmer wirklich überallhin reisen konnte. Es war leicht. Es funktionierte so, dass man sich auf den Badezimmerteppich setzte und mit dem Rücken gegen die Badewanne lehnte. Dann drückte man sich mit beiden Handballen ziemlich fest gegen die Augen, und anschließend ging es sofort los.

»Spürst du, wie es jetzt ruckelt?«, fragte ich meine Schwester bei unserer ersten gemeinsamen Badezimmerreise, und weil es eben so ruckelte, stieß ich mit meiner Schulter ein paar Mal gegen Nadines, und sie sagte:

»Ja, ich spür’s. Fliegen wir jetzt echt?«

»Ja.«

Ich erzählte ihr, dass wir zuerst durch den magischen Tunnel flögen und dass das jedes Mal so sei und dass man dann eben am Ende irgendwo ausgespuckt werde.

»Diese ganzen glitzernden Schlieren hier, siehst du die? Ja, oder? Das ist alles Magie, und die gibt uns Anschwung.«

»Krass!«

»Ich glaube, jetzt werden wir langsamer. Wahrscheinlich sind wir gleich da!«

»Wird auch Zeit.«

»Ja, wir haben angehalten. Es ruckelt ja jetzt auch gar nicht mehr. Und was siehst du? Wo sind wir hier?«

»Ich glaube, ich sehe die Ostsee.«

»Oh, wirklich?«

Ich ahnte, warum uns das Badezimmer hierherbrachte. Der letzte Urlaub mit unseren Eltern bestand aus einer kleinen Ferienwohnung, Fritten mit Mayo am Strand, nassen, sandigen Haaren und Nadines kleinem Finger, der die Umrisse der Hochhäuser nachmalte, die hinterm Grömitzer Strand in die Höhe ragten. Mir fiel wieder ein, wie die Ferienwohnung roch, aber dafür existieren keine Adjektive, die nicht werten oder vergleichen. Es roch weder gut noch schlecht, und es roch nach nichts, das ich kannte.

»Weißt du noch, wonach es in der Ferienwohnung roch?«, fragte ich Nadine, und sie sagte:

»Nach Urlaub.«


Übrig von diesem Urlaub blieben zwei Tassen mit maritim gekleideten Möwen als Motiv – auf einer stand »Katharina« in blauer Schrift, auf der anderen »Nadine« – und vier Menschen, die in dieser Konstellation wohl nie wieder in den Urlaub fahren würden.

»Die Sandburg, die ich damals gebaut habe«, sagte Nadine, »die ist immer noch da, guck mal.«

Und während Nadine das sagte, wuchs die Burg vor mir aus dem Boden. Ein großes, sandiges Ungetüm mit hohen Türmen und perfekt geformten Zinnen.

Meine Schwester und ich, wir waren wirklich gut darin, mit dem Badezimmer zu verreisen. Offenbar waren wir Naturtalente im Davonschweben. Nach einer Weile hatten wir den Dreh so richtig raus. Wir lenkten das Badezimmer so, wie wir wollten. Für Nadine war es gut, mal aus der engen, stickigen Wohnung rauszukommen. Ein kleiner Kurztrip diente der Entspannung und nach so manchem Abendessen auch der Wahrung des Familienfriedens.

Für den Sonntagnachmittag planten Nadine und ich eine Reise ins Disneyland.

Vor einigen Tagen sahen wir abends einen Bericht im Fernsehen darüber, und seitdem sprach Nadine von nichts anderem mehr. Sie wollte unbedingt Chip und Chap treffen, das Märchenschloss erkunden und sich in riesigen Tassen im Kreis herumwirbeln lassen. Das ließ sich ohne Weiteres einrichten, schließlich hatten wir ein magisches Badezimmer in der Wohnung, wir Glücklichen.

Doch das Glück kam uns abhanden, als meine Mutter für den Sonntag einen Besuch bei den Großeltern ankündigte. Die Großeltern, die die Eltern meiner Mutter waren, was man auch sofort merkte, wenn man sie beieinander sah, wohnten in Dortmund-Eving. Das passte gut zu ihnen. Sie bewohnten eine schmale Doppelhaushälfte, rostroter Klinker, natürlich. An der braunen Haustür, die innen aus dicken Glasbausteinen bestand, hing ein Kranz mit der Aufschrift »Herzlich Willkommen«. Ich glaube, das meinten sie aber nicht so. Das war eher so eine Höflichkeit, die sich gehörte. Und was sich gehörte und was sich nicht gehörte, das wussten meine Großeltern ganz genau.

Was sich gehörte: in die Kirche gehen und leise sein, weiße Tischdecken ohne Flecken, mit Messer und Gabel essen, deutsch sein, den Tatort mit Kommissar Schimanski schauen, den Schmorbraten mindestens zwei Stunden zugedeckt garen lassen, misstrauisch sein, viel aus dem Fenster schauen, leiden.

Was sich nicht gehörte: schmutzige Hände, über den Singsang des Pfarrers lachen, keine Gardinen haben, sich scheiden lassen (ups), bunte Fingernägel, Filme mit Nackten, die Bravo , als Mädchen laut sein, sichtbare BH-Träger, Privatsender, Döner-Imbisse, Britney Spears, Kaugummis, Spaß haben.

Seit wir in Dortmund wohnten, waren wir regelmäßig bei den Großeltern, etwa alle zwei Wochen. Es gab noch einen anderen Opa, in Bad Driburg, den sahen wir seit jeher nicht so oft und nun anscheinend gar nicht mehr.

Der andere Opa, der Vater meines Vaters, war ein stiller Mann, der jeden Mittag zwei Bockwürstchen aus der Dose mit Senf und einer Scheibe Brot aß. Früher hatte er wohl noch anderes gegessen, vielleicht auch Schmorbraten, aber er konnte nicht kochen. Die väterliche Oma war bereits mit Anfang sechzig gestorben. In einem Fotoalbum, das immer in Bad Driburg im Wohnzimmerschrank gelegen hatte und dessen aktueller Aufenthaltsort mir unbekannt war, gab es ein Foto, auf dem sie mich auf dem Arm hielt. Glaube, bei der Taufe. Kurz darauf starb sie an Herzversagen. Vielleicht gefiel ihr irgendwas an mir nicht.

Jedenfalls kochte sie bis zu ihrem Tod immer für Opa Karl, und danach aß er eben viel Bockwurst. Seine kleine Wohnung roch auch nach Bockwurst. Nach Bockwurst, Kaffee und feuchter Kleidung. Außerdem glaube ich, dass er selten duschte, aber Nadine und ich mochten ihn trotzdem.

Als ich an diesem Tag, nach der Ankündigung des Großelternbesuchs, an den anderen Opa dachte, erschienen in meinem Kopf zwei Bilder nebeneinander. Links Opa Karl, wie er allein auf seiner Eckbank mit dem dunkelgrünen, löchrigen Polster saß und Bockwurst aß. Rechts mein Vater allein am Küchentisch mit seinem Leitungswasser. Kurz zog sich alles in mir zusammen, aber dann latschte Lydia ins rechte Bild und machte meinem Vater einen Kaffee. Opa Karl blieb allein mit seinen Bockwürstchen.

Weil Opa Karl so viel schwieg und sich nie beklagte, vermutete ich, dass er Schlimmeres getan – oder zumindest gesehen – haben musste als Oma Hilde und Opa Hermann. Oma Hilde und Opa Hermann waren eher so die klassischen ›Wir wussten von nichts‹-Arschgeigen, die auch heute, Jahrzehnte später, noch immer ohne mit der Wimper zu zucken ihre Nachbarn an sonst wen verraten würden. Weil sich das so gehörte.

Aber Opa Karls milchige Augen zeugten von einer Schuld, die mit Schweigen bis ans Lebensende ausgesessen werden musste. Wenn wir Opa Karl besuchten, was wie gesagt selten vorkam, wurde nicht viel gesprochen. Die Nachmittage bei Opa Karl waren eher handlungsgetrieben. Meistens stellte mein Vater für Opa Karl die Fernsehsender wieder richtig ein, die dieser laut eigener Aussage nie selbst verstellte. Manchmal reparierte mein Vater auch irgendwas oder tauschte kaputte elektronische Geräte wie Wasserkocher oder Kaffeemaschine gegen Neuware aus. In der Zwischenzeit warf meine Mutter abgelaufene Päckchen Dosenmilch oder verschimmelten Sahne-Meerrettich weg, putzte die Küche, und wir Kinder saßen auf der Eckbank und spielten Mensch-ärgere-Dich-nicht! mit Opa Karl.

Das Einzige, worüber Opa Karl sich aber währenddessen ärgerte, war, dass meine Mutter Sachen wegschmiss, die seiner Ansicht nach noch gut waren. Während wir spielten, beobachtete er sie aus den Augenwinkeln und rief ab und zu »Nee, nee, lass das ma noch, Mädchen«.

Dass er meine Mutter ›Mädchen‹ nannte, fanden Nadine und ich aus irgendeinem Grund unfassbar lustig. Unsere Freude darüber interpretierte er als Unterstützung, schüttelte den Kopf oder murmelte uns zu »Will die das wegwerfen, nicht zu glauben!«, bevor er schweigend weiterspielte. Dass er mit uns in diesen Momenten eine Allianz bildete, ganz so, als seien wir selbstverständlich auch der Meinung, dass man das Pflaumenmus noch essen könne, wenn man den Schimmel nur weiträumig abtrug, gefiel mir damals irgendwie.

Immer wenn wir mit Opa Karl am Tisch saßen und spielten, stand eine kleine Schüssel mit Erdnussflips daneben. Die Erdnussflips waren so trocken und so eklig, dass wir jedes Mal nur einen aßen, uns erschrocken ansahen und nicht mehr in die Schüssel langten.

Zu seiner Vergangenheit befragte ich weder Opa Karl selbst noch meine Eltern. Das Schweigen war mir vererbt worden.


Zurück zum Arschgeigennachmittag, dem ich angehörte.

»Und die war dabei, Andrea? Als der die Kinder abgeholt hat? Das hast du zugelassen?«

»Ich wusste das ja im Vorfeld nicht.«

»Sprichst du das nicht ab mit dem?«

»Er hat mir halt nichts davon gesagt.«

»Unmöglich. Hermann, was sagst du dazu?«

»Was soll ich dazu sagen? Unmöglich is’ das.«

»Ja, jetzt isses passiert.«

»Die soll ja wirklich kein Vorbild für deine Töchter sein, oder willst du das?«

»Natürlich nicht.«

»Na also. Wie alt war die noch gleich?«

»29.«

»Zwölf Jahre jünger als du, Andrea.«

»Richtig.«

»Wollen die Kinder?«

»Weiß ich nicht.«

»Sicher werden die noch Kinder bekommen, ist ja ’ne junge Frau, die wird Kinder wollen, da kannste dich aber drauf einstellen.«

»Hm.«

Dann war der Filterkaffee fertig. Es gab Tortenboden mit Dosenpfirsichen und Schlagsahne. Zwei Minuten aßen wir schweigend.

»Wie isses denn mittlerweile in der neuen Schule, Katharina?«

»Gut.«

»Und bei dir, Nadine?«

»Voll kacke.«

»NADINE!«

Dreimal Kopfschütteln.

Nach einer Weile ging es weiter.

»Ja, guck sich das einer an, Hilde.«

»Die Grabowskis schon wieder?«

»Parken schon wieder direkt bei uns hier vor.«

»Was das immer soll, frach ich mich ja.«

»Kriegen wa da die Tonne morgen überhaupt rausgestellt? Morgen is Altpapier.«

»Jaja, das geht schon. Ansonsten stell ich se ihnen direkt vor die Motorhaube.«

»Nicht dass die das dann nicht abholen.«

»Das wär’s ja noch.«

»Denk dran, dass du heut Abend die Tonne rausstellst, Andrea. Morgen is Altpapier, oder habt ihr ’n anderen Rhythmus?«

»Nee, mach ich später.«

Wenn wir meine Großeltern besuchten, sah ich manchmal eine riesige Sanduhr vor mir, durch die meine Lebenszeit rieselte.

Später gingen Opa Hermann, Nadine und ich auf die Terrasse. Oma Hilde und meine Mutter machten den Abwasch, so wie sich das gehörte. Ich saß auf einem weißen Plastikstuhl, der genauso aussah wie der in Angelicas Vorgarten, den ich aber aus Prinzip viel blöder fand. Neben mir auf dem Terrassentisch stand ein Glas Wasser. Meine Großeltern kauften immer »Medium«. Nie verstand ich, warum alte Leute freiwillig Wasser kauften, das von Beginn an abgestanden schmeckte. Auch bei Opa Karl stand immer ein Kasten Mediumwasser rum. Opa Hermann ging mit Nadine durch den kleinen Garten und erklärte ihr, wie die unterschiedlichen Pflanzen hießen. Das war irgendwie ganz süß. Nadine imitierte – ob bewusst oder unbewusst – unseren Opa, indem sie einen runden Rücken machte und beim Schlendern die Hände über dem Steißbein ineinanderlegte.

Als ich mich nach einer Weile umdrehte und durch das Fenster in die Küche schaute, sah ich, dass meine Mutter heulte. Oma Hilde stand vor ihr, hörte zu, hatte aber die Arme verschränkt und berührte ihre Tochter nicht.

Ich wollte unbedingt ins Disneyland.


Es war Mitte Juli. Frau Meinke hatte uns kurz vor den Sommerferien, vermutlich aufgrund eigener Erschöpfung und einer gewissen Lethargie, die der Lehrerberuf mit den Jahren so mitbrachte und die vor den Sommerferien immer ganz deutlich in den Gesichtern der Pädagoginnen zu sehen war, noch ein Gruppenreferat aufgebrummt. Die Themen waren so egal, dass selbst Alex und Dennis, die ansonsten nie irgendetwas rafften, klar sein musste, dass es sich hier um reine Beschäftigungstherapie handelte.

Die einzigen Einschränkungen ergaben sich aus dem Fach – Deutsch – und aus Frau Meinkes Ansage: »Seid kreativ!« Na, wenn sie es schon nicht war, bitte.

Wir saßen mit ferienreifen Gesichtern krumm und schief vor den langsamen Rechnern im Computerraum und googelten ohne die geringste Lust Schriftstellerinnen und Literaturepochen.

Am liebsten hätte ich Effi Briest als Referatsthema gewählt. Ich mochte den Roman, weil ich Effi toll fand, toll und tragisch, die heimlichen Treffen mit Major von Crampas, das war meiner Ansicht nach wahre, leidenschaftliche Liebe, und dann dieses schreckliche Ende, das mir auf eine seltsam angenehme Art Schmerz bereitete. Aber das vorzuschlagen kam nicht infrage. Wir hatten den Roman in Bad Driburg komplett im Unterricht behandelt, daher wusste ich schon alles, und mir war klar, dass niemand in meinem Alter irgendeine Art von Gefühl für diese Geschichte hegte. Zumindest nicht, soweit mir bekannt war. Auch in Frau Meinkes Unterricht war Effi Briest vor einigen Wochen kurz angerissen worden, als es um den Gesellschaftsroman als Genre ging. Sie hatte ein paar Seiten aus Effi Briest vorgelesen und war in der Klasse auf wenig Begeisterung gestoßen.

»Der war einundzwanzig Jahre älter als die? Und hatte schon was mit der Mutter? Iieh ey«, so Jessis Reaktion.

Jetzt vorzuschlagen, das Referat über Fontanes untreue Heldin aus Hohen-Cremmen zu halten, würde zwangsläufig ein gewisses Interesse meinerseits an dem Roman offenbaren, und das ging natürlich nicht. Es war Schullektüre und somit von vornherein zur jugendlichen Ablehnung verdammt. Ich meinte, man müsse am Klang meiner Stimme erahnen können, dass mir das Buch in irgendeiner Art etwas bedeutete, und das wäre das Ende gewesen.

Sofie saß eine Reihe vor uns und teilte sich den PC mit Anna und Jessi. Jetzt kippte sie auf ihrem Stuhl nach hinten, sodass sie sich auf unseren Tisch stützen konnte, und verrenkte sich den Hals, um an unserem Bildschirm vorbeischauen zu können.

»Habt ihr schon ’n Plan?«, fragte sie und fuhr, ohne unsere Antwort abzuwarten, fort: »Sonst macht einfach mit uns, die Meinke meinte zwar, maximal vier Leute zusammen, aber egal, oder? Lass einfach zusammen machen. Wir haben uns überlegt, vielleicht was zu Effi Briest zu machen, also?«

Ihr Tonfall war beiläufig und das Gesicht ausdruckslos. So hätte ich das niemals hinbekommen.

»Klar! Mir ist eh egal«, sagte Kati.

»Meinetwegen«, ich versuchte so gleichmütig zu klingen, als hätte ich im Leben noch nichts von weiten Feldern und Nähkästchen voller Briefe gehört. Allerdings war ich mir sicher, dass Sofie sehen konnte, dass mein Herz heftig und auffällig von innen gegen meine Brust donnerte.

»SOFIE RYBKA! HAST DU EIGENTLICH DEN SCHUSS NICHT MEHR GEHÖRT? DU KANNST DIR DAS GENICK BRECHEN!«, etwas Kraft war dann doch noch in Frau Meinke. Ein paar verdrehte Augen, ein geflüstertes »Also, dann später bei mir«, und Sofie kippte samt ihrem Stuhl zurück in eine weniger gefährliche Position.


An diesem Tag Mitte Juli betraten wir die Wohnung der Familie Rybka ausnahmsweise nicht durch Garten und Küchenfenster, sondern durch die Tür. Premiere für mich. Im schmalen Flur streiften wir die Schuhe ab und folgten Sofie ins Wohnzimmer, denn nur über dieses konnte man ihr Zimmer erreichen, das im hinteren Teil der Wohnung lag.

Angelica saß mit einer Frau auf dem Sofa, den Kopf auf ihrer Schulter, sie hielten Kaffeetassen in den Händen und sprachen leise miteinander. Zwischen ihnen flimmerte die Vertrautheit zweier Menschen, die mehr als das Übliche miteinander erlebt, die einander in Momenten des Glücks und des Abgrunds gesehen hatten.

Woher ich das damals wusste? Vielleicht spielt mir meine Erinnerung nur etwas vor, wenn ich meine, die Verbindung der beiden im ersten Augenblick gesehen zu haben. Vermutlich fiel es mir erst in den folgenden Wochen auf, in denen ich sah, wie sie miteinander agierten, redeten, sich berührten. Es gab keine Scham und kein Überlegen in ihrem Umgang, alles geschah intuitiv.

Die Frau trug einen schulterlangen blonden Bob, eine pastellfarbene Bluse und eine dunkle Stoffhose. Meine Augen blieben an ihren Ohrringen hängen, die golden waren und die Form von Tropfen hatten. Als wir hereinkamen, verstummten beide. Angelica setzte sich auf, und die andere Frau ließ ihren Blick kurz und interessiert über uns streifen, sie lächelte und nickte uns zu. Dann stand sie auf, um Sofie an sich zu drücken.

Irgendwie fühlte ich mich plötzlich, als wäre ich in einen intimen Moment hineingestolpert, in dem ich nichts zu suchen hatte. Trotzdem konnte ich es nicht verhindern, ich musste sie ansehen, nein, vielmehr anstarren. Sie war recht groß, größer als wir alle, ihre Bewegungen waren bedacht, beinahe zögerlich, so als wartete sie zuerst die Reaktion ihres Gegenübers ab, in diesem Fall die von Sofie, um sich dann zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Langsam, die Handlung wie in einzelne Abschnitte unterteilt – das Lockern des Arms an Sofies Rücken – Pause – einen Schritt zurück – Pause – die Hände nach vorn, kurzes Drücken von Sofies Armen – Pause – ein Lächeln –, löste sie die Umarmung.

Ich starrte.

Da fing Sofie meinen Blick auf, sofort trat ein harter Ausdruck in ihr Gesicht, und sie funkelte mich an, als hätte ich sie beleidigt. Sofort sah ich weg, peinlich berührt, auch wenn ich nicht genau wusste, wieso.

Doch dann rief Kati:

»Ey Ewa, krasse Ohrringe!«

Und das Gefühl verschwand.

»Danke, Maus!«, sagte die Frau, fasste sich ans Ohr, ihre Finger tasteten den Schmuck ab, und dann lächelte sie.

»Wir gehen in mein Zimmer«, sagte Sofie, »müssen so ’n scheiß Projekt machen.«

Sie wedelte mit Fontanes Werk, einer Leihgabe von Frau Meinke, in der Luft herum und deutete dann mit dem Buch auf ihre Zimmertür.

»Och, die Effi«, seufzte Ewa, nahm Sofie das Buch aus der Hand und blätterte darin.

Angelica sah ihr mit zärtlichem Blick dabei zu.

»Hört euch das an«, sagte Ewa sanft und las vor: »›Ich kann ein Gefühl des Alleinseins nicht ganz loswerden, und wenn ich mich früher, vielleicht mehr als nötig, über Huldas ewige Gefühlsträne mokiert habe, so werde ich jetzt bestraft und habe selber mit dieser Träne zu kämpfen. Denn Instetten darf es nicht sehen.‹ … Wie traurig.«

»Jaja, ganz schrecklich.« Sofie riss ihr das Buch aus den Händen und marschierte auf ihre Zimmertür zu.

Wir latschten hinter ihr her, und ich warf noch einen letzten Blick auf Ewa, die unseren Abgang amüsiert beobachtete. Sie ging zurück zum Sofa und setzte sich. Angelica beugte sich zu ihr hinüber, stützte sich mit einer Hand auf Ewas Oberschenkel ab und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Während wir die Rucksäcke von den Schultern zogen und lustlos nach Etuis und Blättern kramten, fragte ich: »War das eine Verwandte von dir, Sofie?«

Schweigen. Anna fummelte konzentriert an dem Reißverschluss ihres Rucksacks, Kati rutschte nervös auf Sofies Schreibtischstuhl hin und her und warf dabei eine Box mit Stiften um.

Schließlich sagte Sofie knapp: »Sie gehört zur Familie.«

»Ach so«, sagte ich in wissendem Tonfall, obwohl ich gar nichts wusste.


Ein paar Tage später hielten wir das Referat. Wir waren zu viele Leute für eine Fünf-Minuten-Präsentation, und so hatte Anna die Aufgabe bekommen, Schlagworte unseres Referats mit bunter Kreide an die Tafel zu schreiben. Vielfältiger Medieneinsatz!

Jessi war für Begrüßung und Abmoderation zuständig. Ansonsten sah die wenig einfallsreiche Gliederung unseres Referats folgendermaßen aus:

Kurze Inhaltsangabe des Romans (Sofie)

Eckdaten zu Theodor Fontane (Kati)

Das Rondell als Symbol (Katha – also ich)

Ich schloss mit den Worten »Und deswegen zeigt das Rondell auch, dass Effi sich immer nach der Sonnenseite des Lebens sehnte«, und noch während ich meine Karteikarte sinken ließ und den Blick hob, sprang Jessi nach vorne und sagte:

»Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Hat noch jemand Fragen?«

Niemand wollte noch irgendwas über Effi Briest wissen, und dann waren Ferien.

Frau Meinke kam wie so oft nicht gegen die kopflose Aufbruchsstimmung an. Alle strömten nach draußen, als könne ihnen jemand die Ferien wieder wegnehmen, wenn sie nicht schnell genug waren. Kati und ich, von Frau Meinke direkt angesprochen, stellten die restlichen Stühle hoch. Aufgrund des Stresses, der nicht nur in ihrem Gesicht, sondern auch in ihrer Stimme und in all ihren Bewegungen war, sahen wir uns genötigt, auch noch den Müll, der unter den Tischen lag, aufzuheben.

Als wir endlich das Schultor erreichten und zu Anna, Jessi und Sofie stießen, wartete schon die nächste Aufgabe. Als Lebenshandwerkerin hatte man selten frei.

Anna war in Sorge um ihre Katze Luna. Seit Tagen schaue sie so traurig und fresse auch weniger als sonst, meinte Anna. Und jetzt fahre sie ja am Sonntag mit ihrer Familie in den Urlaub, Luna bliebe so lange bei ihrer Tante, und wenn sie zurückkäme und Luna sei tot, dann wüsste sie nicht, ob sie sich das jemals verzeihen könne.

Um das kurz vorwegzunehmen: Luna würde noch viele Jahre leben, allerdings auch noch häufiger traurig schauen. Vermutlich lag das aber einfach an ihrem Gesicht. In dieser Geschichte passieren schon genug üble Dinge, da braucht es nun wirklich nicht noch eine tote Katze.

Das wussten zu diesem Zeitpunkt aber weder Anna noch ich, und so überlegten wir hin und her, was nun zu tun war. Annas Eltern weigerten sich, mit Luna zum Tierarzt zu fahren, nur weil sie traurig aussehe.

Wie immer wusste Sofie Rat und erzählte von einer kleinen Zoohandlung zwischen Hombruch und Innenstadt, in der Anna sich doch beraten lassen könne.

Vorher mussten wir allerdings noch Kati verabschieden, die bereits heute Abend mit ihren Eltern nach Griechenland zu ihren Verwandten aufbrechen und über einen Monat dort verbringen würde. Während wir so am Schultor rumstanden und Kati sich nicht recht dazu durchringen konnte zu gehen, schwappte ein komisches Gefühl über mich. Der letzte Schultag vor den großen Ferien kam immer mit einer gewissen Sommermelancholie daher, aber jetzt und hier fühlte es sich an, als würde Kati für immer gehen, als würde alles zu Ende gehen. Mir war ganz sonderbar zumute, und ich wusste, dass alles in mir gerade übertrieb, aber ich konnte nicht verhindern, dass sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildete, als Kati zuerst Anna und Jessi, dann Sofie und schließlich mich drückte.

»Mach’s gut, Katha, bis bald«, sagte sie, und ich hatte ihre Locken im Gesicht.

»Hmmh«, presste ich hervor. »Viel Spaß.« Mehr ging nicht. In meinem Inneren waren wieder zahlreiche Stülpprozesse aktiv. Jetzt bloß nicht anfangen zu heulen.

»Komm, verpiss dich jetzt«, meinte Sofie und schubste Kati von mir weg, die endlich loslief und für einen Moment so aussah, wie ich mich fühlte, aber dann grinste und winkte und grinste und winkte, bis sie hinter der nächsten Ecke verschwand.

Ich kam mir verlassen vor. Und ich hatte Migrationsneid.


Mehr als zehn Jahre vor der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹, im Rahmen derer jegliche Form der Zuwanderung auf die schlimmste Art und Weise auseinandergepflückt werden sollte; fünfzehn Jahre vor dem Erscheinen eines Artikels mit dem Titel ›Oder soll man es lassen?‹; zu Beginn der Sommerferien 2003; knapp zwei Jahre nach dem 11. September, der ein Zündfunke war für eine neue Form der Angst, die dem Hass von Beginn an näher stand als der Furcht; elf Jahre nach den rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen; in diesem Sommer hatte ich Migrationsneid.

Was soll einem dazu noch einfallen?

Kati würde also für fünf Wochen irgendwo in der Nähe von Thessaloniki sein, Jessi besuchte ihre Verwandtschaft mütterlicherseits in Polen, Anna fuhr am Montag nach Italien – sie würde die ganzen sechs Wochen weg sein, sonst lohne sich die gut 24-stündige Busreise bis runter nach Kalabrien nicht, sagten ihre Eltern. In Kalabrien lebten Annas Großeltern und andere Verwandte. Vierundzwanzig Stunden mit ihren Eltern, ihren zwei kleinen Brüdern und einem Haufen anderer Leute auf engstem Raum in einem stickigen Reisebus – dass das sicher nicht ganz unanstrengend war, blendete ich aus. Genau wie bei Kati und Jessi schimmerte die ferne Verwandtschaft für mich wie ein unerreichbarer Schatz am Ende des Regenbogens.

Ich war schon einmal dabei gewesen, als Kati am Telefon mit ihrer Tante und Cousins Griechisch sprach. Danach wandte sie sich mit verschämtem Grinsen zu mir um, zuckte mit den Schultern, als müsste sie sich irgendwie dafür rechtfertigen, und murmelte so was wie »Ich sprech’s ja gar nicht so gut, und die reden so schnell«.

Ich war unendlich beeindruckt und widerlich neidisch.

Es kam mir vor, als könnten sie ihr Leben umdrehen wie einen Stein, und da war noch eine moosbewachsene Seite und unter dem Moos eine neue Welt, ein zweites Leben mit anderen Menschen und anderer Sprache.

Weil ich so neidisch war auf all das, überlegte ich mir abends im Bett, dass ich zu fünfzig Prozent Amerikanerin wäre. In dieser Geschichte gab es Oma Hilde und Opa Hermann nicht, und meine Mutter war eine heitere Amerikanerin, deren Name nicht Andrea ausgesprochen wurde, sondern Ändriiia, und ich war Katy, Käääääiiiti. Ich musste nur den Gedanken beiseiteschieben, dass Kati vielleicht nicht einverstanden gewesen wäre, dass mein Spitzname dem ihren in diesem Paralleluniversum nun doch sehr ähnlich war.

Meine Mutter nannte mich ›Darling‹ in dieser anderen Welt, unter dem Moos. Und mein Vater war ein gesichtsloser, hochgewachsener Amerikaner, wahrscheinlich in der Army. Ich sah in meiner Kindheit wohl wirklich zu viel Fernsehen.

Vorm Schlafen las ich obsessiv im Englischbuch, weil ich unbedingt auf Englisch träumen wollte, denn Kati sagte, dass ihr das passiere nach einiger Zeit in Griechenland, dass sie dann auf Griechisch träumte, und ich musste unbedingt wissen, wie das war, in einer anderen Sprache zu träumen.

Es klappte nicht.

Nach einigen intimen Abenden mit dem Englischbuch träumte ich zwar irgendwann, dass ich nur falsche Antworten in einen Lückentext schrieb und Frau Meinke drohte, ich müsse zurück auf die Grundschule in Bad Driburg, aber wirklich englisch, geschweige denn amerikanisch war nichts daran. So stellte sich auch kein amerikanisches Gefühl ein, und ich fand mich nie ganz und gar in die Rolle der Katy ein. Schade.

Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, wie der alte Ludo sagen würde.

Jedenfalls blieb der peinliche Neid.

Und in einer Welt, in der Alex keine gemeinen Wortwitze über Annas Nachnamen machte, niemand mit Edding ein Hakenkreuz auf die Scheibe des Restaurants von Katis Eltern schmierte oder Herr Winkelmann Jessi nicht vor der gesamten Klasse über die Geschichte Polens ausfragte, nicht fies sagte »Das ist doch dein Land, oder nicht?«, und sie eben nicht fertigmachte, weil sie nichts von der Oder-Neiße-Linie wusste – in einer solchen Welt hätte ich vielleicht einen wirklichen Grund zum Neidischsein gehabt.

Weil der Neid blind machte, hielt ich meinen dummen Mund, verteidigte Anna nicht, sagte nichts zum Winkelmann, sprang Jessi nicht zur Seite, hatte keine Ahnung, welche Bedrohung das Hakenkreuz für Katis Eltern darstellte und welche Angst es auslöste. Weil ich nicht fragte, begriff ich die Tragweite nicht im Mindesten, konnte sie gar nicht begreifen.

Auch Ewa und Angelica hatten beide polnische Wurzeln, das wusste ich, weil Jessi und Sofie mal beiläufig darüber sprachen, aber als ich Sofie irgendwann vor den Ferien fragte, ob sie den Sommer auch bei Verwandten in Polen verbringen würde, sagte sie nur:

»Nein.«

Und es war klar, dass keine Nachfragen erwünscht waren. Es nervte mich damals, dass Sofie aus allem ein elendes Geheimnis machen musste. Ich beschloss in diesem Moment, Angelica danach zu fragen, und vergaß es dann. Erst als alles längst zu spät war, fiel es mir wieder ein.

Sofie jedenfalls setzte noch nach:

»Schlesien übrigens, nicht Polen.«

Und ich sagte nur: »Okay.«

Denn genau wie Jessi wusste ich nichts über die Oder-Neiße-Linie.

Um mal zum Punkt zu kommen: Was die Ferienpläne meiner anderen Freundinnen betraf, war mein Fazit, dass sie alle es besser hatten als ich und ich unendlich benachteiligt war, so ganz ohne zweites Leben. Glücklicherweise hielt ich ja sowieso die meiste Zeit den Mund darüber, was in mir vorging, und in diesem Fall war es ausnahmsweise auch angebracht.


Zwanzig Minuten nach Katis Verabschiedung schlenderte ich vorbei an schmutzigen Aquarien und stinkenden Verpackungen voller Trockenfutter, bis ich zu einer Reihe von Käfigen kam, in denen sich verschiedene Kleintiere tummelten. Anna und Sofie waren vorne am Tresen und sprachen mit dem Verkäufer. Der Laden war klein, eng, und irgendwie war alles, was man berührte, ein bisschen klebrig. Es roch muffig. Zwei Chinchillas saßen in einem winzigen Käfig und sahen mich mit großen Augen an. Ich fühlte mich schlecht und verantwortlich für ihr Leid. Wissend, dass ich ihnen kein besseres Leben bieten konnte, wandte ich mich schnell ab und lief weiter die Käfigreihe entlang.

Und dann sah ich ihn. Zlatko. Es war nicht wirklich Zlatko, aber vielleicht ein entfernter Verwandter, ein Cousin zweiten oder dritten Grades. Jedenfalls sahen sie sich verdammt ähnlich. Achtzehn Euro sollte Zlatko II kosten, das verriet ein kleines Klebeschild am Käfig. Da stand auch ein Name, aber den vergaß ich sofort wieder. Der Preis war jedenfalls zu hoch. Mein Taschengeld für diesen Monat war bereits fast vollständig für Kippen, Freibadeintritte und Mischbier draufgegangen. Es war Mittwoch, der 30.07.2003, und ich hatte noch irgendwas um die vier Euro.

Bum, bum, mein Herz donnerte schon gegen meinen Brustkorb, bevor sich der Gedanke in meinem Kopf überhaupt bilden konnte. Ganz langsam drehte ich meinen Oberkörper und spähte zwischen den Regalen hindurch. Sofie glotzte gelangweilt einen Wellensittich an, der direkt neben dem Verkaufstresen in einem Käfig saß. Sein Spiegelbild ließ ihn die schmutzige Traurigkeit dieses Ortes vergessen. Der Verkäufer war noch immer mit Anna beschäftigt, die ihm ausschweifend die Krankheitssymptome von Luna schilderte.

Ich sah keine Notwendigkeit für lange Überlegungen, so leise wie möglich hob ich den Deckel des Käfigs an und steckte meine Hand hinein. An einem Stück Sellerie mümmelnd, saß Zlatkos Cousin in seinem Napf und wärmte mit seinem Hinterteil die Reste des Trockenfutters. Während ich meine Hand flach am Boden des Käfigs entlanggleiten ließ, bewegte er sich keinen Zentimeter. Anscheinend war er nicht besonders schlau, was meine Vermutung zu den Verwandschaftsverhältnissen nur bestätigte. Ein letzter hastiger Blick zur Theke – alle beschäftigt –, dann ein schneller Griff, meine Finger umschlossen die pelzige Kugel, der neue Zlatko wehrte sich nicht, ergab sich seinem Schicksal. Ah wunderbar, wir würden uns gut verstehen.

Ich schob ihn in die Innentasche meiner Jacke, drückte dann von außen leicht dagegen. Vier, vielleicht fünf große Schritte, und ich war an der Tür.

»Leute, ich warte draußen, ja?«, rief ich, die Türklinke schon in der Hand.

»Hmhhmh«, machte Anna, die konzentriert verschiedene Packungen mit Spezialfutter betrachtete.

»Ich komm mit raus«, sagte Sofie.

Die Türklinke bewegte sich unter dem Druck meiner Hand einige Zentimeter nach unten.

»Wartet mal!«, rief der Verkäufer.

Langsam drehte ich mich um und schob die Hand über die Erhebung auf meiner Brust.

»Ihr mögt doch sicher auch Tiere?«, er versuchte sich an einem gewinnenden Lächeln.

Wussten erwachsene Männer eigentlich, wie gruselig sie die meiste Zeit über waren?

»Ja, schon … «, murmelte ich verschreckt.

»Dann nehmt doch so ’n Flyer hier mit, sind alle Viecher drin, die ich hab. Vielleicht könnt ihr eure Eltern ja überzeugen«, er zwinkerte uns zu und wedelte mit dem Faltblatt.

Ich stand wie angewurzelt da, unter meiner Hand begann der Hamster zu zappeln.

»Danke, aber ich steh nicht so auf Tiere«, sagte Sofie laut und gleichgültig.

Als wäre damit automatisch für mich mitentschieden, drehte ich mich hastig um und stürzte aus dem Laden.


Es war ein guter Tag für Nadine. Sie hatte den Ferien entgegengefiebert, denn das bedeutete, dass sie viel Zeit mit mir verbringen konnte und die verhassten Gleichaltrigen ganze sechs Wochen lang nicht zu Gesicht bekam.

Nachdem wir aus der Zoohandlung gestolpert waren, zeigte ich Sofie in einem hundert Meter entfernten Hauseingang den gestohlenen Hamster. Für ihre Verhältnisse schien sie recht beeindruckt.

»Hätte ich dir gar nicht zugetraut«, sagte sie und betrachtete das zitternde Pelzknäuel in meinen Händen.

Ich nahm es als Kompliment.

Um den neuen Zlatko schnellstmöglich nach Hause zu bringen, verzichtete ich sogar auf Zeit an Angelicas Fenster. Ich wusste, dass Nadine schon zu Hause sein würde, mit Geschichten vom letzten Schultag im Gepäck und Ferienvorfreude im Gesicht. Außerdem wollte ich nicht riskieren, dass noch ein zweiter Hamster unter meiner Obhut das Zeitliche segnete. Dann hätte ich mir wirklich mal Gedanken machen müssen.

So leise wie möglich öffnete ich die Wohnungstür und schob mich in den Flur. Aus der Küche hörte ich ein Rascheln. Auf Zehenspitzen schlich ich in unser Zimmer und setzte den neuen Zlatko behutsam in den verlassenen Käfig seines Vorgängers. Er trippelte sofort los, steckte seinen Kopf in die Sägespäne am Boden des Käfigs und beschnupperte alles in seiner Umgebung. Das musste seltsam für ihn sein. Sicher konnte er den echten Zlatko noch riechen und kam sich wie ein Eindringling vor. Sofort beschloss ich, dass ich für Zlatko II ein paar neue Einrichtungsgegenstände kaufen musste, damit er sich wertgeschätzt fühlte und wusste, dass dies nun einzig und allein sein Zuhause war.

Wie doch jede Handlung immer einen Rattenschwanz an neuen Aufgaben nach sich zog.

Ich tappte wieder aus dem Zimmer, ging zur Wohnungstür, öffnete sie sachte und ließ sie dann mit einem lauten Krachen zufallen.

»Halloooo«, rief ich in den leeren Flur, und augenblicklich wurde die Küchentür aufgerissen. Nadine stürmte heraus, das pinke T-Shirt voller Kekskrümel, die Augen weit aufgerissen und leuchtend.

»Ich bin frei«, kreischte sie und warf sich in meine Arme. Ich drückte sie an mich, hob sie ein Stück vom Boden und wirbelte sie in einer halben Drehung durch die Luft, mehr schaffte ich nicht, dafür war sie mittlerweile zu groß.

»Also, ja, nur für sechs Wochen halt, aber egal«, setzte Nadine nach und grinste mich an, als sie sich aus der Umarmung löste.

»Das müssen wir feiern!«, sagte ich. »Geh doch mal in die Küche und guck nach, ob wir noch was Gutes dahaben, ansonsten holen wir uns was beim Imbiss, ich leg kurz meinen Rucksack ab.«

Nadine stimmte zu und verschwand in der Küche.

Der große Moment war gekommen.

Ich ging in unser gemeinsames Zimmer, legte den Rucksack neben das Bett und hob leise den Deckel des Hamsterkäfigs an.

»Du musst jetzt noch mal kurz mitspielen«, flüsterte ich dem neuen Zlatko zu und hob ihn heraus.

Den Hamster fest umklammert, ging ich zur Zimmertür und rief laut: »Nadine, das glaubst du nicht, komm mal schnell her, das gibt’s ja nicht, guck dir das an!«

Dreieinhalb Sekunden später stand Nadine in der Tür, und ich hielt Zlatko in die Höhe.

»Hab gerade meinen Rucksack abgestellt, und dann sitzt er da einfach unter meinem Bett!«

Nadine gab ein leises, hamsterfreundliches Quieken von sich und streckte mit strahlenden Augen die Hände nach Zlatko aus. Mein Inneres war plötzlich ein warmes, behagliches Kaminzimmer.

»Zlatko, du Dummi, wo warst du denn die ganze Zeit?«; flüsterte meine Schwester zärtlich und drückte den Hamster gegen ihre Wange.

Es war der perfekte Ferienbeginn.

Nadine war glücklich, der falsche Zlatko saß einigermaßen zufrieden im Käfig, und ich war wieder mal zur Mitarbeiterin des Monats in meinem eigenen Lebenshandwerkerinnen-Betrieb gewählt worden.

Wir entschieden uns, beim Imbiss um die Ecke Pommes und Currywurst zu essen, und schlenderten noch eine Weile durchs Viertel. Eine gemischte Tüte mit vier Brause-Ufos, drei Gummi-Erdbeeren, zwei sauren Schnullern, vier Kirsch-Cola-Flaschen und jeweils einem Brause-Lippenstift für jede von uns hielt unseren Blutzuckerspiegel über den Nachmittag auf konstant hohem Niveau. Das Geld dafür kratzte ich vorher aus den Kleingeldresten zusammen, die meine Mutter auf der Kommode im Flur sammelte. Das Verbrechen würde längst verjährt sein, wenn sie den Diebstahl bemerkte. Nadine steuerte noch einen Euro und vierundzwanzig Cent aus ihrer Spardose bei. Während wir durch die Straßen liefen, legte Nadine alle paar Meter ihre Handgelenke aneinander, spreizte die Finger und schickte Passanten gebrüllte KaMeHaMeHas entgegen. Ich sah ihr dabei zu und war mir sicher, dass sie eines Tages unbesiegbar sein würde.

Für den morgigen Donnerstag war ein Besuch im Hombrucher Freibad, dem ›Froschloch‹, geplant, und nächste Woche wollten Nadine und ich zum Kanal fahren. Den Migrationsneid hatten Adrenalin und Dopamin bereits davongespült, ausgeschüttet dank des Diebstahls und der zärtlichen Wiedervereinigung von Schwester und Hamster.

Verheißungsvolle Wochen lagen vor uns. So glaubten wir zumindest.


Doch meine Mutter war eine Verderberin, die Nadine nicht einfach mit einem glücklichen Tag davonkommen ließ. Einige Menschen besaßen so ein Talent zum Verderben, das sollte ich im Laufe meines Lebens noch häufiger feststellen – und meine Mutter hatte sehr laut ›Hier‹ geschrien, als diese Gabe verteilt wurde.

In Nadines Augen saß noch der Glanz des Tages, als meine Mutter beim Abendbrot eine Broschüre vor ihr auf den Tisch legte.

»Ferienprogramm – Dortmund 2003«

Das Salamibrot auf halbem Weg zum Mund, erstarrte Nadine.

»Was ist das?«

»Da hatten wir doch drüber geredet, ich hab dich da angemeldet«, sagte meine Mutter und bestrich ihr Brot hauchdünn mit Kräuterfrischkäse.

»Da ham wir nich drüber geredet, was meldest du mich da an? Was ist das?«, schrie Nadine, vor Panik überschlug sich ihre Stimme.

Auch meine Mutter ging sofort hoch wie ein HB-Männchen.

»Das hab ich dir letztens gesagt, Fräulein. Da ist unter der Woche Ferienbetreuung von neun bis sechzehn Uhr, das ist direkt hier um die Ecke beim Zentrum, und du wirst da hingehen! Ich seh’s nicht ein, dass du die ganzen Ferien hier unbeaufsichtigt in der Bude hockst. Letzte Ferienwoche holt dein Vater dich ab!«

Das Salamibrot flog gegen die Wand.

Es wurde geschrien, es wurde getobt, es wurden Konsequenzen angedroht.

Ich setzte ein paar Mal an, etwas zu sagen. Erst beim vierten Versuch kam ich zwischen die Streitenden.

»Ich kann mich doch um Nadine kümmern, das macht mir nix, im Gegenteil, ich …«, begann ich, doch meine Mutter würgte mich sofort ab.

»Nein, Nadine braucht Kontakt zu Gleichaltrigen, das ist auch Frau Bornkemanns Meinung und …«

»Ich brauch keine scheiß Gleichaltrigen, und was redest du überhaupt hinter meinem Rücken mit der Bornkemann über mich?« Nadines Stimme war nur noch ein verwaschenes Brüllen, Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie sprang so energisch auf, dass der Stuhl hinter ihr umfiel und mit einem Scheppern auf den Boden aufschlug.

»Nadine, verdammte Axt«, kreischte meine Mutter wütend, während meine Schwester aus der Küche stürmte und in unserem Zimmer verschwand. Die Tür knallte mit dem gleichen Geräusch zu wie an Nadines erstem Schultag.

Meine Mutter vergrub für einen Moment das Gesicht in den Händen, dann hob sie den Kopf, ihre Züge schienen wie festgefroren. Sie sah mich nicht an, aber das tat sie ja sowieso nie.

Sie griff nach dem Brotkorb, um sich noch eine Scheibe Vollkornbrot zu nehmen. Dabei stieß ihre zitternde Hand das Wasserglas um.

Die festgefrorenen Züge lösten sich, eine Qual trat auf ihr Gesicht, die nicht nur ihr selbst wehtat. Ich wandte den Blick ab, während ihre Handflächen auf den Tisch schlugen, sodass auch noch das restliche Geschirr bedrohlich erzitterte.

»Mir reicht’s, verdammt noch mal, mir reicht’s hier!«, schrie sie, und einen Moment später saß ich allein am Tisch, während das kohlensäurehaltige Wasser sich langsam über den Tisch verteilte. Ich starrte auf die kleinen Bläschen, die sich mit dem ausgekippten Wasser bewegten und nach einer Weile platzten. Die wasserabweisende Decke meiner Mutter sorgte dafür, dass sich sprudelndes Wasser in alle Richtungen ausbreitete, nur nicht hinein in die Decke und bloß nicht hinein in den Holztisch.

Mechanisch erhob ich mich vom Tisch und nahm einen Lappen aus dem Schrank unter der Spüle. Ich stellte das Glas beiseite, das den eigenen Sturz überlebt hatte, und wischte das Wasser auf. Es war zu viel für einen Lappen. Ich wrang ihn aus, wischte weiter. In der Küche war es sehr leise. Einzelne Tropfen Sprudel tropften von der Tischkante auf den Fliesenboden. Ich wischte alles weg. Dann nahm ich das Geschirr und stellte es in die Spüle. Die Essensreste schob ich von den Tellern in den Abfalleimer, ich starrte kurz auf den Leichenfundort von Zlatko I, der direkt daneben war. Ich hob das angebissene Salamibrot vom Boden auf und warf es ebenfalls weg. Mit einem Blatt Küchenrolle wischte ich die Butterreste von der Wand, die das fliegende Brot dort hinterlassen hatte. Dann nahm ich wieder den Lappen, wischte noch einmal komplett über den Tisch, schob die Krümel zusammen und ließ sie über die Tischkante hinaus in meine Handfläche fallen. Ich spülte drei Teller, drei Gläser und drei Messer und stellte alles ins Abtropfgestell. Mein Blick wanderte durch die aufgeräumte Küche. Nichts erinnerte mehr an die Ereignisse vor wenigen Minuten, außer einem kleinen Fettfleck an der Wand. Den sah man aber nur, wenn man wusste, wo er war. Oder wenn man ihn unbedingt sehen wollte.

Ich schaltete die Deckenlampe aus und verließ die Küche.


»Dini, komm schon, so schlimm ist das nicht«, flüsterte ich kurz darauf einem Berg aus Mensch und Diddl-Bettwäsche zu. Meine Schwester hatte sich tief unter ihrer dicken Daunendecke vergraben und alle Enden so unter sich gestopft, dass es kein Durchkommen gab. Ich saß auf der Bettkante und strich über die Bettwäsche, nicht sicher, ob die Berührung bis zu Nadine durchdrang. Ein paar Versuche, die Decke zur Seite zu ziehen, hatte es gegeben, aber Nadine war sorgfältig gewesen.

»Wir können auch nach sechzehn Uhr noch Sachen unternehmen oder am Wochenende, und wer weiß, vielleicht ist da ja doch jemand Cooles.«

Nadine antwortete nicht.

Noch ein paar Mal streichelte ich die Bettdecke, dann gab ich auf.

Langsam ging ich zur Tür, plötzlich fühlte ich mich erschöpft, und warf einen Blick auf den Hamsterkäfig. Der falsche Zlatko saß, so wie in der Zoohandlung auch, mit seinem pelzigen Hintern mitten im Trockenfutter. Das hatte der echte Zlatko, also der echte Hamster, nie getan. Um alles musste man sich kümmern, auf alle musste man ein Auge haben. Nichts lief wie geplant. Man konnte doch wohl erwarten, dass sich alle mal ein bisschen Mühe gaben, damit das hier funktionierte. Oder etwa nicht?

»Benimm dich halt noch auffälliger, du dämlicher Fotzkopf«, zischte ich dem Hamster tonlos durch die Gitterstäbe zu und ging aus dem Zimmer. Ich setzte mich auf die Couch im Wohnzimmer und hörte dem Surren des Kühlschranks zu, das aus der Küche herüberdrang. Sonst war alles still. Weder im Schlafzimmer meiner Mutter noch im Kinderzimmer rührte sich irgendwas. Nach einer Weile setzte die Dämmerung ein und tauchte das Wohnzimmer in ein seltsam violettes Licht. Noch immer saß ich reglos da. Es kam mir vor, als hätte die Erdanziehungskraft um ein paar Prozentpunkte zugelegt. Das war dann also das Ende eines Tages, der einst das Potenzial zur Perfektion gehabt hatte. Vielleicht hatte ich zu viel gewollt.

Weitere Minuten verstrichen, und mir fiel zunächst gar nicht auf, dass ich im Stockfinstern saß. Doch dann erglühte etwas vor mir hell, und ich hob den Kopf, die geblendeten Augen mit einer Hand abgeschirmt.

»Ja, was jetzt?«, fragte ein Mann in einem dunkelblauen Overall, der samt einem Reinigungswagen in meinen Gedanken erschien, »soll das jetzt hängen bleiben, oder kann das weg?« Er zeigte auf ein Bild, das an der gegenüberliegenden Wohnzimmerwand aufgetaucht war. Ein eingerahmtes Foto von mir, über dem in leuchtender Schrift »Mitarbeiterin des Monats« stand. Das ›M‹ in Monat flackerte kurz und erlosch dann.


Während Nadine an der Hand meiner Mutter zur Ferienbetreuung gezerrt wurde, blieb ich etwas verloren zurück. Nun waren Sofie und ich wohl gezwungen, die Ferien miteinander zu verbringen.

Ich kann nicht genau sagen, wieso, manchmal gibt es keine großen, unübersehbaren Gründe, keine zurückliegenden Dispute, keine akuten Meinungsverschiedenheiten, aber sie und ich, zu zweit, das war irgendwie nix. Wir funktionierten nur als Teil der Gruppe und auch nur dann, wenn ich mich unterordnete. Manchmal spürten wir allerdings beide, dass dieses Konstrukt fragil war. Hin und wieder, wenn ich eine Situation durchschaute und meine Chamäleon-Haut aufglühte, ich kurzzeitig vergaß, dass ich doch das passende Puzzleteil sein wollte, und zum Beispiel etwas sagte wie »Dann machen wir es doch einfach so, ist doch viel logischer«, da spürten Sofie und ich, dass mein großer Zeh auf der Linie war, die Linie, die uns alle einrahmte und in Form hielt, und dass ein weiterer Schritt gefährlich war.

Es gab immer nur eine Person, die das Sagen hatte, immer nur eine Anführerin, das wusste ich aus den Kinderserien, bei allen Banden war das so, Kollektive ohne Hierarchien gab es dort nicht, eine Person – in den Kinderserien auch häufig ein Tier – bestimmte, wo es lang ging, eine problematische Sichtweise, durchaus, aber die einzige, die ich kannte. Wenn ich Sofies Autorität anzweifelte, dann hieße das Meuterei, Aufstand, Putsch, und das ließ ich mal lieber bleiben. Manchmal funktionierte ich gut als Sofies rechte Hand, wenn zu viel durcheinanderging und alles sich auflöste, wenn Jessi Absurdes vorschlug, dann unterstützten wir uns gegenseitig im rationalen Denken, verdrehten in gemeinschaftlicher Überheblichkeit die Augen über die kopflosen anderen, lächelten uns sogar zu. Aber ich stand immer eine Treppenstufe unter ihr.


Jahre später, als ich in einem engen WG-Zimmer lag, Altbau, Matratze ohne Lattenrost auf dem Boden, eine fremde Hand an meiner Hüfte, auf dem Laptop lief Game of Thrones , da fiel mir dieses seltsame Machtverhältnis zwischen Sofie und mir wieder ein. Die Hand der Königin, Vertraute und Bedrohung zugleich. In einer mehr oder weniger düsteren Fantasyserie machte das in seiner Dramatik alles Sinn, nachträglich betrachtet war all das Unausgesprochene, waren die nirgends festgeschriebenen Regeln, die widerstandslos befolgt wurden – zumindest bis zu einem gewissen Punkt –, ziemlich lächerlich, zumal in diesem Schulhof-Setting, in dem wir uns damals bewegten. Aber so war es nun mal, das Teenagerleben hatte oft strengere Regeln als jede Behörde.


Sofie und mir fehlten die anderen, wenn wir zu zweit waren, fehlen nicht im Sinne von vermissen, also das auch, aber jetzt meine ich etwas anderes. Waren die anderen nicht dabei, löste sich der Sinn meiner Tätigkeit als rechte Hand auf. Dann war es zu merkwürdig, eine Stufe unter ihr auszuharren, dann standen wir auf demselben Absatz, starrten uns an und waren seltsam sprachlos.

Tief in unserem Inneren waren wir uns wohl entweder zu ähnlich oder zu verschieden, um wirklich Freundinnen sein zu können, überlegte ich damals. Was für ein Unsinn.

Letztlich war es eher das klassische Ellenbogen-›Es kann nur eine geben‹-Gedöns, das uns das Patriarchat ins Gehirn gezimmert hatte. Aber wie gesagt, am Ende spielte all das keine Rolle, in diesem Sommer war es Realität.

Und dass Sofies Angst davor, ich könnte die Linie übertreten, auch eine Unsicherheit offenbarte, das sah ich damals entweder nicht, oder ich hatte keine Lust, mich weiter damit zu befassen. Schließlich war ich auch bloß ein Teenager und schon ziemlich viel mit mir selbst beschäftigt. Doch auch Sofie schien kein besonders großes Interesse daran zu haben, unsere Freundschaft zu vertiefen oder neu zu erfinden, und durch diese glückliche Fügung kam es, dass ich die nächsten sechs Wochen statt mit Sofie überwiegend mit Angelica verbrachte.

Die Basis dafür wurde direkt am Anfang der Ferien geschaffen.

Für den ersten Ferienmontag waren Sofie und ich verabredet. Am vorherigen Freitag, im Hauseingang, den zitternden Zlatko II an die Brust gepresst, da hatten wir besprochen, dass ich am Montag zu ihr kommen sollte.

Ich klingelte vorne an der Haustür. Warum ich nicht zum Fenster ging, kann ich nicht wirklich erklären. Es fühlte sich nach einer neuen Situation an. Jetzt waren Ferien, das änderte womöglich alles.

Der Summer wurde betätigt, und ich ging durch den grau gefliesten Flur, in dem es irgendwie immer nach Frikadellen roch, zur Wohnungstür der Rybkas.

Angelica öffnete.

»Ach, hallo!«, sagte sie, wirkte aber verwundert.

»Hey«, sagte ich. »Ich wollte zu Sofie.«

»Die ist gar nicht da.«

»Äh was?«

»Wart ihr verabredet?«

»Ja.«

»Ach, Mensch. Willst du trotzdem reinkommen?«

Da ich keinen Alternativplan hatte, folgte ich Angelica in die Wohnung.

»Das ist ja jetzt doof«, sagte sie im Gehen. »Sofie hat das sicher vergessen, sie ist bei Ewa.«

»Hm«, meinte ich nur. Irgendwie kam ich mir blöd vor.

»Willst du was trinken? Apfelschorle?«

»Ja, okay.«

Während Angelica in die Küche ging, betrat ich das Wohnzimmer. Hier war Chaos.

Auf dem kleinen Tisch vorm Sofa stand eine Nähmaschine, lagen verschiedene Stoffe, ein kleiner Korb mit Garn und Nadeln daneben, und ich sah Scheren und kleinere Stoffstücke.

Angelica kam mit der Apfelschorle herein.

»Was machst du?«, fragte ich.

»Ich nähe ein Kleid für Ewa, Ende nächster Woche ist ihr Geburtstag.«

»Cool, ich wusste gar nicht, dass du das kannst.«

»Mehr oder weniger, ich habe leider, kurz bevor du kamst, ein bisschen Mist gemacht, das muss ich jetzt irgendwie wieder hinkriegen«, sagte sie. »Willst du mir helfen?«

Ich stellte die Apfelschorle sofort beiseite, denn ich wollte.


Ab da war ich viel bei Angelica. Wir taten so dies und das. Selten war Sofie dabei, oder auch Ewa, aber meistens waren wir zu zweit. Irgendwie lebte ich einfach Angelicas Leben mit, aber das gefiel mir. Dieser kleine Zufall am ersten Ferientag bestimmte über den ganzen Rest, verstärkte das Band zwischen Angelica und mir. Oder wäre es ohnehin so gekommen? Ich weiß es nicht.

Selbstverständlich war ich auch viel mit Nadine unterwegs, ich holte sie an vielen Nachmittagen von der Ferienbetreuung ab. Ich ließ das Lebenshandwerkertum nicht ruhen, nur weil Ferien waren.

Ein paar Sonntage mussten wir bei den Großeltern verschwenden. Ich erinnere mich an einen besonders furchtbaren Nachmittag, an dem es heiß war, wie jeden Tag in diesem Sommer, aber wir saßen drinnen, in der dunklen Doppelhaushälfte. Dort war es kühl. Großeltern und Mutter fanden das toll, ich fand es schrecklich, Nadine auch. Ich fror in meinem Neckholder-Top und sah durchs Fenster nach draußen, wo ich nicht gefroren hätte. Ein Nachbar meiner Großeltern war auch zu Besuch. Herr Sieberg, ein älterer Mann, Witwer, etwa im Alter von Oma Hilde und Opa Hermann, aber schon etwas tattriger, saß mit uns im Dunkeln.

»Herr Sieberg, hallo! Geht’s gut?«, fragte meine Mutter zur Begrüßung und schüttelte ihm die Hand.

Und er sagte etwas verwirrt: »Ich glaub schon.«

Dann sprachen die Erwachsenen fast eine Stunde darüber, dass Herr Siebergs Sohn und die Schwiegertochter gerade die obere Etage renovierten. Es ging um Fliesen, kostengünstigen und praktischen Bodenbelag fürs Schlafzimmer, frei stehende Badewannen, Feuchtigkeit und Isolierung und um böse Überraschungen.

»Die böse Überraschung ist er selber«, flüsterte mir Nadine ins Ohr.

Für meine Großeltern und meine Mutter schien das Thema tatsächlich interessant zu sein. Es betraf nicht einmal Herrn Siebergs obere Etage, sondern die obere Etage zweier Leute, die nicht da waren, die meine Großeltern vielleicht zwei, drei Mal auf der Straße und wir, Mutter, Schwester und ich, nie gesehen hatten. Ich konnte es nicht fassen.

Zum Glück sah ich Herrn Sieberg in diesen Ferien nur ein einziges Mal.

An manchen Tagen war ich mit Sofie im Freibad, es war wichtig, dass wir uns ab und an dort blicken ließen. Aus gesellschaftlichen Gründen.

Den Großteil des Sommers aber, den verbrachte ich bei Angelica und in ihrem Leben.

»Wo ist Sofie eigentlich die ganze Zeit?«, fragte ich eines Nachmittags.

Angelica antwortete:

»Meistens bei Ewa, zumindest wird mir das zugeflüstert.«

»Ach so.«

»Sofie war schon immer ein Ewa-Kind«, sagte Angelica dann noch, und ich öffnete den Mund, um etwas zu fragen, aber ließ es dann doch bleiben.


Einen Abend, es muss irgendwann so Mitte der Ferien gewesen sein, da erzählte Nadine von ihrem Tag in der Ferienbetreuung. Wir saßen um unseren kleinen Küchentisch herum, Nadine, meine Mutter und ich. Es gab langweiliges Graubrot, gekochte Eier und aufgeschnittenes Gemüse. Draußen war es noch hell und aufregend, das machte mich ganz unruhig. Draußen war Sommer, und wir saßen hier drinnen mit Graubrot.

Wenigstens quatschte Nadine und plauderte und unterhielt und machte alles aushaltbar, während sie gleichzeitig an einem Stück Karotte herummümmelte. Sie erinnerte mich ein bisschen an die Zlatkos. In ihrer Erzählung kamen zwei andere Kinder vor, Vanessa und Said, die sie bereits das vierte Mal in positiven Zusammenhängen erwähnte. Das beruhigte mich. Irgendwann fragte sie dann, was ich heute getrieben hätte. Meine Mutter war wie immer nicht da, obwohl sie mit am Tisch saß. Sie kaute ihr Brot ohne Genuss, um des Kauens, um der reinen Nahrungsaufnahme willen, geschlossener Mund, starrer Blick nach vorn, Kaumuskel-Einsatz, let’s go . Es machte mich dermaßen wütend, dass ich am liebsten aus Provokation auf den Tisch gekotzt hätte.

»Angelica hat so Heimarbeit dagehabt«, sagte ich, »so Schraubenzeugs und so Sachen, die man ineinanderstecken musste, das haben wir gemacht, war irgendwie voll entspannend.«

»Meine Güte, lässt diese Frau euch jetzt auch noch für sich arbeiten?«, fragte meine Mutter begleitet von ihrem berühmten Kopfschütteln, das Missbilligung in alle Ecken des Raumes verteilte.

Kotz auf den verdammten Tisch, schrie eine Stimme in mir.

»War doch nix, haben wir ja nur so nebenbei gemacht«, nuschelte ich durch meinen mit Käsebrotmatsche gefüllten Mund und schluckte dann schnell alles herunter, bevor noch etwas auf den Tisch kam, das nicht mehr zurückgenommen werden konnte.

»So langsam finde ich das wirklich merkwürdig. Arbeitet am Wochenende in irgendwelchen dubiosen Eckkneipen und lässt sich dann unter der Woche noch von Teenagern beim Schraubenfummeln helfen, wer weiß, wo das Geld hingeht …«

Ich beschloss, das wenige, das ich zu Hause von Angelica und den Nachmittagen bei ihr erzählte, noch deutlicher zu reduzieren. Die Worte meiner Mutter verdarben wie immer alles, und das konnte ich nicht zulassen. Es war nur gut, dass sie nicht wusste, dass ich allein dort war. Da war eine Ahnung in mir, dass ihr das ganz und gar nicht gefallen hätte.


Ich erzählte Angelica von dem Gespräch mit meiner Mutter. Vom Kopfschütteln, von der Missbilligung und konkret von ihren Aussagen. Lange überlegte ich, ob es sie verletzen oder gar zu einem Bruch zwischen ihr und mir führen würde. Doch es war mir tagelang immer wieder durch den Kopf gegangen. Die Worte meiner Mutter arbeiteten eklig in mir. Wie ein Keim, von dem man schon befürchtete, man könnte sich ihn eingefangen haben. Meine Mutter hustete mich an, und ich ignorierte daraufhin eine Zeit lang das leichte Kratzen beim Schlucken, was schließlich immer schlimmer wurde und nicht mehr weggedacht werden konnte.

Auf meinen Bericht hin zuckte Angelica zunächst nur mit den Schultern. Sie fuhr sich durch das lange Haar und blickte für einen Moment auf die gegenüberliegende Hauswand, ein paar Mal öffnete sie den Mund, holte Luft, setzte an und schwieg dann doch wieder.

Mit bangem Blick beobachtete ich das Prozedere von der Seite. Wir saßen nebeneinander auf der Fensterbank, jede mit einer Schüssel vor sich und entsteinten Kirschen. Morgen hatte Ewa Geburtstag, und Angelica plante eine kleine Feier im engsten Kreis mit Kaffee und Kirschkuchen. Das Küchenradio lief im Hintergrund.

»Bist du jetzt sauer?«, setzte ich nach, als das Schweigen zu kribbelig wurde.

»Oh nein, Liebes, ach was«, sie knuffte mich kurz in den Oberarm, »ich habe nur nachgedacht, häufig ist die erste Antwort, die einem direkt in den Sinn kommt, nämlich ausgemachter Unsinn! Die Leute sagen immer, das Erste, was einem in den Sinn käme, sei so ehrlich und stets die Wahrheit. Ich denke aber lieber noch ein bisschen drüber nach, ob da noch weitere Wahrheiten in mir sind, und dann suche ich die aus, die mir am passendsten erscheint.«

»Ist das nicht Betrug?«, fragte ich, woraufhin sie schallend auflachte.

»An wem denn?«

Darauf wusste ich keine Antwort und fummelte weiter an den Kirschen herum.

»Aber …«, begann ich kurz darauf erneut, »macht es dich nicht wütend, wenn sie so über dich spricht?«

»Weißt du, es ist keine wirkliche Boshaftigkeit deiner Mutter. Uns Frauen wurde schon immer beigebracht, andere Frauen zu fürchten und herabzuwürdigen. Es ist Ausdruck dieses verdammten Patriarchats, das uns klein hält, und das wird wohl noch eine Weile so weitergehen …«

»Warum sollte sie dich fürchten?«

»Vielleicht, weil ihre Tochter viel Zeit mit mir verbringt? Vielleicht, weil sie ahnt, dass du die Dinge, die du zu Hause nicht erzählst, hier erzählst?«

»Das interessiert sie doch nicht.«

»Oh, doch, das glaube ich schon.«

»Aber …«

»Wir sollten aus diesem Spielchen aussteigen. Am Ende profitiert keine von uns davon, wir bremsen uns bloß gegenseitig aus mit dieser Missgunst, dem Neid und der Idee, dass wir mit ausgestreckten Ellenbogen an anderen Frauen vorbeilaufen müssen. So kommen wir nicht weiter.«

Ich lauschte Angelicas Vortrag mit großen Augen, mit gewaltiger Erkenntnis, mit dem Gefühl, etwas Wichtiges erfahren und gelernt zu haben.

Einige Tage später lachte ich mit Sofie im Freibad über die Stoppeln, die seitlich neben Jennifer Buckermanns Bikinihöschen zu sehen waren.

Jennifer Buschmann – das war natürlich Sofies Wortschöpfung – ha ha ha ha ha ha.

Besser sie als ich. Das dachten wir wohl alle in diesem Moment.

An diesem Tag ließ ich meine Shorts an, auch im Wasser. Nur um ein Haar (haha) war ich selbst dem gesellschaftlichen Niedergang entronnen.

Dafür machte der Drogeriemarkt in der Nähe unserer Wohnung wenige Stunden später großen Umsatz mit Damen-Rasierklingen. Selbstverständlich hatte ich mich schon vorher rasiert, aber offensichtlich nicht gut genug. Die anschließende Testreihe wurde in unserem Badezimmer durchgeführt. In alle nur erdenklichen Richtungen schabte ich mit dem Rasierer über meine Haut, testete an Venushügel, Achsel und Bein die verschiedenen Aufsätze und kam zu dem Ergebnis, dass ich erledigt war. Keine Klinge sorgte dafür, dass meine Beine so strahlten wie in der Werbung. Während ich mit nacktem Arsch auf dem Badezimmerteppich saß, bildeten sich an meinen Beinen die ersten roten Flecken. Auf meinem Venushügel waren keine Haare mehr, dafür schimmerten unter meiner Haut kleine dunkle Punkte, die verrieten, dass dort noch Haarwurzeln waren, die bereits den Durchbruch meiner Haut planten. Bei der Prüfung tieferer Gebiete fand ich weitere Haare, die trotz fast einstündiger Rasur und unangenehmer Verrenkungen der Klinge entkommen waren. Gespreizte Beine, krummer Rücken und die panikbringende Erkenntnis, dass ich die abstoßendste Person unter der Sonne sein musste. Niemand durfte je sehen, was ich da gerade sah.


»Du bist so anders als alle anderen Frauen, also vor allem als andere Mütter«, sagte ich am Tag des Kirschenentsteinens zu Angelica.

»Ach Gottchen, nein«, widersprach sie, »jede ist für sich anders, und das ist auch gut so.«

»Meine Mutter ist wie alle Mütter und sieht aus wie alle Mütter und versteht gar nichts, aber du schon.«

»Ein bisschen Lippenstift aufmalen, eine bunte Bluse anziehen, das können wir alle, Liebes, am Ende bin ich eine Mutter wie jede andere, die sich Sorgen macht und Fehler und die … oft nicht versteht, was in ihrer Tochter vorgeht. Vielleicht können Mütter es am Ende nie ganz richtig machen, allein der Sachverhalt an sich, also, die Tatsache, Mutter zu sein, macht es vielleicht unmöglich.«

Ich behielt für mich, dass doch niemand verstehen konnte, was in Sofie vorging.

»Ich finde trotzdem, dass du anders bist.«

Angelicas Botschaft drang nicht so richtig zu mir durch. Ich erahnte die Erkenntnis eher, kratzte mit den Nägeln darüber, als dass ich sie damals wirklich begriff.

»Was ist so toll daran, anders als die anderen Frauen zu sein?«, fragte sie.

»Dann ist man auffälliger, und ich weiß nicht, wird eher gesehen.«

»Von wem?«

»Hm … von allen halt, und von Jungs.«

»Der männliche Blick ist nicht so wichtig, wie du denkst, Liebes.«

»Hm.«

»Viel wichtiger ist, dass du dich selbst siehst.«

»Mach ich doch.«

»Ach ja?«

»Meine Mutter sieht sich nicht«, sagte ich, um den Fokus von mir wegzulenken.

»Wieso denkst du das?«

»Ich hab das letztens mitbekommen, da stand sie im Flur, wir haben jetzt eine neue Kommode im Flur mit einem passenden Spiegel an der Wand dahinter. Die hat Mama zusammen mit Oma Hilde im Möbelhaus ausgesucht, uns hat keiner gefragt, und die ist echt grottenhässlich.«

»Ach herrje«, sagte Angelica lachend.

»Jedenfalls hat sie da einen Morgen noch mal so ihr Make-up überprüft, aber es war ganz komisch, sie ist ja oft so fahrig, aber da war’s irgendwie noch mehr, es wirkte so, als ob sie zwar so ihre Lippen und Haut und Wimpern anschauen würde, aber nur einzeln, als könnte sie sich nicht selbst ins Gesicht sehen, also nicht so im Ganzen, richtig komisch, aber keine Ahnung, vielleicht hab ich’s mir auch nur eingebildet.«

»Hm.«

Wieder das berühmte Nachdenken, das Suchen nach der Wahrheit.

»Was ist da passiert? Wie kann das geschehen? Dass man sich im Spiegel plötzlich gar nicht mehr sieht«, sang eine Stimme in meinem Kopf, bevor Angelica etwas antworten konnte. Zu viel Fernsehen, viel zu viel ferngesehen.

Dann aber Angelica:

»Vielleicht weiß deine Mutter nicht so genau, wer sie ist oder sein will, dann ist es womöglich schwieriger, sich richtig anzuschauen.«

»Aber sie ist doch erwachsen.«

»Das reicht manchmal nicht, um das zu wissen.«


Als alle Kirschen steinlos waren, sprang ich von der Fensterbank und landete im hohen Gras.

»Mach’s gut, Liebes«, rief Angelica und schwang die Beine ins Innere der Wohnung.

»Du, Lica?«

»Ja?«

»Was hast du denn zuallererst gedacht, vorhin, als ich dir das von meiner Mutter erzählt habe?«

»Du meinst, über die Dinge, die sie über mich gesagt hat?«

»Ja.«

Wieder zögerte Angelica, dann grinste sie.

»Ich dachte, dass deine Mutter manchmal ganz schön unverschämt ist, aber dann fiel mir ein, dass die meisten Leute in ihrem Leben hin und wieder unverschämt sind, und außerdem dachte ich, dass es sicher einen Grund dafür gibt.«

»Dass sie unverschämt ist, ist trotzdem auch die Wahrheit!«, sagte ich trotzig.

»Ja«, meinte Angelica, »aber vermutlich nicht die wichtigste von allen.«


»Hoch sollst du leben, hoch sollst du leben, dreimal hoch«, wir brüllten das Geburtstagslied für Ewa eher, als dass wir wirklich sangen. Sofie und ich, und Jessi war auch da, offenbar hatte sie es geschafft, ihre Lippen mal ausnahmsweise von denen des Kindmanns zu lösen, und das, obwohl sie übermorgen nach Polen fuhr und dann für eine Weile auf Thorsten verzichten musste. Vielleicht kam ihr ein bisschen Kindmann-Pause aber auch gelegen, ich wusste es nicht. Und noch jemand war dabei: Nadine.

Ich hatte sie bisher erst einmal zu Angelica mitgenommen. Das war vor einigen Wochen. Aus irgendeinem Grund, der mir nicht mehr einfiel, konnte sie an diesem Tag nicht zur Hausaufgabenbetreuung, und so nahm ich sie mit. Sie wirbelte durch den Garten wie ein kleiner Tornado, stellte freche Fragen und nervte alle außer Angelica, die sich nie aus der Ruhe bringen ließ.

Eine Frau, etwa in Lydias Alter, Blumenkleid mit Gürtel, dunkle, hochgesteckte Haare, war noch da. Es war eine Arbeitskollegin von Ewa, die augenscheinlich von den Dynamiken im Hause Rybka überfordert war, vielleicht auch nur von unserem ausgelassenen Gebrüll. Sie stand jedenfalls ein wenig verschüchtert in der Nähe der Hauswand, lächelte zaghaft und versuchte hin und wieder in unseren Gesang einzustimmen, was aber unmöglich war, weil wir so schief sangen und nach unserem eigenen Rhythmus funktionierten, der keine Regeln hatte und der nach oben und unten schwappte, in alle Richtungen ausschlug und Kurven unternahm, wie es uns gerade in den Sinn kam.

Außerdem war da noch Rita. Ihr gehörte die Kneipe, in der Angelica einige Abende die Woche arbeitete. Sie saß zufrieden auf dem weißen Plastikstuhl und trank Eierlikör. Rita hatte kurzes blond-graues Haar, einen großen Busen, der sich auf ihrem Bauch ausruhte, trug ein lilafarbenes Shirt mit Dreiviertelarm und kleinen Glitzersteinchen, ihre Stimme war rau wie ein altes Handtuch. Rita war alterstechnisch irgendwo zwischen meiner Mutter und meiner Oma, wahrscheinlich mit stärkerer Tendenz Richtung Oma. Damals machte ich oft so Gedankenspiele in meinem Kopf, die viel mit Kategorisieren und Einordnen zu tun hatten. An diesem Tag versuchte ich festzulegen, ob Rita meiner Mutter ähnlicher war oder meiner Oma, also so als Mensch, nicht äußerlich.

Schließlich entschied ich mich für Oma Hilde, weil Ritas Sprache, wenn auch an vielen Stellen derber, der meiner Oma ähnlicher war. Sie kam mir auch mehr wie eine Oma vor, weniger wie eine Mutter. Später erzählte sie was von einem Enkelkind, da wusste ich, dass ich die richtige Wahl getroffen hatte.

Angelica reichte den Kirschkuchen heraus, während wir brüllten. Der Kuchen war überladen mit kleinen Kerzen, die brannten und im leichten Wind hin- und herflackerten und für Geburtstagsatmosphäre sorgten.

Jessi schenkte uns allen großzügig aus der Sektflasche ein.

»Nur ein Glas für die Mädels«, sagte Angelica zu Ewas Arbeitskollegin. »Zur Feier des Tages.«

»Nur ein Glas«, wiederholte Jessi tonlos und zeigte fünf Finger, die nur Sofie und ich sehen konnten. Sie tat so, als wäre sie schon besoffen, schwankte ein bisschen hin und her, schielte und grinste uns dann verschwörerisch zu.

»Lässte hier auch ma die Luft raus, Mädchen«, brummte Rita und hielt ihr Eierlikör-Glas in die Höhe.

»Da rein?«, fragte Jessi.

»Ach, sicher!« Rita öffnete den Mund und schüttelte den letzten Tropfen Eierlikör in ihre Kehle. Dann streckte sie erneut ihren Arm mit dem Glas in Jessis Richtung.

Es war ein guter Geburtstag.

Ewa hielt eine kurze Ansprache.

Sie sagte:

»Ich freue mich sehr, dass ihr alle da seid und mit mir feiert. Im Sommer Geburtstag zu haben ist wirklich ein Geschenk, die Sonne sorgt für sich selbst, und wir haben für Speis und Trank gesorgt, bedient euch!«

Dann blies sie die Kerzen aus, wir stießen an, Geschenke wurden ausgepackt, und irgendwann spielten wir sogar Stopptanzen. Rita machte den DJ, sie saß auf dem Plastikstuhl, die Hand auf dem tragbaren CD-Spieler, den Jessi mitgebracht hatte, und drückte gelegentlich die Pause-Taste, während wir anderen über die Wiese sprangen, mal allein, dann wieder in seltsamen Paartanz-Versuchen, die uns missglückten, nur Angelica und Ewa konnten Discofox, und immer wieder bemühte sich Sofie ernsthaft um Choreografien, versuchte, uns Schritte beizubringen, die sie bei Popstars gesehen hatte, aber wir bekamen es nicht hin, nur Nadine, die kleine Hauptfigur, war talentiert und tanzte eine Weile synchron mit Sofie.

Frau Klube ging vorbei und schaute böse.

Wir schwitzten wie wahnsinnig, stopften Erdnussflips in uns hinein und stimmten immer wieder aus dem Nichts Geburtstagslieder an.

Das alles fühlte sich sehr nach Zugehörigkeit an.

Später zündete Angelica überall Kerzen an, die Kette aus Lampions leuchtete, die Mücken stürzten sich auf uns, aber das würde uns erst morgen kümmern.

Es war unvorstellbar, dass mir jemals wieder kalt sein sollte. Ich dachte ganz kurz an meine Mutter und ihren Übergangsjackenwahn, lächerlich. Außen auf meiner Haut lag die Hitze, und im Inneren machten der Sekt und dieses Zugehörigkeitsgefühl alles warm. Mein Puls war sicher bei hundertfünfundneunzig oder bei fünfzig, aber mit Sicherheit nicht irgendwo dazwischen, nicht im normalen Bereich. Das war aber okay so, schließlich war Geburtstag, und zwar schon das benebelte Ende, die Kerzen lagen halb abgebrannt zwischen Kirschkuchenkrümeln, daneben auf einem Teller, ein Kronkorken mit einer ausgedrückten Kippe darin, und in dieser Atmosphäre sollte man keinen normalen, langweiligen Puls haben. Jessi schenkte uns Sekt nach, es war mein drittes Glas. Ich war eh schon betrunken. Ewa und Angelica unterhielten sich gerade und bekamen nichts mit, Rita interessierte nicht, wie viel wir tranken. Nur die Arbeitskollegin schaute so, als könne sie sich nicht zwischen dem Wunsch nach Lässigkeit und dem Drang, das Jugendamt zu informieren, entscheiden. Sofie zwinkerte ihr zu, und sie lächelte unsicher. Wenn das Leben so war wie jetzt, dann war es gut. An Angelicas Fenster war es oft so, als nähme man sich frei von Sorgen und Verpflichtungen und Schrecklichkeiten, die das Leben eben auch so mit sich brachte.

Trotzdem wanderten meine Gedanken heute ungewöhnlich oft zu meiner Mutter. Vielleicht war es, weil Nadine heute mit dabei war und Geburtstage so etwas Intimes, Familiäres waren. Es fühlte sich ein bisschen nach Betrug an. Als hätten Nadine und ich uns eine neue Familie gesucht.

Ich saß auf einer umgedrehten Colakiste und sah in den Himmel. Meine Mutter kannte die Sternbilder, Opa Hermann hatte sie ihr beigebracht, aber die Weitergabe an meine Generation war misslungen. Ein paar Mal deutete meine Mutter in den Himmel und sagte:

»Siehst du die drei Sterne da nebeneinander?«

Aber ich sah nur ganz viele Sterne, alle nebeneinander.

Da war ich jünger, wahrscheinlich so alt wie Nadine jetzt, oder eher sechs oder sieben, und meine Mutter konnte noch besser sehen als ich.

Wie ich so dasaß und alle ein bisschen ruhiger und gemütlicher wurden – Nadine schlief schon in der Hängematte, es war Zeit heimzugehen –, erinnerte ich mich an meinen sechsten oder siebten Geburtstag. Das war auch ungefähr die Zeit, als es mit den Zetteln losging, die da noch gerne gelesen wurden. Nadine war damals winzig klein und konnte weder sprechen noch rennen noch durch die Wohnung toben und Hamster zu Königen krönen, was ich jetzt beinahe unvorstellbar fand. Ebenfalls schwer vorstellbar, die damalige Version meiner Mutter. Da waren keine Details, kein Ablauf dieses Geburtstags, aber ein Moment, der die frühere Mutter zeigte. Ich aufgeregt, Geburtstage waren damals das Größte, fast wie im Wahn ob all der Aufmerksamkeit, die Verwandtschaft plaudernd, und dann meine Mutter im Türrahmen, ein riesiger Kuchen auf einer Platte, damals stand ich sehr auf Marienkäfer, und der Kuchen sah aus wie einer, rote Schicht, dazwischen dicke Flecken aus Schokolade und Kerzen als Fühler, meine Mutter, die alle mit nur einem Blick einfing, zu kurzer Ruhe verdonnerte, dann anatmete wie eine Schauspielerin am Theater und das ganze Wohnzimmer »Wie schön, dass du geboren bist« sang.

Die Kerzen des Marienkäferkuchens leuchteten, und meine Mutter leuchtete auch.

Was damalige und jetzige Mutter wohl sagen würden, wenn sie Nadine und mich nun hier sehen könnten. Wahrscheinlich Unterschiedliches.


Ein Mann schaufelt einen Krater. Er macht den Krater richtig tief. Jahrelang stößt er immer wieder mit der Schaufel in die Erde. Die Frau macht manchmal auch mit. Am Ende immer öfter. Dann sagt der Mann zur Frau, dass sie in das Loch steigen soll, und warum auch immer, warum auch immer, tut sie das und bleibt drin sitzen. Warum zieht es ihn nicht in den Krater? Er geht einfach weg und dreht sich nicht um und ruft selten an, während die Frau im Krater sitzt. Und zwei Mädchen stehen daneben, die eine trinkt Capri-Sonne-Orange und die andere V+ Curuba.


Irgendwann bekam ich dann mal wieder einen lästigen Kloß im Hals, während ich nachdachte und nachdachte, und mein Zeh war dank der Grübelei dicht am grauen Teil der Wiese.

Da sagte Jessi:

»Ey, Rita, ich hoffe, ich krieg auch mal so Riesenmöpse wie du.«

Rita lachte heiser und klang wie der Honda meines Vaters, als dieser mal ganze fünf Minuten brauchte, um anzuspringen.

»Wünsch ich dir viel Erfolch, Mädchen.«


Am vorletzten Feriensamstag war es so heiß, dass man nicht mehr wusste, wohin mit sich, also zumindest wussten es die Erwachsenen und die alten Leute nicht. Wir dagegen wussten genau, wohin mit uns. Nadine, Sofie und ich waren hundert Jahre von Kreislaufbeschwerden entfernt und zum Schwimmen verabredet.

Am Morgen hatten sie im Radio gesagt, dass das Rheinufer ausgetrocknet war. Aber was interessierte uns das Rheinufer, wenn das Chlorwasser im Hombrucher Freibad klar und viel war und in der Sonne glitzerte?


Nadine und ich brauchten fast eine Dreiviertelstunde bis zum Froschloch.

Vorm Kiosk, eine Straße von unserer Wohnung entfernt, saß ein kränklich aussehender Mann auf einem Rollator. Er trug ein BVB-Trikot und trank Bier. Als wir mit zwei Flaschen Apfelschorle aus dem Kiosk kamen, sprach er uns an.

Dass wir doch sicher ins Freibad gingen, mutmaßte er, ob es im Froschloch immer noch die Sprungtürme gebe, fragte er, und dass er da schon als Kind runtergehüpft sei, erzählte er. Ich beantwortete alles höflich und nickte und lächelte und machte »hmmhh«. Es ging weiter damit, wie viel der Eintritt früher gekostet habe, wie seine Schulfreunde hießen, was seine Mutter immer sagte (»Bekäm ich doch bloß zwei Mark für jeden Alki, der mir auf die Rückseite glotzt, dann hätten wa keine Geldsorgen«), dass er mal wirklich einen Frosch im Froschloch gesehen habe und dass er das hinterher in einem Naturkundebuch seines Opas nachschlug und herausfand, dass es sich wohl um einen kleinen Wasserfrosch handelte.

»Mein Vadda war ja ’n Säufer, wissta«, sagte er und nahm einen Schluck aus der Bierflasche, »der war nie mit uns inner Badeanstalt, kein einziges Mal, hat sich dann auch irgendwann verpisst, is wahrscheinlich jetzt tot, hat sich sicher totgesoffen, und da hatten wa dann auch nich mehr viel Kohle, vor allem nich für die Badeanstalt.«

Nadine zog genervt an meiner Hand.

»Sind immer wech, ne?«, monologisierte der BVB-Fan weiter. »Diese Väter, mein ich. Kenn fast keinen, der sacht ›mein Vadda, dat is ’n feiner Kerl‹. Nee, hab ich noch keinen sagen hören, außer hier die eine, mit der ich mal zusammen war, is schon Jahre her, Susa hieß die, die meinte immer, ich soll ma mehr so sein wie ihr Alter. Auch bisschen komisch, ne? Aber sonst sind die immer wech, wo gehen die alle hin?«

In meinen Gedanken erschien ein Ort, an dem es nur Väter gab. Die saßen rum und tranken Kaffee, den irgendjemand Unsichtbares für sie machte, sie schwiegen viel und sahen Fernsehen, und sie vergaßen, dass sie Kinder hatten.

Eigentlich hätten sie dafür auch zu Hause bleiben können.

Der BVB-Fan jedenfalls verlangte keine Antwort auf seine Frage. Er war schon wieder zurück zum Froschloch gesprungen.

Jetzt könne er nicht mehr in die Badeanstalt wegen seiner Krankheit, er bekäme ja kaum Luft und so richtig gut bewegen könne er sich auch nicht mehr. Sicher würde er untergehen wie ein Stein, einfach auf den Boden sinken und liegen bleiben. Ich lachte ein kleines bisschen aus Höflichkeit.

Er sinnierte eine Weile darüber, dass ›Froschloch‹ ein komischer Name sei, und überlegte dann, wo er eigentlich die Badehose mit seinem Freischwimmer-Abzeichen gelassen habe. Könne sich gar nicht daran erinnern, die mal weggeschmissen zu haben. In dem Jahr, als Ottmar kam, da sei er zuletzt im Froschloch gewesen, als junger Mann, aber da hatte ihm die Badehose sicher schon nicht mehr gepasst.

»Welches Jahr war dat nochma?«, fragte er, aber da ich weder wusste, wer Ottmar war, noch wohin dieser genau kam, konnte ich die Frage nicht beantworten. Fast zwanzig Minuten standen wir zusammen in dem kleinen Fleckchen Schatten, das die Markise des Kiosks bot. Heiß war es trotzdem. Als der BVB-Fan zum zweiten Mal von seinem mutmaßlich toten Vater anfing, wurde es Nadine zu bunt.

»Entschuldigung, aber wir müssen jetzt ganz dringend ins Freibad, sonst sterbe ich hier gleich an Langeweile und Hitze«, sagte sie, stemmte sich mit der Schulter gegen meinen Rücken und schob mich vorwärts.

»Ah okay, ja, schönen Tach euch«, antwortete er bloß und hob die Hand.

»Dir auch!«, rief Nadine, und dann gingen wir.


»Meine Güte, das hat ja ewig gedauert«, begrüßte uns Sofie, als wir endlich die überfüllte Liegewiese hinter uns gelassen hatten und vor ihrem Handtuch standen. Sie lag an unserem üblichen Platz in der Nähe des Volleyballfeldes. »Hab vorhin schon Saskia und Nesrin gesehen, die denken bestimmt, ich wär allein hier wie so ’n Opfer.«

»Katha hat sich ewig lang mit ’nem alten Mann vorm Kiosk unterhalten«, petzte Nadine, und Sofie sagte:

»Igitt, machste jetzt einen auf Jessi, oder was?«

Wir lachten gehässig los, und Nadine, die nichts verstand, glotzte verwirrt.

»Lass mal ins Wasser, es ist so megaheiß«, sagte Sofie und stand auf. »Aber nur Nichtschwimmerbecken, meine Haare sollen nicht nass werden, hab die heut Morgen gewaschen.«

Im Wasser trafen wir auf Alex Kehlbach und Dennis Krawczyk, die sich einen kleinen Ball zuwarfen. Sofie manövrierte uns wie zufällig in ihre Nähe, und sie winkten uns kurz zu.

»Also, meine Haare dürfen echt auf gar keinen Fall nass werden, ne«, wiederholte Sofie sehr laut, als müsste sie es Nadine und mir noch einmal erklären.

Bei ihren Worten warfen Alex und Dennis sich einen Blick zu und hatten plötzlich sehr freche Gesichter.

»Ey, Alex, wehe, du döppst mich«, kreischte Sofie in einer Panik, die der Situation völlig unangemessen war, und Alex und Dennis schluckten ihren Köder wie zwei glubschige Fische.

Sie ließen den Ball auf der Wasseroberfläche zurück und wateten durch das hüfthohe Wasser auf Sofie zu.

»Neiiin«, kreischte sie, »Alex, ich mein’s ernst.«

Die nächsten fünfzehn Minuten verbrachte Sofie damit, sich abwechselnd von Alex und Dennis döppen und durch die Luft schleudern zu lassen.

Nadine und ich warfen uns währenddessen den Ball zu, den die Jungs zurückgelassen hatten.

Mich döppte niemand, was wohl hieß, dass ich hässlich war.

»Scheiße, jetzt sind meine Haare nass«, sagte Sofie genervt, als wir wieder Richtung Volleyballfeld latschten.

»Nein! Wie konnte das nur passieren?« Nadines Stimme sprach meine Gedanken aus, laut und sarkastisch.

Wir warfen uns auf die Handtücher und waren nach wenigen Minuten schon wieder komplett trocken. Sofie hatte die Bravo dabei, und wir blätterten an Starschnitten und Psychotests vorbei bis zum Bodycheck, um Madeleine (18) und Thorben (19) komplett nackt zu sehen.

»Oh mein Gott, wie viel Geld müsste man dir geben, damit du das machst?«, fragte Sofie mich, und ich sagte:

»Nie im Leben würd ich das machen, nicht mal für ne Million.«

»Die eine aus der Videothek, die mit dem Nasenpiercing, die war da mal drin. Das ist doch einfach nur krass, das is schon zwei Jahre her oder so, da war die noch bei uns auffer Schule.«

»Woher weißt du das?«

»Hat mir diese Laura aus der Zwölften erzählt, da war ich mal aufm Klo, während eigentlich Unterricht war, und dann hab ich da noch mit der eine geraucht, weiß gar nicht mehr, wie wir drauf kamen, aber das ist anscheinend ’ne Freundin von der.«

»Krass.«

Ich drehte mich zu Nadine um, die sich die Bravo geschnappt hatte und jetzt mit entsetztem Gesichtsausdruck den Penis betrachtete, der zu Thorben (19) gehörte.

Thorben stand in einer Dusche, grinste komisch in die Kamera und hielt den Duschkopf gegen seinen Oberschenkel. Die Haare auf seinem Bein waren dunkel und klebten wegen des Duschstrahls auf seiner Haut. In seinen Schamhaaren, die rund um seinen krummen, unbeschnittenen Penis wuchsen, hing Schaum.

Nadine lag auf dem Bauch, unter sich ihr Spongebob-Badetuch, hatte die Ellenbogen aufgestützt und hielt sich die Bravo vors Gesicht, ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Nasenspitze berührte beinahe Thorbens Oberschenkel. In ihrem Nacken wurde die Haut allmählich rot.

»Nadine, lies mir mal mein Horoskop vor«, sagte ich, nahm die Sonnencreme aus der Tasche und begann, ihr den Rücken einzucremen.

»Was bist du noch mal?«

»Waage!«

Nadine blätterte vom Penis weg.

»Du hast vier von vier Sternen bei Liebe!«

Dann flog mir ein Ball gegen den Kopf.

»Ey!«, schrie ich, packte wütend den Ball, der jetzt neben meiner Tasche lag, und wirbelte herum.

Und da waren die dunkelsten Augen, die ich jemals gesehen hatte.

Als stünde ich auf einem Teppich, an dessen hinterem Ende jemand zog, stürzte ich nach vorne in das dunkle Augenmeer. Ging sofort unter, zappelte nicht mal, ließ es zu, dass es um mich herum immer dunkler wurde. Dumpfes Rauschen in meinen Ohren, ich schwebte in der Dunkelheit unter einer großen Welle, und hier war es ganz leise. Endlich mal ein bisschen Ruhe.

»Katha?«

Sofies Stimme aus weiter Ferne.

Unfreiwillig trieb ich an die Oberfläche, es wurde viel zu schnell viel zu hell, ich blinzelte, prustete.

»Ja, was?«, fragte ich, halb verwirrt, halb genervt.

»Hast du ’ne Gehirnerschütterung oder so?«

Ich war unter keiner Welle, sondern hockte mit halb offenem Mund auf meinem Handtuch und glotzte. Es war wahnsinnig laut. Die Jungs auf dem Volleyballfeld brüllten irgendwas, Kinder kreischten, und überhaupt schien tatsächlich jede Person in diesem Freibad gerade ihren Mund aufzumachen, um irgendwas in die Welt zu krakeelen. Was hatten die immer alle so viel zu sagen?

Der Typ mit den dunklen Augen, der verantwortlich war für meinen Dämmerzustand, fragte:

»Alles okay?«

»Du wirkst ja total weggetreten«, sagte Sofie.

Ich ignorierte sie.

»Ja, alles gut, kam nur unerwartet«, sagte ich zu dem Typen.

»Sorry, ey, wollt ihr ’ne Runde mit uns spielen? So als Entschuldigung?« Er deutete rüber zum Volleyballfeld.

Dass das eine recht schwache Wiedergutmachung war, behielt ich für mich.

»Okay, ja klar … oder?«, aus irgendeinem dummen Grund sah ich unsicher zu Sofie, als bräuchte ich ihre Erlaubnis.

Sie musterte den Typen namens Filip, wie wir später erfuhren, abschätzig und sagte dann:

»Meinetwegen.«

Nadine sprang auf.

»Jaa, Volleyball«, rief sie und hüpfte auf und ab.

»Du bist zu klein«, sagte Sofie. »Du musst Schiedsrichter machen.«

Nadine riss den Mund auf, um zu protestieren, da legte Filip ihr die Hand auf die Schulter.

»Das wär so mega, wenn du das machen würdest, ohne Schiedsrichter können wir gar nicht spielen, Schiedsrichter sind eigentlich noch wichtiger als die Spieler selber.«

Süß.

Eine Weile lebten wir den feuchten Traum aller Teenagermädchen – es war nun mal so. Wir waren umringt von einer Traube uns unbekannter Jungs, für die wir unbekannte Mädchen waren. Jungs, die unsere Namen wissen wollten, die fragten, auf welche Schule wir gingen, und die immer und immer wieder den Volleyball lässig vor uns in die Höhe warfen oder in ihren Händen drehten.

»Hombrucher Gymnasium? Ey, mein Cousin geht da hin? Kennt ihr ’n Luca?«

Kannten wir nicht, war aber am Ende auch unwichtig.

Wir teilten uns so auf, dass Sofie mit zwei Jungs spielte und ich mit den zwei anderen, einer davon Filip.

Es war lustig. Wir entwickelten alle schnell eine witzige Art des Ehrgeizes und stritten um vermeintliche Fehler und darüber, wie man die Angabe richtig machte. Sogar Sofie legte nach kurzer Zeit ihr cooles Gehabe ab und war genauso enthusiastisch dabei wie wir anderen. Nadine schritt immer wieder ein und erklärte gewichtig, dass ein Arm beim Aufschlag falsch gehalten oder die Hände beim Baggern sich nicht korrekt berührt hatten, niemanden scherte es, ob sie wirklich recht hatte, alle spielten mit und entschuldigten sich brav und vermeintlich zu Tode erschrocken über die eigenen Fehler.

Hätte in diesem Moment jemand Fotos von uns mit einer Analogkamera gemacht, die damals, im Zeitalter bunter Digitalkameras, uncool war, dann könnten wir uns heute, im Zeitalter der Retroverehrung, die Fotos ansehen und denken, dass die beste Zeit unseres Lebens hinter uns liegt.

Zum Glück gab es diese Fotos nicht, sodass auch die späteren Tage noch Hoffnung auf das Unerlebte zuließen.

Irgendwann war uns zu heiß, also noch mal Nichtschwimmerbecken. Sofie, Nadine, ich und unsere neuen Jungs.

Alex und Dennis guckten blöd. Saskia und Nesrin, die am Beckenrand saßen, auch. Sofie und mir war bewusst, dass uns dieser Freibadnachmittag in Sachen Coolness – nicht gleichgültige Coolness in diesem Fall, sondern absolut coole Sonnenbrillen-Coolness – ein großes Stück nach vorne beförderte, wenn wir denn überhaupt noch cooler werden konnten. Selbstverständlich sprachen wir das nicht aus.

Es kam die Durchsage, dass das Bad in einer halben Stunde schließe. Das Sonnenlicht war mittlerweile nicht mehr so gleißend, sondern eher sattgelb. Wir packten unsere Sachen zusammen. Ich war hungrig, obwohl Nadine und ich uns vorm Volleyball noch Pommes geteilt hatten. Als ich mein Shirt anzog, spürte ich, dass meine Schultern brannten. Leute mit Rucksäcken und Taschen, Kinder, die nassen Handtücher über die Schultern geworfen, Omis und Opis, die ihre Klappliegen nach Hause trugen, das halbe Freibad zog an uns vorbei. Ich drückte auf die Haut an meinem Oberarm, die Stelle wurde kurz weiß und dann wieder rötlich. Die Bravo lag neben unseren Handtüchern im Gras und wellte sich, weil wir mit chlorwassernassen Fingern darin geblättert hatten.

Eines Tages würden wir ersticken an dem warmen Frieden, in dem wir aufwuchsen. Aber das lag in der Ferne.

In dieser sorglosen Glückseligkeit stand ich auf einem Bein da, stützte mich auf meine kleine Schwester und zog meine Turnschuhe über. An meinen Füßen klebte der Sand vom Volleyballfeld, meine Haut, die klebrig war von Sonnencreme und Schweiß, hatte keine Lust, ihn gehen zu lassen. Das hieß wohl, dass ziemlich viele winzige Mineralkörnchen mit in unsere Wohnung einziehen würden.

Schließlich war alles angezogen oder verstaut. Unsere neuen Jungs begleiteten uns bis zum Ausgang. Filip ging neben Nadine und mir. Sofie vor uns mit den anderen.

Ich hörte sie sagen:

»Ich glaub, ich kenn doch ’n Luca. Ist das so ’n Großer?«

Nadine stöhnte leise.

»Ey, was machste übermorgen?«, raunte Filip kurz darauf am Drehkreuz in mein Ohr, und in mir keimte die winzige Hoffnung auf, dass ich nicht ganz so hässlich war wie angenommen.


Filip und ich trafen uns am Montag in der Dortmunder Innenstadt. Es war später Nachmittag und ekelhaft heiß. Wie die meisten Dinge, die man als Jugendliche so tat, war auch diese Handlung derart schambehaftet, dass ich mich wunderte, warum nicht jede einzelne Person im Umkreis von fünf Kilometern zwangsläufig davon angesteckt wurde. Treffpunkt war ein Imbiss in der Brückstraße. Ich zündete mir eine Zigarette an, damit ich etwas zu tun hatte und cool aussah, wenn er kam. Leider kam Filip Kalinowski zwanzig Minuten zu spät, sodass ich einfach blöd rumstand und nach den Auswirkungen von drei Kippen stank, als er schließlich auf mich zukam. Rollend, auf dem Skateboard. Die Begrüßung von seiner Seite aus war ein kurzes Kopfnicken, ich sagte »Hi«, ohne zu lächeln, und er fragte »Was willste machen?«, als wäre das ein Termin, den er schnell hinter sich bringen wollte.

»Äh«, sagte ich und war verwirrt. Ich dachte, dass wir etwas essen würden, schließlich trafen wir uns an einem Imbiss. Er hatte diesen Ort vorgeschlagen. Nichts ahnend, dass dies der passende Auftakt für die nächsten Jahrzehnte meines Datinglebens sein würde, in denen nie etwas so war, wie es schien oder nach logischen Regeln ablief, fragte ich:

»Ach, essen wir hier nix? Dachte, weil du meintest, wir könnten uns hier …«, meine Stimme wurde zum Ende des Satzes immer leiser und erstarb dann. Filip schien das nicht weiter zu stören.

»Nee, ey, war gerade schon mit Luca Döner essen … Du kannst dir ja was holen, wenn du Hunger hast«, meinte Filip, legte sich das Skateboard hinten auf den Rücken, hielt es mit beiden Armen fest und glotzte in der Gegend rum.

»Nee, hab eh keinen Hunger«, sagte ich, obwohl ich extra nichts gegessen hatte und mir durch die Kombination aus Hitze und drei schnell weggepafften Kippen bereits leicht schwummrig war.

»Tja, okay, sollen wir ’n bisschen rumlaufen?«

»Äh, klar.«

Dann – ohne Vorwarnung – zog er sich das Skateboard vom Rücken und legte ungelenk seinen Arm um meinen Hals. Ich war so verdattert, dass ich gar nicht reagierte. Hatte ich irgendwelche Zeichen übersehen? So liefen wir los. Es musste seltsam aussehen, weil ich leicht schief ging, denn er war kleiner als ich und hielt auf der anderen Seite noch das Skateboard, was ihn zu überfordern schien: links mich festhalten, rechts das Board, ein stetes Schwanken.

Filip roch nach Axe und Knoblauchsoße.

Wir redeten nicht und gingen einfach. Mein Mund war ziemlich trocken. Es gab offenbar kein konkretes Ziel.

Als wir an einem Kiosk vorbeikamen, meinte er:

»Lass mal ’ne Cola holen.«

Dann bog er sofort in den kleinen Laden ein und führte mich mit sich wie eine Gefangene.

Seine Kommunikation war so komisch.

Wäre ich mit Kati hier gewesen, hätte sie gesagt:

»Oh, sollen wir uns vielleicht was zu trinken holen?«

Wäre ich mit Nadine hier gewesen, hätte sie gesagt:

»Duuuurst, können wir uns Cola oder Apfelschorle holen?«

Im Kiosk vor den Kühlschränken ließ er mich los, sodass ich Gelegenheit bekam, meine krummen und bereits schmerzenden Schultern unauffällig nach hinten kreisen zu lassen. Er nahm zwei Dosen Cola aus dem Kühlschrank und gab mir wortlos eine, dann ging er zur Ladentheke.

Er bezahlte seine Dose.

Ich bezahlte meine Dose.

Wollte ich überhaupt Cola?

Am liebsten hätte ich mitgeschrieben, weil alles so seltsam war.

Wir saßen auf einer Bank und tranken Cola, das war immerhin gut gegen meinen Schwindel.

»Was hörst du so für Musik?«, fragte er.

Und ich sagte: »Äh, also …«

»Kennst du Slipknot?«

»Ja.«

»Wie findste die?«

»Na ja …«

Irgendwann gingen wir wieder. Sein Arm auf meinen Schultern.

Mindestens eine Stunde hingen wir dann an einer Tischtennisplatte in der Nähe des Zoos herum. Filip traf dort Leute. Ich stand komisch daneben und lachte leise mit, wenn jemand einen Witz machte, der nicht lustig war. Die restliche Zeit glotzte ich in der Gegend rum, strich mir ab und zu eine Haarsträhne aus dem Gesicht und überlegte, ob ich einfach gehen sollte. Dann, nach Ewigkeiten, mir war mittlerweile noch schwummriger, und ich musste pissen, stand er plötzlich wieder neben mir, sehr nah.

»Ich kann meinen Bruder fragen, ob ich die Schlüssel für sein Auto haben kann«, sagte Filip und sah mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an.

»Äh, aber du kannst doch noch nicht fahren«, stammelte ich. »Du hast doch keinen Führerschein?«

Für einen kurzen Augenblick war ich in Sorge, mir unwissend einen Kindmann angelacht zu haben.

Filip lachte, aber irgendwie blöd. Irgendwie über mich.

»Ja, nee, aber können doch im Auto ’n bisschen abhängen, oder?«

Er hob die Augenbrauen.

Jetzt verstand ich.

»Okay, ja, gut, klar«, sagte ich, und die Panik schwappte in Form von etwas Kotze meinen Hals hoch. Wegstülpen.

»Cool.«


Die Sonne war mittlerweile tiefrot. Sie lag auf dem Rand der Erde und tröpfelte allmählich in sie hinein. Ich dachte an das Eis am Stiel, das Nadine letzten Sommer im Bad Driburger Freibad hatte fallen lassen und das zwischen den Ritzen der Fliesen verschwunden war, noch bevor meiner Schwester eingefallen war, dass dies eine gute Gelegenheit bot zu weinen.

Klebriger Kaugummi-Stiel in Nadines kleinen Fingern, rotes Bum Bum am Boden.

Filip Kalinowskis Finger waren ähnlich klebrig, oder wohl eher schwitzig, nicht Bum-Bum-klebrig, als sie jetzt langsam unter mein Shirt glitten.

In meiner Vorstellung waren seine Finger sanft über meine Haut gestrichen, vorsichtig tastend, doch in der Realität drückten sie fahrig und unangenehm fest gegen mich, verharrten nicht, suchten nicht, sondern steuerten zielgerichtet auf meine Brüste zu. Er fummelte meinen Push-up-BH nach unten und packte meinen linken Nippel, zog daran, als könnte darunter noch irgendetwas Neues zum Vorschein kommen. Vor Schmerz atmete ich ruckartig aus.

Filip interpretierte das natürlich als Erregung.

Angespornt von meinem Ausatmer, machte er jetzt so eine Art Schnipsding an der rechten Brustwarze, umgriff sie mit den Fingern, ließ sie wegschnappen wie ein Gummiband, schnippte dann fest dagegen, wie ein Handwerker, der das vorhandene Material prüfte. Die Lippen fest zusammenpressend, hielt ich den Atem an und hoffte, dass er angesichts ausbleibender akustischer Rückmeldung schnell wieder mit dem Scheiß aufhören würde.

Dass es mir nicht gefiel, sagte ich natürlich nicht, konnte ich nicht sagen, denn das hier war der Moment, der vielleicht beste in meinem Leben, der verdammt noch mal beste Moment im Leben einer Frau, oder? Darauf warteten wir doch, damals Anfang der 2000er, endlich ließ ein Junge sich dazu herab, mich zu berühren, mir die Nippel zu zerquetschen. Diesen Moment hatte ich mir wieder und wieder vorgestellt, etwas anders, als es jetzt tatsächlich war, aber so im Großen und Ganzen kam es schon hin. Ich musste mich jetzt zusammenreißen. Filip und ich, wir waren füreinander bestimmt, das durfte ich nicht verderben. Ich war doch keine verbitterte, alte Verderberin. Ich war nicht meine Mutter. Ich war locker, ich war jung, ich würde mich richtig verhalten, ich würde nicht dafür sorgen, dass ein Mann davonrannte, es nicht mehr aushielt, ich konnte doch hier mal kurz die Zähne zusammenbeißen, niemand war perfekt, wahrscheinlich wusste Filip auch gar nicht so genau, wie man das hier machte, oder es lag daran, dass anderen Mädchen das gefiel, sicher war es das, mit mir stimmte einfach irgendwas nicht, ganz bestimmt hatte er das schon bei anderen gemacht, und denen hatte es gefallen, aber na ja, er würde niemals herausfinden, dass ich das hier nicht mochte, ich behielt das alles schön für mich, er sollte nicht weggehen, ich würde nicht schuld sein.

Und so saß ich da und tat, was von mir erwartet wurde, als Filip seine nach Knoblauch und Kippen schmeckenden Lippen auf meine drückte. Es gab ein widerlich schmatzendes Geräusch, das wir beide ignorierten – der epische Moment sollte schließlich nicht verdorben werden. Irgendwie war das alles unangenehm feucht und wabbelig, meine Gedanken wanderten zu dem Spiegelei, das ich heute zum Frühstück gegessen hatte, und mein Magen machte einen kleinen Hüpfer, allerdings keinen guten.

Ich fragte mich, wie viele Sterne ich wohl heute im Bravo -Horoskop hatte.

Für Filip schien alles am Schnürchen zu laufen. Meine Nippel waren bereits uninteressant geworden, Glück gehabt, und er fummelte jetzt mit wilder Entschlossenheit am Verschluss meines pinken Schnallengürtels herum. Es dauerte peinlich lang.

Für einen Moment flatterte Panik durch meinen Kopf, die dann nach unten in meinen Bauch fiel, liegen blieb und eine unangenehme Hitze ausstrahlte. Ich könnte mir eine Ausrede ausdenken, sagen, dass ich was vergessen hatte, dass meine Mutter, meine Schwester, dass irgendwer auf mich wartete. Aber wir waren doch schon so weit gekommen, ich musste weitermachen. Sonst wäre er enttäuscht, und enttäuschte Jungs, egal wie alt sie waren, bedeuteten Gefahr.

Während ich noch überlegte, ob ich aus der Nummer irgendwie wieder herauskam, wurde mir die Sinnlosigkeit der Situation in einem einzigen, jähen Schreckensmoment bewusst, als ich über Filips Schulter spähte und ungefähr hundert Meter entfernt Frau Meinke mit ihrem Hund stehen sah. Sie konnte uns nicht sehen, hier im dunklen Auto, da war ich mir sicher. Der Hund, der wahnsinnig hässlich war und aussah wie eine vom Himmel gefallene Fledermaus – ich meinte mich zu erinnern, dass Frau Meinke mal mit Stolz in der Stimme erwähnt hatte, dass bei ihrer Leni »Windhund mit drin« sei –, hatte in grotesker Weise seine kleinen dünnen Beinchen auseinandergespreizt, um seinen Po Richtung Boden zu senken. Sowohl Frau Meinke als auch ich beobachteten mit stiller Faszination diesen Ausscheidungsprozess, nur dass Frau Meinke, die Glückliche, nicht gleichzeitig Filip Kalinowskis schwitzig-raue Finger über ihren Harnröhrenausgang rubbeln spürte.

Mit Mühe wandte ich die Aufmerksamkeit von der Szenerie an der Straßenecke ab und versuchte, sie wieder auf die Geschehnisse im Inneren des Autos zu lenken. Mir fiel ein, dass mir das Ganze ja gefallen sollte. Vielleicht würde es aber auch reichen, wenn Filip nur dachte, dass ich sein Harnröhrenkratzen genoss. Ich drückte also meine Lippen leicht hauchend gegen sein Ohr, so wie ich es bei 10 Dinge, die ich an dir hasse gesehen hatte – oder war das in einem anderen Film gewesen? In jedem Fall kam ich mir bescheuert vor.

»Ja, das gefällt dir, hm?«, brummte Filip heiser, rammte dann ohne Vorankündigung seinen Zeigefinger mit einer hektischen Bewegung in mich und begann, so heftig zu rühren wie meine Oma, die versuchte, bei dreißig Grad Außentemperatur die Sahne steif zu kriegen. Das war zu viel. In Gedanken bei meiner Oma und den Anblick vom halben Windhund noch vor Augen, gab ich auf. Hier war für mich nichts mehr zu holen.

Ich rutschte nach hinten, um Distanz zwischen meinen Unterleib und Filips Folterfinger zu bekommen, und stammelte irgendwas von »voll spät« und »ganz vergessen, dass ich noch …«. Er sah mich mit riesigen Augen an, sodass ich mich genötigt fühlte, fünf »Sorrys« und dreimal »Tut mir echt voll leid« anzuschließen, auch wenn ich eigentlich keine Ahnung hatte, wofür ich mich entschuldigte.

»Ging dir das jetzt zu schnell oder so?«, nuschelte er und hielt mich am Arm zurück, während ich versuchte, nach vorne auf den Beifahrersitz zu krabbeln.

»Nee, ach Quatsch«, sagte ich, sah mit Unbehagen auf seine Hand, die meinen Unterarm umklammerte, und dann in seine Augen. Das dunkle Meer war inzwischen umgekippt wie ein zu warmer See und gluckerte trüb vor sich hin. Zur Sicherheit sagte ich noch ein letztes Mal, wie leid es mir täte und dass ich jetzt aber wirklich losmüsste.

Dann schüttelte ich seine Hand ab, kletterte nach vorne und rettete mich durch die Beifahrertür ins Freie. Während Filip auf der Rückbank zurückblieb, atmete ich draußen so gierig die frische Luft ein, als hätte ich stundenlang den Atem angehalten.


Im Laufen fummelte ich den Reißverschluss meiner Hose wieder zu und ließ den Schnallengürtel einrasten. Ich blickte mich hektisch um, doch es war niemand zu sehen. Frau Meinke und die Fledermaus hatten sich wohl längst zu Herrn Meinke in die gekreppte Bettwäsche zurückgezogen. Das war es also, worauf ich die letzten Jahre hingefiebert hatte. Na, das hatte sich ja wirklich gelohnt. Gerne wieder – oder besser nicht.

Wo sollte ich jetzt hin? Es war noch relativ früh, aber ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Meiner Mutter hatte ich gesagt, ich würde bei Sofie übernachten. Natürlich könnte ich ihr erzählen, dass Sofie und ich uns gestritten hätten oder dass ich mich nicht wohlfühlte, aber die Aussicht auf dieses Gespräch und die Vorstellung, schweigend in meinem Einzelbett zu liegen, neben meiner Schwester, nach allem, was gerade passiert war, beides sprach mich nicht besonders an. Wie von selbst trugen meine Füße mich durch die Straßen, es begann zu dämmern. Ich mied die öffentlichen Verkehrsmittel. Sicher sah ich schrecklich aus. Irgendwie wollte ich mir gerade nicht selbst begegnen und schon gar nicht in der Spiegelung einer Busscheibe, angestrahlt von wenig schmeichelhaftem Licht. Laufen war besser. Und so trieb ich durch die Hombrucher Dämmerung.

Zwischendurch bog ich dann mal in eine Seitenstraße ein und ließ mich an einer Bushaltestelle nieder, um eine Kippe zu rauchen. Bedauerlicherweise setzte sich nach kurzer Zeit ein Mann um die vierzig neben mich an diese Bushaltestelle mitten im schwach beleuchteten Wohngebiet, an eine Bushaltestelle, an der vor zwei Stunden der letzte Bus des Tages abgefahren war, und sah mich von der Seite an.

Ich zog an der Kippe, dann warf ich sie weg, weit weg, der Blick des Mannes folgte der fliegenden Kippe, er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da war ich schon weg. Mit stechender Lunge – erst Rauch einatmen, dann losrennen, keine gute Idee, aber in diesem Fall nicht zu ändern – raste ich um zwei Ecken und war wieder in einer etwas belebteren Gegend. Ein streitendes Paar vor einem chinesischen Imbiss und ein rauchender Mann vor den leuchtenden Buchstaben »Kiosk« direkt daneben boten mir Sicherheit. Es war wirklich ärgerlich, dass die Inanspruchnahme öffentlicher Stille als Frau beinahe unmöglich war, egal ob ruhige Seitenstraße bei Nacht, tiefer Wald, eine einsame Stelle am See, über allem schwebte stets diese Bedrohung. Die gleiche Bedrohung, die Thorstens Blicke auslösten. Später im Leben gab es Frauen, mit denen ich darüber sprach, die sagten, sie gingen trotzdem alleine durch den Park joggen oder in der Dunkelheit die schwach beleuchtete Abkürzung nach Hause. Die Bedrohung ignorieren, als feministischer Akt, als Selbstermächtigung, das ging, aber sie leugnen, das ging nicht.

Für mich gab es an jenem Abend nur einen Ort, an dem ich sichere Stille finden würde.

Zehn Minuten später sah ich zugezogene gelbe Vorhänge. Ich machte mir nichts vor, natürlich war das hier schon die gesamte letzte Stunde mein Ziel gewesen, aber ich musste noch eine Weile herumstreifen, bevor ich mir das eingestehen konnte. Ich wollte nicht nerven. Hin und wieder schlich sich die Sorge in meine Gedanken, dass Angelica eines Tages sagen würde, dass es nun zu viel war. Dass es nun reichte, dass sie eben nicht meine Mutter sei, nicht ständig mit klugen Ratschlägen und Zeit und Sehen dienen könne.

In diesem Moment aber schob ich die Befürchtung beiseite und hoffte, dass sie zu Hause sein würde. Zwei Abende die Woche stand sie in Ritas Kneipe im Kreuzviertel hinter der Theke. Eigentlich dienstags und freitags, aber hin und wieder eben auch aushilfsweise an anderen Abenden. Angelica hatte viele verschiedene Jobs. An drei Vormittagen half sie bei der Essensvorbereitung in einer Kita, und immer mal wieder lagen auf ihrem Küchentisch Tütchen mit Schrauben und anderen Kleinteilen, die sortiert oder montiert werden mussten. Manchmal nähte sie auch kaputte Kleidung für Bekannte oder Nachbarn. Sie konnte irgendwie alles.

Später, irgendwann im Dezember, half sie während einer Krankheitswelle zwei Tage in der Schulcafeteria aus. Es waren zwei Tage, in denen Sofie mit einem sehr merkwürdigen Gesichtsausdruck durch die Schule lief und uns allen verbot, die Cafeteria zu betreten.

Irgendwann in der Pause kam Saskia Peters ganz blöd und ganz laut zu uns und fragte frech:

»Ey, war das etwa deine Mutter, bei der ich gerade mein Schokobrötchen gekauft habe?«

Da sprang Sofie auf und riss ihr die Brötchentüte aus der Hand. Anna und Jessi eilten sofort herbei und hielten Saskia fest, während Sofie das Schokobrötchen gegen Saskias Stirn drückte, ihre Hand dabei langsam drehte und ihr sagte, sie solle sich für immer verpissen.

Nach der Sache war Saskia so verstört, dass sie nicht einmal petzte.

Kati und mir ging es ähnlich. Auch wir hielten selbstverständlich den Mund.


Hinter Angelicas Vorhängen brannte Licht.

In einer fließenden Bewegung, die ich in den vergangenen Wochen perfektioniert hatte, schwang ich mich über den niedrigen Holzzaun und lief über den Rasen.

Mein Herz verdeutlichte mir das Ausmaß meiner Nervosität mit recht unangenehmem Klopfen. Doch die Sorge war unbegründet. Denn kurz darauf saß ich schon neben Angelica auf dem Fensterbrett. Ihre Überraschung angesichts meines späten Besuchs legte sich schnell. Zwar weiteten sich ihre Augen beim Zurückziehen des Vorhangs, wanderten über mich, als das Fenster geöffnet wurde und konnten dann offenbar keinen Anhaltspunkt finden, der schnelles Handeln oder Panik erforderte.

»Ich kann ein köstliches Abendleitungswasser anbieten und ein offenes Ohr, sonst habe ich nichts da«, sagte Angelica nur und zwinkerte.

Die Luft war noch immer warm. Angelica löschte das Licht in der Küche, damit sie nicht den halben Mückenbestand Dortmunds, wie sie es formulierte, in der Küche habe. Stattdessen flackerte jetzt eine insektenabwehrende Kerze neben uns.

»Wow, das ist aber aufregend!«, sagte sie, nachdem ich ihr erzählt hatte, wo ich gerade herkam, und zu meiner Verwunderung klang sie so, als würde sie das tatsächlich so meinen.

»Findest du echt?«, fragte ich.

»Aber natürlich, dein erstes richtiges Date … wie war es denn?«

»Hm!«

»Oje, so schlimm gleich?«

»Na ja, am Anfang nicht, obwohl doch, irgendwie schon.« Ich kam wieder ins Sprudeln und erzählte Angelica recht wirr von meinem bisherigen Abend, vergaß Teile, fügte sie dann noch ein, korrigierte mich, und selbstverständlich entschuldigte ich mich wieder unzählige Male, für meine zu lange Nacherzählung, für mich selbst, für einfach alles. Die Tatsache, dass wir uns am Imbiss trafen und er nichts essen wollte, erzählte ich gleich dreimal, das schien mich wirklich fertigzumachen. Vom Teil des Abends, der im Auto stattfand, erzählte ich aus Scham in so schnellem Tempo, dass ich nicht sicher war, ob Angelica folgen konnte.

Am Ende sagte ich dann: »Und na ja, weiß auch nicht, irgendwie fand ich das alles nicht so gut, wie ich vorher gedacht hab.«

Diesmal war es an Angelica, »hm« zu machen.

»Was?«, fragte ich.

»Ich überlege«, sagte Angelica.

Und ich wartete.

»Manchmal sind die Vorstellungen, die wir uns von gewissen Sachen machen, besser, als die Realität jemals sein könnte«, begann Angelica schließlich. »Weißt du, vieles, von dem, wie wir annehmen, dass es sein sollte, also, was wir denken, wie Dinge zu laufen haben und wie sie sich für uns anfühlen sollten, das kommt ja von außen.«

»Aber vielleicht hätte ich mich einfach nur zusammenreißen müssen«, sagte ich, ohne Angelicas Worte wirklich zu hören. »Ich mein, ich hab’s ja versucht, vielleicht muss man sich einfach nur ein bisschen zusammenreißen, auch wenn mal was nicht so toll ist. Also, ich will doch am Ende nicht meine Mutter sein, die sich beschwert und meckert und dann geschieden ist und allein, ich kann mich doch zusammenreißen, und wenn Filip denkt, dass alles okay wäre, dann reicht das doch, und dann hätte ich einen Freund, einen festen Freund und … ja, das wär doch gut.«

Angelica starrte mich an und sah vollkommen schockiert aus, diesmal antwortete sie sofort, ohne zu überlegen.

»Nein, Liebes. Bitte sag das nicht, oder denk das nicht mal«, sagte sie mit unerwarteter Vehemenz in ihrer Stimme. »Auch wenn ich dir natürlich nicht vorschreiben kann, was du zu denken hast, aber deiner Mutter die Schuld zu geben für das Ende dieser Beziehung und daraus die Konsequenz zu ziehen, dass du dich dem Willen der Männer hingeben musst, das ist nicht gut, das ist wirklich nicht gut. Ein Freund soll dich doch fröhlich machen, du sollst kein perfektes Bild aus dir bauen und dann leiden, das ist schrecklich.«

Heute denke ich, dass bei dem ganzen Raum, den ich Nadines Zorn überließ, dem gleichberechtigten Zorn unseren Eltern gegenüber, einem Zorn, den ich bis zum Ende durchanalysierte, dass ich bei alldem übersah, dass mein eigener ungerechter Zorn vor Antifeminismus nur so triefte, dass ich knietief in dem steckte, was Angelica mit ›verdammtes Patriarchat‹ meinte.

»Aber ich … also ein bisschen muss ich mich doch interessant machen, wenn ich sage, dass ich nicht will, dann bin ich doch prüde und blöd, und generell, also, er soll doch nicht denken, dass ich langweilig bin und …«

»Niemandes Feind als sein eigener«, sagte Angelica in meinen Wortschwall hinein, und ich pausierte kurz, sprach dann aber weiter, weil ich nicht wusste, was sie damit meinte.

»Na ja, es ist doch eh schon irre, dass er mich ausgesucht hat, da im Freibad, ich weiß gar nicht, warum … und wenn er mich schon ausgewählt hat, dann sollte ich doch dankbar sein.«

Angelica sah schon wieder ziemlich schockiert aus.

»Für was denn? Für was solltest du dankbar sein?«

»Da waren ja noch andere Mädchen, aber er wollte mich, obwohl ich … obwohl ich so … also, wenn er mich schon aussucht, dann sollte ich doch alles dafür tun, dass er das nicht bereut.«

»Ich hab’s dir schon mal gesagt, du Glücklich-Macherin«, sagte sie langsam, und ich behielt für mich, dass ›Lebenshandwerkerin‹ der korrekte Begriff war, »dass du nicht für das Glück der ganzen Welt verantwortlich bist, alles aushalten und tragen und ertragen musst und am Ende aber tief drinnen doch traurig bist. Und außerdem könnte das doch umgekehrt genauso gelten. Sollte er sich nicht glücklich schätzen, dass du Zeit mit ihm verbringst?«

Ich ging über ihre Frage hinweg.

»Aber vielleicht hab ich jetzt alles kaputt gemacht«, sagte ich. »Eigentlich war es doch nicht so schlimm, und ich war ja freiwillig in diesem Auto, und im Freibad war er ja noch nett und …«

»Aber warum bist du gegangen?«, unterbrach mich Angelica.

Ich sah sie an, unsicher, ob ich die Antwort auf die Frage geben sollte oder ob sie das tun würde.

Nach einem Moment der Stille sagte sie, nun wieder sanfter:

»Weil eben nicht alles okay war, weil da das Gefühl in dir war, zum Glück, eine Art Alarm, wenn man so will, dass es eben nicht okay war.«

»Hm«, ich saß da, sah auf die dunkle Straße, auf der nichts passierte, rieb mir über die Arme, obwohl es nicht kalt war, saugte das Innere meiner Wange ein, drehte meinen rechten Ohrring hin und her.

»Du kannst ruhig mal ein bisschen Mitgefühl für dich selbst haben, dafür, dass dieser Abend so war, wie er war, das klingt alles fürchterlich anstrengend«, sagte Angelica irgendwann in die Stille hinein.

»Mein Vater hat immer gesagt, Leute, die sich selbst leidtun, sind erbärmlich«, sagte ich.

»Ach Quatsch«, sagte sie und zog verärgert an ihrer Zigarette. »Immer diese Männerweisheiten. Wenn einem Scheiß passiert, kann man sich auch mal leidtun, man muss ja nicht gleich darin versinken.«

Dann schwiegen wir, und ich lief ein bisschen zwischen meinen Gedanken hin und her.

»Vielleicht bin ich ja lesbisch«, sagte ich nach einer Weile zu Angelica und versuchte, es wie einen Scherz klingen zu lassen.

Doch Angelica antwortete schlicht: »Kann schon sein«, und ließ mir keine Zeit für die Ironisierung meiner Gefühle.

»Aber … im ersten Moment fand ich ihn ja schon gut, also das kann doch dann gar nicht sein, oder?«

»Liebes, das wirst du schon noch rausfinden, irgendwann wahrscheinlich, setz dich nicht so unter Druck. Vielleicht weißt du’s auch erst in ein paar Jahren oder mit siebzig oder nie. Außerdem muss man auch nicht immer alles ganz genau wissen, nur weil die Welt ständige Kategorisierung verlangt. Du machst das schon, in deinem Tempo, alles gut.«

Wir schwiegen wieder ein bisschen. Angelica erschlug eine Mücke auf ihrem Arm. Ich schaute einem vorbeifahrenden Auto nach.

»Wo wohnt eigentlich Ewa?«, fragte ich nach einer Weile, da ich keine Lust hatte, weiter über Filip und den komischen Abend zu sprechen.

»Nicht weit von hier, ein paar Straßen weiter nördlich, Richtung Kreuzviertel«, sagte Angelica. »Wir brauchen beide eine gewisse Art von räumlichem Freiraum, aber ganz weit weg voneinander halten wir es doch auch nicht aus.« Sie lächelte, und wieder schwiegen wir.

Schließlich fragte ich zögernd: »War Ewa … schon immer Ewa?«

In ihrer gewohnten Art ließ sich Angelica einen Augenblick Zeit mit ihrer Antwort.

»Ja, das war sie«, sagte sie dann. »Die Welt hat nur ein bisschen gebraucht, um das zu sehen und sie einen Umweg gehen lassen.«

Unsicher, ob ich die Antwort wirklich verstand, zögerte ich kurz, dann:

»Aber ich meine, sie ist doch … sie ist doch nunmal Sofies … oder nicht?«

»Sofies anderer Elternteil, meinst du. Das ist sie, aber das ändert nichts an meiner Antwort. Hör zu, Liebes, Ewa ist Ewa, weil sie schon lange wusste, dass sie Ewa war, und somit ist sie ganz einfach Ewa. Wer außer uns selbst soll schon bestimmen, wer wir sein wollen oder sein können oder eben sind? Wenn wir für irgendwas Experten sind, dann doch wohl für uns selbst.«

»Hm, ja. Klar, klingt logisch …«, nuschelte ich nach einem kurzen Moment des Nachdenkens. »Aber also … war es nicht schwer für dich und Sofie … also für euch alle?«

»Natürlich war es keine einfache Zeit, aber das lag eher am Außen, wir im Innern, das war immer eindeutig. Der Druck, das Schwermachen, das haben andere getan, Strukturen, Gesetze, die alles kompliziert machen und am Inneren kratzen, das war das Schlimme.«

Ich hatte Angst, zu viel nachzufragen, zu aufdringlich zu sein, also schwieg ich, sah in die Nacht hinaus, die nun wirklich dunkel war, nicht mehr dämmrig und blau wie noch auf meinem Streifzug durch Hombruch. Meine Gedanken wanderten zurück zu Filip.

»Woher weiß man denn eigentlich, ob man verliebt ist oder ob es nur so ’n Erwartungs-Quatsch-Gefühl von außen ist?«, fragte ich.

»Uff«, machte Angelica. »Schwierig.«

»Da musst du erst mal nachdenken, oder?«

»Tatsächlich muss ich das«, sagte sie lachend. Angelica zündete sich eine Zigarette an, und wieder war da Schweigen. Dann, nach einigen langen Augenblicken:

»Ach, weißt du, Liebes, ich erinnere mich noch an Beziehungen, an flüchtige Begegnungen, die sich für mich riesengroß anfühlten, an denen ich mich festklammerte, als hinge mein Leben davon ab, aber die dennoch viel mehr mit mir selbst zu tun hatten als mit der anderen Person. Doch irgendwann, wenn man Glück hat – und das hatte ich –, entstehen im Leben Verbindungen, die viel größer sind als das. Dann findet man sich vielleicht in einer Beziehung wieder, die weit weg ist von diesem egoistischen, verzweifelten Streben nach Zuneigung, oder vielleicht oft nur nach Aufmerksamkeit. Hm, wie erklär ich das besser? Mit etwas Glück und Erfahrung kann man Beziehungen schaffen, die einer Idee von Liebe, wie wir sie in Filmen sehen, die immer verzweifelt, dramatisch und dann doch oberflächlich ist, die all dem entwachsen, und ja, dann verlieren viele Dinge, die in jüngeren Jahren so wichtig schienen, an Bedeutung. Hm, aber jetzt sind wir schon bei Liebe, nicht mehr bei Verliebtsein.«

»Ist ›Liebe‹ größer als ›Verliebtsein‹?«

»Ich würde sagen ja, auch, wenn es einem manchmal kleiner vorkommt. Der Alltag gaukelt einem das vor, zwischen Einkaufen und Müll rausbringen und Kinder großziehen kommt einem die Liebe manchmal etwas farblos vor, deswegen erkennen viele Leute auch erst, wie groß etwas war, wenn sie es verloren haben.«

»Hm, weiß gar nicht, ob ich jemals jemanden so richtig lieben kann und so lange, über Jahre, vielleicht geht das gar nicht, also bei mir jedenfalls nicht«, sagte ich und dachte an meine Eltern.

Angelica sah mich kurz von der Seite an, formte dann einen Kreis mit ihren Lippen und schickte einen recht schiefen Rauchring in die Nacht hinaus, bevor sie erneut sprach.

»Man muss den egoistischen Teil der Liebe hinter sich lassen, was schwer ist, aber dann kommt man dahin, dass es einem wirklich, nicht nur vorgeblich, um das Wohl der anderen Person geht, und ab da ist sehr viel möglich. Vermutlich ist das der Grund, warum es funktioniert zwischen Ewa und mir, egal wie die Bedingungen sind, egal was von außen einwirkt, das Wichtigste ist und wird immer sein, dass es der jeweils anderen gut geht.«

»Hm«, machte ich nur, und Angelica lachte.

»Ach, was erzähle ich dir hier? Du musst mich ja wirklich für eine alte, durchgeknallte Frau halten, fast hätte ich eben noch angefügt, ›aber das verstehst du nicht, dafür bist du noch zu jung‹«, sie schüttelte den Kopf über sich selbst. »Man kann sich der Überheblichkeit des Alters dann doch nicht ganz entziehen.«

»Du bist doch keine alte, durchgeknallte Frau«, war alles, was mir dazu einfiel.

»Danke, dass du das sagst«, meinte Angelica immer noch lachend und zog mich für einen kurzen Moment an sich.


Ich schlief neun lange Stunden in Sofies Bett und stellte mir vor, es wäre mein Bett und mein Zimmer und mein Zuhause. Am nächsten Morgen frühstückten Angelica und ich zusammen. Das Küchenradio lief, ich saß am Tisch, Angelica auf der Fensterbank, die Sonne schien zu beiden Seiten an ihr vorbei, und sie sang, den Mund voll mit Marmelade und Toast, in falschem Englisch die Lieder mit. Sie trug ein weites, gemustertes Kleid, leuchtete, und ich war Zuschauerin ihres Musicals, so lange, bis sie mich an der Hand nahm und durch die Küche wirbelte.

Als ich gerade aufbrechen wollte, stand Sofie plötzlich im Flur.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie.

»Äh, ich hab vorbeigeschaut, weil ich dachte, du willst vielleicht ins Froschloch«, sagte ich.

Mir wurde heiß, weil Angelica mit im Raum und Zeugin meiner Lüge war, aber sie sagte nichts.

»Ach so, klar, aber jetzt schon? Lass mal später gehen.«

»Okay, ja cool.«

Wir verabredeten uns für den Nachmittag.

»Wie war’s eigentlich gestern mit Filip?«, fragte Sofie in beiläufigem Ton, als ich aus der Wohnungstür ging.

»Oh, war ziemlich gut, sind direkt auf die dritte Base vorgedrungen«, sagte ich und lächelte vielsagend.

Angelica hob nur die Augenbrauen.


Abends saß ich mit Mutter und Schwester in der Küche. Wir aßen Nudelsalat mit Kräuterbaguette. Nadine hielt ihren Arm neben meinen und sagte: »Ich bin tausendmal brauner als du.«

Bevor ich etwas sagen konnte, antwortete meine Mutter mit schneidender Stimme: »Das stimmt aber nicht, ihr seid ungefähr gleich, ich glaube, Katha ist sogar etwas brauner als du. Erzähl nicht immer so einen Quatsch, Nadine!«

Für einen Moment stellte ich mir vor, wie ich das Kräuterbaguette nahm und meiner Mutter damit eine zimmerte.

Stattdessen sagte ich: »Könnte übrigens sein, dass ich lesbisch bin.«

Stille.

Erst fiel Nadine eine Nudel aus dem Mund, dann glotzte sie mit weit aufgerissenen Augen zwischen meiner Mutter und mir hin und her.

»Sei doch nicht albern, Katharina«, sagte meine Mutter.

»Bin ich nicht!«

»Also wirklich, es ist ja grundsätzlich nichts dabei, lesbisch zu sein, aber du bist doch nicht lesbisch.«

Wie sie sich so sicher sein konnte, während ich es nicht war, über Jahrzehnte nicht sein würde, war mir schleierhaft.

»Na ja«, begann ich, und etwas in mir begehrte auf, entschied, dass es Zeit für eine neue Ära war. »Letztens hab ich mit so ’nem Typen rumgemacht, ziemlich heftig, in seinem Auto, und irgendwie hat mir das nicht so richtig gut gefallen, also könnte halt schon sein … dass ich lesbisch bin, mein ich.«

Nadine sah mich an wie ein stolzer Vater.

Meine Mutter war weniger stolz und klatschte mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Hör jetzt auf, so einen Mist zu erzählen, auch noch vor Nadine, was ist denn los mit dir?«, zischte sie, und zwischen Nase und Mund bildeten sich zwei lange, unschöne Falten.

Da ich schon so weit gekommen war, beschloss ich, dass ich jetzt genauso gut weitermachen konnte.

»Also, vielleicht«, sagte ich, »sollte ich irgendwem mal die Muschi auslecken, nur um ganz sicherzugehen.«

Meine Mutter riss den Mund auf, und dann rettete mich das Klingeln des Telefons – vor was auch immer.

»Das wird ein Nachspiel haben«, sagte meine Mutter, aber es hatte kein Nachspiel, kein erwähnenswertes. Meine Mutter sprach zwei Tage nur das Nötigste mit mir, und das war alles. Das war nicht wirklich ein Nachspiel. Unter einem richtig echten Nachspiel stellte ich mir Folter, Internat oder Aussetzen bei Nacht im Moor vor. Wenn man erst einmal begriff, dass das sogenannte Nachspiel nicht in der imaginierten Form existierte, sondern dass die Strafe hinter »Das wird ein Nachspiel haben« lediglich die Befürchtung einer Konsequenz war, dann war man frei. Nadine musste das schon in sehr jungen Jahren begriffen haben, aber mein Streben nach Anpassung hatte mich stets ausweichen lassen, sobald auch nur die kleinste Reibung, das kleinste Sandkorn, auftauchte.

Jedenfalls war dies der Abend, an dem meine Mutter entschied, dass ich nicht lesbisch war. An manchen Tagen meines Lebens hielt ich mich daran, an vielen aber auch nicht.


»Weißt du eigentlich, dass das Badezimmer ein Faradayscher Käfig ist?«, fragte ich Nadine später am Abend, wir nebeneinander, mit unseren Rücken an der Badewanne, die Augen geschlossen. Noch eine kleine Runde rauskommen.

»Was heißt das?«, fragte Nadine zurück.

»Das heißt, dass wir hier drin komplett sicher sind«, sagte ich. »Hier kommt nichts rein, wir sind gut abgeschirmt, nicht mal, wenn’s gewittert, kann uns hier drin was passieren.«

Irgendwann vor den Ferien war Faradays Käfig Thema in Physik gewesen. Ich hatte nicht richtig aufgepasst und mir nur gemerkt, was mir taugte. Nicht Kati, sondern Dennis hatte in dieser Physikstunde neben mir gesessen. Der Lehrer hatte Dennis und Alex auseinandergesetzt, weil sie zu viel Scheiß machten.

»Ich setz euch jetzt mal neben zwei Mädels, die können euch wieder ’n bisschen in die Spur bringen, damit ihr auch was vom Stoff mitbekommt«, hieß es.

Dazu wurden Kati und ich auserkoren. Wir mussten das ausbaden.

Dennis fummelte die komplette Stunde über an seinem Mäppchen herum, nur um mir zwischendurch irgendeinen Quatsch ins Ohr zu flüstern oder hektisch zu Alex hinüberzuwinken und Fratzen zu machen, sobald der Lehrer sich zur Tafel drehte. Ich konnte mich kaum konzentrieren, schnappte nur Fetzen über Faradays Käfig auf und hatte am Ende der Stunde Kopfweh. Ob Kati und ich die Jungs wieder in die Spur bringen konnten und warum das überhaupt unsere Aufgabe war, blieb ein Rätsel.

»Woher weißt du das?«, fragte Nadine jetzt.

»Mh, als wir die Magie hier drin entdeckt haben, da haben wir den Käfig aktiviert, und immer wenn wir jetzt hier reingehen, dann bildet sich eine elektrische Hülle, einmal rundherum ums Badezimmer, und dann kann nichts mehr hier rein.«

»Gar nichts?«

»Nichts Gefährliches halt. Keine Blitze, kein Schmerz, keine Erwachsenen.«

»Krass.«

»Ja, oder?«

»Was ist mit Hamstern?«

»Nur, wenn wir sie reinlassen.«

»Dann ist ja gut.«

»Wir sind wirklich sicher hier drin.«

»Hm«, sagte Nadine. »Nach heute Abend hab ich aber das Gefühl, wir wären überall sicher, auch da draußen. Sogar mit ihr

Meine Schwester mochte recht haben, dennoch war es gut, das Badezimmer in der Hinterhand zu haben.


Da hatte ich also plötzlich eine neue Persönlichkeit. Dass ich den Mund aufgemacht, meiner Mutter die Stirn geboten, sie aus dem Konzept gebracht hatte, beflügelte mich irgendwie. Ich war bereit, die Wahrheit laut auszusprechen, selbst wenn sie anderen nicht passte. War doch gar nicht so schwer. Ich beschloss, meine neue Persönlichkeit nach den Sommerferien auch in die Schule auszuführen, und steigerte mich in der Nacht vorm ersten Schultag in heldenhafte Vorstellungen und Ideen von mir selbst hinein, als große Rebellin, als bewunderte Störenfriedin.

Es war viel los. Der erste Schultag nach den Sommerferien war immer ein riesiges Durcheinander, ein sich gegenseitig auf den neuesten Stand bringen, irgendwer hatte entweder plötzlich eine Brille oder eine neue Frisur, probierte einen neuen Kleidungsstil aus oder versuchte sich sonst wie an einem neuen Image. Am ersten Schultag entschied sich, wer man für das folgende Jahr sein würde. Manche wagten mutige Vorstöße, ruderten doch oft am nächsten Tag schon wieder zurück, wenn die Rückmeldung der Mitschüler nicht wie gewünscht ausfiel. Ich überlegte hin und her und wartete auf eine passende Gelegenheit, alle wissen zu lassen, dass ich ein neuer Mensch war, dass ich nicht mehr die Katha war, die noch vor sechs Wochen in diesem Klassenzimmer die Stühle hochstellte und freiwillig den Müll aufhob.

Ich war laut und sichtbar, und vielleicht war ich sogar lesbisch.

Also, bisher noch nichts von alldem, aber der richtige Moment würde kommen. Und er kam.

»Who reads the assignment you had over the holidays? «, fragte Frau Meinke in der Englischstunde am Nachmittag. »Who presents their results? «

»Was war das noch mal?«, fragte Alex und blätterte durch sein Heft.

»In English please «, sagte Frau Meinke.

»Äh … What was it? «, er grinste dümmlich in der Klasse umher.

»The diary entry «, sagte Kati neben mir.

»Alright, who is ready? Who would like to present his or her results? What about you, Katharina? «

Für Frau Meinke war ich eine sichere Bank. Hier warteten keine dummen Antworten oder Enttäuschungen. Bis jetzt.

Ich war schon im Begriff loszulegen, klappte mein Heft auf, blätterte ganz ans Ende. Es passte genau, noch eine halbe Seite war leer und würde leer bleiben, das frische, leere Heft lag ebenfalls schon auf meinem Pult. Das gefiel mir, alles ordentlich, das alte Schuljahr wäre dann abgehakt, ein neues Heft ohne Inhalt. Auf der vorletzten Seite begann mein Tagebucheintrag. Anderthalb Seiten lang, eine halbe Seite mehr als von Frau Meinke vorgegeben. Sie wird begeistert sein, dachte ich, dann stutzte ich, blätterte langsamer und hielt schließlich inne. Dieser Tagebucheintrag hatte mich ziemlich gestresst, wie mir erst jetzt wieder einfiel. Auf Englisch über einen Tag in den Ferien schreiben, das war die Aufgabe. Frau Meinke schrieb sie vor etwas mehr als sechs Wochen an die Tafel. Über einen Tag schreiben, an dem man etwas gelernt hatte, ganz ohne Schule, fürs Leben quasi. Das war eine typische Frau-Meinke-Aufgabe. Und sie war ziemlich intim, wenn man sie richtig machte, und natürlich hatte mein altes Ich es richtig gemacht. Über wen ich da geschrieben hatte, bei wem ich etwas gelernt hatte, das ist nicht schwer zu erraten. Allerdings hatte ich ziemlich lange dafür gebraucht, meine Worte, meine Vokabeln gut gewählt und vieles nachgeschlagen. Überhaupt einen passenden Moment unter vielen auszuwählen, abzuwägen, welcher geeignet wäre, all das war nicht leicht gewesen.

Ich horchte noch mal kurz in mich hinein und merkte, dass ich meinen Tagebucheintrag nicht vorlesen, mein Erlebnis nicht teilen wollte.

Mein Herz schlug wie wild gegen meinen Brustkorb, die Zeit der Rebellion war gekommen.

»Ich hab keinen Bock«, sagte ich.

Frau Meinke hob den Kopf, ihr Mund stand leicht offen, sie nahm ihre Lesebrille ab, kurz sah es so aus, als müsste sie mich erst scharf stellen, und dann schaute sie mich an, als könnte sie nicht fassen, dass wirklich und tatsächlich ich, die sonst so brave, liebe Katha, die, die doch keine Probleme machen sollte, die, die abgespeichert war unter »gehorsam«, dass ausgerechnet die gerade gesprochen hatte.

»In English please «, sagte Frau Meinke erneut. Es war eine ihrer liebsten Phrasen.

»No, I don’t want to «, sagte ich.

»Please read your diary entry, I’m not asking again

»No! «, mein Tonfall war jetzt schärfer, pubertär-pissig, und ich sprach ziemlich laut. Das passte gar nicht gut zu jemandem, der sonst alles lieb mitmachte.

»Och Mensch, nicht du auch noch, Katha«, stöhnte Frau Meinke entnervt. Sie wünschte sich schon jetzt die Ferien zurück, das sah man.

»In English please «, flüsterte Alex, aber das hörte Frau Meinke nicht.

Der Rest der Klasse gaffte abwechselnd mich, dann wieder Frau Meinke an und konnte die Sensation offenbar gar nicht fassen. Sofie hob die Augenbrauen, Dennis und Alex grinsten unangenehm.

Ich zuckte nur mit den Achseln.


Nicht du auch noch.

Vielleicht endlich ich.


Während ich mich aufrecht hinsetzte, die Schultern nach hinten zog, das Kinn etwas nach vorn reckte, trug Frau Meinke mein Fehlverhalten kopfschüttelnd ins Klassenbuch ein. Es fühlte sich wie eine Ehrung an, die ganze Klasse war still, nur vereinzeltes Wispern war zu hören. Frau Meinkes Kugelschreiber kratzte bedrohlich, aber doch auch vielversprechend über das Papier. Ich spürte Katis Blick warm auf meiner Wange.

In der anschließenden großen Pause verwandelte sich meine Rebellion dann leider recht überstürzt in Scham und Schuldgefühle. Das hatte ich nicht kommen sehen. Während Kati ihr Schokokussbrötchen verschlang und Sofie und Anna sich über Frau Meinke ereiferten, die ihnen beiden sagte, sie müssten dringend an ihrer Pronunciation arbeiten, »das war aber schon mal deutlich besser mit dem th bei euch« – Jessi war hinter der Turnhalle und fummelte durch den Zaun mit dem Kindmann herum –, saß ich bloß da und hörte apathisch meinen eigenen Gedanken zu. Und die waren ganz und gar nicht nett zu mir.

Ganz schön peinlich, so auszurasten.

Was Frau Meinke wohl denkt.

Vielleicht reden sie im Lehrerzimmer über dich.

Ob die Jungs darüber reden.

Sofie wird sicher mit den anderen darüber reden, wenn du nicht dabei bist.

Richtige Blamage.

Interessant. Die Abweichung von der Norm, vom Verhalten, das andere von mir erwarteten, brachte einen Haufen an Scheißgedanken mit sich – das sollte ich mir wohl besser merken.

»Alles okay?«, flüsterte Kati leise, sodass die anderen, die noch immer fiese Bezeichnungen für Frau Meinke erfanden – in der Pause mündlich so viel stärker als im Unterricht –, sie nicht hören konnten.

Ich zuckte mit den Achseln, beobachte scheinbar interessiert ein paar Fünftklässlerinnen, die Gummitwist spielten, gab mir dann einen Ruck und fragte:

»War das irgendwie peinlich vorhin?«

»Was meinst du?«

»Dass ich vorhin so drauf war?«

»Ach so, nein, ach was! Das war krass, aber passte halt nicht zu dir!«

Krass, aber nicht ich. So, so. Dieses Urteil beruhigte mich kurzfristig, und ich biss einigermaßen erleichtert von Katis Brötchen ab, das sie mir vor die Nase hielt.


Als ich Angelica davon erzählte, ließ sie ihr schönstes und lautestes Lachen ertönen. Selbstverständlich war ich kurz beleidigt, und als sie fragte, warum ich so böse schaue, sagte ich:

»Na, weil du mich auslachst.«

Sie sah mich von der Seite an, legte den Kopf schief, wir standen nebeneinander in der Küche, die Damenbande hing draußen vorm Fenster herum.

»Nein«, sagte sie, »das tue ich wirklich nicht. Ich stelle mir nur das Gesicht der armen Frau Meinke vor.«

»Lica!«, ich war empört. »›Die arme Frau Meinke?«

Angelica lachte wieder, laut und schallend.

»Nicht wirklich, Liebes. Die hält das aus, keine Sorge, es ist nur so eine süße Geschichte.«

»Was ist denn daran süß?«

»Irgendwie alles, ich fühle mich geschmeichelt, weil es im Tagebucheintrag um mich ging, und dann der Moment, wie du dich entschieden hast aufzubegehren, ausgerechnet im Englischunterricht. Ich muss mir einfach die Frau Meinke vorstellen, wie sie es nicht fassen konnte.«

»Sie konnte es wirklich gar nicht fassen.«

»Das glaube ich.«

»Ich schäm mich immer noch.«

»Wofür denn?«

»Na, dass ich so ausgerastet bin.«

»Das ist doch kein ›Ausrasten‹, Liebes. Oder hast du dein Pult umgeworfen und Frau Meinke mit Stiften beworfen?«

»Das jetzt nicht …«

»Na also. Es ist nicht leicht, das verstehe ich«, sagte Angelica jetzt wieder ernster. »Gerade wenn man es so lange immer allen recht gemacht hat, dann kommt es nicht nur einem selbst und auch den anderen viel größer vor, als es ist. Bei anderen hätte Frau Meinke sicher nicht so verdutzt reagiert.«

»Stimmt irgendwie.«

»Das heißt ja trotzdem nicht, dass du zur Unruhestifterin werden sollst oder plötzlich zur größten Egoistin, ganz und gar nicht, aber hin und wieder mal nachhorchen, in sich hineinhören, ob es da eigene Wünsche gibt, die gerade komplett weggeschoben werden, ob du schon wieder zu viel Zeugs von allen anderen auf deinen Schultern hast, das ist sicher nicht verkehrt.«

»Ja, hm, okay, aber ich wollte doch eigentlich allen zeigen, dass ich ’n neuer Mensch bin.«

Angelica hob ein klein wenig die Augenbrauen.

»Ach Liebes, erstens kannst du doch nur der Mensch sein, der du nun mal bist, und zweitens bist du in deiner Überlegung schon wieder bei den anderen. Denen musst du gar nichts zeigen. Es geht um dich und darum, dass du nicht um alle anderen herumschleichen musst.«

Schleichen.

Ich hatte geglaubt, ein Chamäleon zu sein, aber vielleicht war ich immer eine Blindschleiche gewesen. Nicht einmal eine Schlange, sondern eine öde Echse, ein Hartwurm, wie man früher mal sagte. Der Chamäleon-Vergleich gefiel mir deutlich besser, deswegen versuchte ich, das mit der Blindschleiche schnell wieder zu vergessen, nahm mir aber auch vor, weniger zu schleichen.

»Weißt du, die Leute wollen es gar nicht immer recht gemacht bekommen, klammer die Frau Meinke mal aus, die war bloß überrascht.«

Ich konnte ihr das nicht so recht glauben.

Angelica sagte noch:

»Versuch’s doch erst mal ganz sachte, mit dem großen Zeh.«

Blindschleichen hatten keine Zehen. Wenn ich Angelicas Rat befolgte, konnte ich gar keine sein, dann mal los.


Hier und da streckte ich also in der nächsten Zeit meinen Zeh aus, was für mal mehr, mal weniger Unmut sorgte. In der Damenbande machte ich jetzt öfter den Mund auf, vorsichtig, bedacht, so war ich nun mal, aber doch nach und nach mit einer gewissen Sicherheit. Ich widersprach Sofie in der Frage, ob sich Anna die Ohrringe in Form von Katzenköpfen kaufen sollte – »Kauf sie, wenn sie dir gefallen«, sagte ich, und Sofie sah mich aus den Augenwinkeln an, die Lippen zusammengepresst –, ich ging mit Kati in die Medien-AG, während die anderen wie letztes Jahr die Tanz-AG wählten, und ich weigerte mich, als meine Mutter verlangte, dass ich auf Pia, die 4-jährige Tochter ihrer Freundin Ulrike, aufpassen sollte. Pia war ein schreckliches Kind. Ja, es war so. Nun werden alle Pädagogen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, etwas von Bild vom Kind, von erzieherischen Ansätzen, von Ursachenforschung und kindlichem Ausprobieren erzählen. Und das mag alles seine Berechtigung haben, aber Pia war der Teufel. Kein süßes Biest wie meine Schwester, sondern der wahrhaftige Luzifer. Beim letzten Besuch schnitt sie Nadines Lieblingsplüschtier mit der Bastelschere ein Ohr ab. Auf so was konnte ich gut verzichten.


Meine Versuche mögen nach wenig klingen, aber für mich waren die kleinen Schritte anstrengend, fast so, als hingen mir zusätzliche Gewichte an den Knöcheln. Das Aufbegehren kostete Kraft. Die Enttäuschung und die Wut über mein neues Verhalten in den Augen der anderen zu sehen ließ mich immer wieder zweifeln. Was Angelica über die anderen sagte, dass sie es nicht recht gemacht bekommen wollten, das stellte ich mehr als einmal infrage. Vielleicht musste sich die Überraschung aber auch erst legen, vielleicht brauchten sie alle eine Eingewöhnungsphase.

Die schwerste Aufgabe war Nadine. Ich weiß nicht, ob ich jemals zuvor zu meiner kleinen Schwester Nein sagte. Gut war, dass ich sehr selten überhaupt Nein zu ihr sagen wollte , denn sie war die unterhaltsamste Gesellschaft, die man sich nur vorstellen konnte. Zwischen Nadine und mir gab es selten Reibung oder Uneinigkeit, wir waren schlichtweg begeistert von der jeweils anderen.

Dennoch, ich ahnte über Wochen, dass es irgendwann einen Moment geben würde. Es gab sie selten, wie gesagt, und ich wusste nicht, wann es so weit sein würde, aber dass er kommen würde, das spürte ich.

Es war Spätsommer und die Zeit, in der Nadine einen Monat lang jeden Tag vom zwölfbeinigen Katzenbus sprach. Wir sahen kurz zuvor Unser Nachbar Totoro im Fernsehen. Als die Buskatze über den Bildschirm rollte, ihren ersten Auftritt hatte, schrie Nadine vor Vergnügen auf. Die riesige Katze, mit je sechs Beinen zu beiden Seiten und einem komfortablen, mit Sitzen ausgestatteten Innenbereich, tat es Nadine an. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Wenn meine Mutter in dieser Zeit mit ihr schimpfte, weil sie morgens trödelte, sagte meine Schwester:

»Wenn ich die scheiß Bahn verpasse, dann kommt eh die Buskatze und holt mich ab.«

Und als meine Mutter bei der ungefähr fünften Wiederholung dieser Situation die Nerven verlor und brüllte: »Beeil dich verdammt noch mal und hör mit dieser blöden Buskatze auf, das ist ’n Film, es gibt diese Katze nicht«, da blieb Nadine völlig gelassen und sagte nur:

»Du könntest sie ja eh nicht sehen.«

Es war die Zeit, in der unser Badezimmer nur noch nach Japan flog, sodass ich schon Sorge bekam, es hätte einen Kurzschluss, aber es war wohl kein Wunder, wenn ich Nadine das Steuer überließ. Ich flog gerne mit nach Japan, denn das Badezimmer ließ die Kirschblüten ganzjährig blühen. Das war es aber nicht, was ein sachtes Eingreifen meines Zehs erfordern sollte, es hatte jedoch im weiteren Sinne damit zu tun.

Nadine trug einen Haarreif mit zwei ausgeschnittenen Stücken Tonpapier in Form von Dreiecken. Sie war die Buskatze. Es war später Nachmittag. Den Haarreif hatte ich ihr gebastelt, sie hatte sich dazu beige angezogen. Da sie glücklicherweise wenig Beiges besaß, trug sie die Strickjacke meiner Mutter, die ihr bis zu den Knien reichte. Diese gottlose Strickjacke, bei deren Anblick hätte ich das drohende Unheil schon erahnen müssen.

Während ich kochte – und damit meine ich, dass ich Tiefkühlpommes in den Ofen schob –, lud Nadine sich alle möglichen Kuscheltiere, Spielzeug und im Prinzip alles, was sie zu fassen bekam, auf den Rücken, um als Buskatze für einen reibungslosen öffentlichen Nahverkehr zwischen Kinderzimmer und Küche zu sorgen. Als sie zum zehnten Mal um die Ecke krabbelte und rief: »Katha, guck mal, guck mal«, trug sie neben einem kleinen Plüsch-Pinguin auch eine Obstschale aus dem Wohnzimmerschrank auf dem Rücken, von der ich wusste, dass sie besser nicht kaputtgehen sollte.

Also sagte ich:

»Liebe Buskatze, in dieser Wohnung ist der Transport zerbrechlicher Gegenstände verboten. Bitte vorsichtig zurückstellen.«

Nadine, die Buskatze, zog eine Schnute und murrte:

»Aber ich pass doch auf.«

Trotzdem nahm sie die Schale vom Rücken und dampfte ab.

Noch einige Male kam die Buskatze vorbeigerollt, während ich den Bräunungsgrad der Pommes im Auge behielt.

Dann, als ich gerade Ketchup und Mayo aus dem Kühlschrank nahm, schepperte es im Flur.

Ich riss die Tür auf, und da hockte Nadine auf den Knien, hatte sich die Hände vor den Mund geschlagen und schaute entsetzt auf die Scherben um sich herum.

In der ersten Sekunde wusste ich, was da zu Bruch gegangen war, denn der Kopf war fast unversehrt. Es war eine Porzellanfigur, die meine Mutter mir vor Jahren in Bad Driburg auf dem Flohmarkt kaufte. Ein Mädchen mit weitem Rock, das eine Geige hielt. Aus irgendeinem Grund wollte ich die Figur damals unbedingt haben. Sie stand auf dem Verkaufstisch eines älteren Ehepaars zwischen viel anderem Kitsch, sie war selbst kitschig, aber trotzdem stach sie heraus, und ich zeigte mit meinen kleinen Kinderfingern auf sie und sagte: »Die! Mama!«

Sie stand all die Jahre auf meiner Fensterbank, dann zog sie eingewickelt in Zeitungspapier in unser Dortmunder Zimmer um, und nun lag sie in Teilen neben Nadines Fuß auf dem PVC, das ihre Kitschigkeit unterstrich. Die aufgemalten Augen glotzten starr und tot Richtung Decke.

Das war nun also der Moment, um meine Wut, meine Traurigkeit mit meiner Schwester zu teilen. Ausgerechnet die Geigenspielerin, eine Porzellanfigur, sich gerade die auf den Rücken zu setzen und damit durch die Wohnung zu kriechen, das hätte doch wahrhaftig nicht sein müssen. Ich konnte das nicht runterschlucken, es ärgerte mich wirklich, und Nadine musste lernen, dass es so nicht ging, und ich musste lernen, zu sagen, wenn ich wütend war. Ganz tief aus dem Bauch heraus holte ich Luft und sah Nadine ins Gesicht.

Die Augen meiner Schwester waren riesig und schwammen in Tränen. Das schlechte Gewissen fiel ihr förmlich aus dem Gesicht.

Ach, verdammt.

»Es tut mir leid«, brüllte Nadine, und schon heulte sie, laut und wehklagend und echt.

Das war eben der Unterschied. Im Grunde ihres Herzens war meine Schwester ein herzallerliebstes Biest. Nicht wie Luzifer-Pia, in deren Augen es damals flackerte, als Nadine das abgeschnittene Ohr ihres Lieblingskuscheltiers aufhob. Vielleicht war das aber auch nur Einbildung, ich bin nicht objektiv in dieser Angelegenheit.

Jedenfalls brachte es doch nun eh nichts mehr, die Figur war kaputt, nicht mehr zu ändern. Also, was sollte der Aufwand?

Bei meiner Schwester würde ich das mit dem Zeh wannanders versuchen. Man musste es schließlich nicht gleich übertreiben.


»Weiß jemand, was mit Jessica ist?« Frau Meinke blätterte stirnrunzelnd im Klassenbuch und überprüfte, ob sie eine Notiz über Jessis Fehlen übersehen hatte. Dann schob sie ihre Lesebrille, die an einer langen Kordel um ihren Hals hing, auf die Nasenspitze, zog das Kinn nach hinten, sodass sich darunter mehrere kleine Kinn-Ableger bildeten, und schaute über die Ränder ihrer Brille hinweg durchs Klassenzimmer.

»Sofie? Weißt du was? Nein? Hm. Anna?«, fragte sie, während Anna und Sofie die Köpfe schüttelten. Dann prüfender Blick in Katis und meine Richtung, was wir schon erwartet hatten und woraufhin wir ebenfalls die Köpfe schüttelten. Niemand wusste etwas.

In der Pause versammelten wir uns um das Münztelefon und riefen bei Jessi zu Hause an. Es ging der Anrufbeantworter ran, vierzig Cent und zwei weitere Versuche später gaben wir auf.

»Wenn sie krank ist, schläft sie wahrscheinlich«, mutmaßte Kati.

Mit dieser plausibel klingenden Erklärung gaben wir uns vorerst zufrieden.

Als wir mittags aus dem Schultor traten, stießen wir auf Thorsten. Er lehnte an seinem gammeligen Mofa und rauchte. Als er uns sah, richtete er sich hastig auf, warf die Kippe auf den Boden und eilte mit großen Schritten auf uns zu. Im Laufen reckte er den Hals und spähte in die herausströmende Schülermenge hinter uns. Der Kindmann hatte immer etwas Unruhiges an sich. Er fuhr sich oft durchs Haar oder zuppelte an seiner Kleidung herum, aber heute hatte er noch eine Schippe zugelegt.

»Äh, hat eine von euch zufällig Jessi gesehen? Ist die … ist die gar nicht da?«, war das Erste, das er fragte, seine Stimme überschlug sich.

Während er mit uns sprach, wischte er permanent mit den Handflächen über seine Jeans und verlagerte sein Gewicht alle paar Sekunden von einem Bein aufs andere. Seine Augen schwirrten in alle Richtungen wie zwei Suchscheinwerfer.

»Die war heut nicht in der Schule, ist wahrscheinlich krank«, meinte Anna. »Hast du auch nix von ihr gehört?«

»Nee, nee … ich …«, begann Thorsten, doch Sofie unterbrach ihn.

»Warum sollte er was von ihr gehört haben?«, fragte sie in Richtung Anna, dann zu Thorsten: »Oder muss sie erst jeden Montagmorgen bei dir einchecken?«

Der gleiche Gedanke war auch mir durch den Kopf geschossen, doch ich hätte mich sicher nicht getraut, Thorsten darauf anzusprechen. Wieder so ein Moment, in dem ich Sofie still und heimlich bewunderte für ihre Kühnheit.

»Ich … nee, muss sie natürlich nicht«, stammelte Thorsten, eifrig wischten Handflächen über Jeansstoff. »Wollte sie nur abholen, und jetzt ist sie nicht da, und dann mach ich mir natürlich Sorgen.«

Sofies Augen waren schmal, sie glaubte ihm nicht.

»Machst dir ja ganz schön schnell Sorgen dafür, dass du sie ’n paar Sekunden nach Schulschluss nicht direkt gesehen hast«, sagte sie und bohrte ihre hellgrünen Augen in seine. Er hielt ihrem Blick keine Sekunde stand, wandte sich ab und glotzte dumm in Richtung Schulgebäude, als würde Jessi jetzt doch plötzlich noch irgendwo auftauchen.

»Habt ihr nicht eh wieder das ganze Wochenende rumgehangen?«, setzte Sofie nach.

»Was? Doch, klar. Ja, jetzt wo ihr’s sagt, ging ihr gestern schon nicht so gut, dann ist sie wahrscheinlich echt krank, äh ja, wahrscheinlich erkältet oder so, na ja, egal, bis dann.« Thorsten drehte sich um, stapfte breitbeinig auf sein Mofa zu und brauste davon.

Während Anna und Kati der Szene keine weitere Aufmerksamkeit schenkten, warf Sofie mir einen Blick zu. Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte ratlos den Kopf, um ihr zu bedeuten, dass ich Thorstens Verhalten ebenfalls seltsam fand.

Am nächsten Tag befragten wir Frau Meinke zu Jessis Verbleib.

»Es liegt eine Krankmeldung vor, hat also alles seine Richtigkeit«, antwortete sie uns knapp, während sie das Klassenbuch in ihre Tasche schob.

»Was hat sie denn?«, fragte Sofie in ihrem wie üblich fordernden Tonfall.

»Darüber kann ich keine Auskunft erteilen«, Frau Meinke schob sich an Sofie vorbei Richtung Klassenzimmertür. »Sie ist entschuldigt, das genügt mir.«

Wieder Blicke zwischen Sofie und mir und ratloses Schulterzucken.


Jessi erschien die ganze Woche nicht in der Schule. Am Freitag schlug Sofie vor, dass man noch zu ihr gehen könne. Wir waren tagelang nicht dort gewesen. In einem Nebensatz hatte Sofie erwähnt, dass Angelica diese Woche beschäftigt gewesen wäre, arbeiten musste, und außerdem hatte das Wetter auch nicht wirklich zum Abhängen eingeladen. Als Kati, Anna und ich um die Ecke traten – Sofie ging wie üblich den Weg durch die Wohnung –, erwartete Jessi uns. Sie lag in der Hängematte und winkte matt, als wir über die Wiese auf sie zugingen. Aufgrund der Temperaturen, die den bald beginnenden Herbst ankündigten, hatte sie sich in eine Wolldecke gewickelt. Sie sah blass und irgendwie älter aus. Etwas war anders in ihrem Gesicht, ich weiß nicht, ob es den anderen auffiel, aber mir stach die Veränderung fast schmerzhaft in die Augen. Es lag der Schleier einer Erfahrung darauf, die nur sie allein gemacht hatte und die sie nun unweigerlich von uns trennte.

»Wo bist du gewesen?«, fragte Sofie hart und ohne vorherige Begrüßung, als sie Jessi entdeckte.

»Krank … erkältet«, brummte Jessi, sie schaute dabei in den Himmel, nicht zu Sofie, die drinnen am offenen Fenster stand und mit zusammengekniffenen Augen zur Hängematte herüberstarrte.

»Klingst aber ganz normal.«

»Hm, wie soll ich sonst klingen?«

»Na, krank.«

»Aber ich bin doch wieder gesund.«

Es war offensichtlich, dass Sofie ihr nicht glaubte. Sie warf ihrer Mutter, die hinter ihr in der Küche stand, einen vorwurfsvollen Blick zu, als glaubte sie, dass sie von etwas ausgeschlossen würde, dessen Teilnahme ihr eigentlich zustände. Angelica tat, als bemerkte sie nichts davon.

Doch auch ich hatte das Gefühl, dass Angelica wusste, was wirklich mit Jessi los war. Der Hauch einer Verschwörung umgab die beiden und offenbarte sich in ihren gleichermaßen zusammengepressten, zum Schweigen entschlossenen Lippen, den etwas zu häufig aufeinandertreffenden Lidern und der abwehrenden Körperhaltung. Ich war sofort eifersüchtig.

War Jessi die ganze Woche über hier gewesen? Hatte sie die Tage mit Angelica verbracht? So wie ich noch vor einiger Zeit während der Ferien. Aber davon hätte Sofie doch etwas mitbekommen müssen. Andererseits waren wir immer bis nachmittags in der Schule gewesen, und wie oft sie danach wirklich nach Hause ging oder sich woanders herumtrieb, vielleicht mit den Jungs, ohne was zu sagen, davon wusste ich nichts. Sie könnte auch bei Ewa gewesen sein, im zweiten Zuhause, während Angelica und Jessi … Ja, was? Oder sah ich Gespenster?

Später am Nachmittag gab sich die Sonne noch mal Mühe. Der Himmel, der die ganze Woche über verschleiert und mal mehr, mal weniger grau gewesen war, wies große blaue Flecken auf, die der Sonne Raum zur Entfaltung boten.

Kati und Anna erzählten Jessi, was so in der Schule los gewesen war. Zwischen Nesrin und Marvin, dem Traumpaar des Jahrgangs – alles vorbei. Das Gerücht, dass Marvin im Sommerurlaub auf Menorca was mit einer anderen gehabt hatte, machte die Runde. Außerdem stieß sich Saskia Peters am Mittwoch im Sportunterricht so heftig die Muschi, dass ihre Mutter sie abholen musste, und Alexander Kehlbach kotzte auf den Schulhof, weil er aufgrund einer verlorenen Wette eine Kippe fraß. Ganz normale Woche in Dortmund-Hombruch, was soll ich sagen. Ich hatte die Arbeitsblätter aus dem Unterricht für Jessi gesammelt und in einem Schnellhefter abgeheftet, doch als ich begann, meine Erklärungen zu Zellwänden und zur Verwendung der Reported Speech runterzurattern, winkte sie nur müde ab.

»Das schau ich mir am Wochenende in Ruhe an«, brummte sie und ließ den Schnellhefter ins Gras fallen. »Erzählt mir lieber noch mal ausführlicher, wie Saskia in Sport gegen den Bock geprallt ist, das hätte ich zu gerne gesehen.« Sie war doch noch die Alte.

Doch bevor Anna die Geschichte von Saskia Peters noch einmal in allen Einzelheiten darlegen konnte, hörten wir Motorengeräusche von der Straße her. Die blauen Flecken am Himmel zogen sich augenblicklich zusammen und schrumpften wie altes Obst. Zumindest kam es mir so vor.

Die Motorengeräusche gehörten zu Thorstens Mofa. Sein breitbeiniger Gang war wie immer so überladen von einstudierter Männlichkeit, dass es lächerlich wirkte. Er sprang über den Zaun und kam auf uns zu. Jessi zog sich die Wolldecke bis ans Kinn und sah ihn nicht an.

Thorsten, der eigentlich genau auf sie zusteuerte, bremste ab und ging stattdessen auf die gegenüberliegende Seite der Wiese, wo er sich an die kühle Mauer der Nachbarsgarage lehnte. Er drückte einen Fuß an die Wand, gab sich betont lässig und versuchte so zu wirken, als wäre genau dieser Fleck von Anfang an sein Ziel gewesen. Es klappte natürlich nicht. Abgesehen von Jessi sahen alle stirnrunzelnd zu ihm hinüber.

»Und … was geht?«, brummte er und ließ dabei sein Kinn kurz in die Höhe zucken.

Stille.

Schließlich meinte Kati, die das unbehagliche Schweigen nicht gut ertragen konnte:

»Nicht viel, bei dir?«

»Ja, auch nicht viel, aber ist doch ’n geiler Tag, da dachte ich, schau ich mal bei meinen Lieblingsladys vorbei und guck, was so abgeht«, während er das sagte, genau da, als er von diesem angeblich geilen Tag palaverte, zog plötzlich ein unangenehmer Windstoß über uns hinweg. Die Wolken am Himmel waren in Bewegung, das Gras im Vorgarten schmiegte sich unter der Kraft des Stoßes gehorsam an den Boden.

Und gemeinsam mit diesem Windstoß entschied Angelica, dass es genug war.

»Was hängste eigentlich immer mit den Mädels hier rum? Gibt’s keine Leute in deinem Alter?«, fragte sie aus dem Nichts, scharf, laut und doch ohne jede Aufregung in der Stimme. Sie erhob sich langsam von dem weißen Plastikstuhl, auf dem sie bisher unbeweglich und stumm gesessen hatte.

Thorsten wandte sich ihr zu, ihre Frage schien ihn sichtlich zu irritieren. Wie ein zu klein gezüchtetes Hündchen, ging er augenblicklich in den Verteidigungsmodus über.

»Kann doch machen, was ich will … die Jessi und ich sind quasi zusammen. Und äh … was geht Sie das überhaupt an?«, murmelte er fahrig, seine Stimme überschlug sich.

Er wischte sich die Hände an den Seiten seiner Jeans ab. Ekelhaft, dass Jessi mit dem rummacht, dachte ich.

Angelica hob die Augenbrauen und blickte zu Jessi, doch die betrachtete scheinbar unbeteiligt den halb abgesplitterten Glitzerlack auf ihren Nägeln.

Nichts an Angelica ließ unmittelbare Gefahr erahnen. Sie erhob nicht die Stimme, ihre Mimik war glatt und vermeintlich entspannt, und doch war da ein Surren in der Luft. Niemand von uns bewegte sich. Sofies Mund stand halb offen, während sie ihre Mutter vom Fenster aus beobachtete.

»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Angelica und schlenderte auf den Kindmann zu, Raubkatze auf Antilope, den einen Arm unter den anderen geklemmt, der mit der Hand, der die glimmende Zigarette hielt, baumelte wie der schwankende Zeiger einer Waage vor ihrem Gesicht.

»24.«

»Und weißte auch, wie alt die Mädels sind?«

»So 15, 16 … so was?«

»Sechzehn is hier noch keine, aber ja, so was in die Richtung. Und sag mal, kommt dir das nicht komisch vor?«

»Äh, was?«

»Dass ’n erwachsener Mann mit Jugendlichen rumhängt und die begrapschen will!«

»Also … ey, so erwachsen bin ich jetzt auch nicht«, er lachte albern wie der Esel, der er war. »Und, die Jessi ist ja zum Beispiel auch schon voll reif und so!«

»Ach, ist das so?«, fragte Angelica in einem Tonfall, der nach keiner Antwort verlangte, sie stand jetzt sehr nah vor Thorsten.

Dann, bevor dieser auch nur den Mund zu einer Erwiderung öffnen konnte, drückte Angelica ihre Kippe in einer einzigen schnellen fließenden Bewegung an der Wand aus, nur wenige Zentimeter neben seinem Ohr, und zischte:

»Such dir eine in deinem Alter, Torte, und wenn du keine findest, haste ja immer noch zwei funktionierende Hände! Sollte ich dich noch einmal in der Nähe der Mädels erwischen, drück ich die Fluppe nächstes Mal da aus, wo’s wehtut. Haben wir uns verstanden?«

Thorsten sprang hastig aus Angelicas Dunstkreis, schnaubte eselig, ballte die Fäuste, ließ wieder locker, sah zu Jessi – aber ihr Nagellack erforderte noch immer ihre gesamte Aufmerksamkeit –, und die Überforderung floss in kleinen Rinnsalen über seine Schläfen.

Schließlich wandte er sich um, latschte davon, hatte wohl dieses Mal vergessen, seine Idee eines männlichen Ganges umzusetzen, jetzt war es eher ein Stolpern, wütende Blicke über die Schulter in Richtung Angelica, Kopfschütteln, Schnauben, gemurmeltes »Könnt mich alle mal«, und dann war er endlich weg.

Jessi konnte noch immer nicht genug von dem Anblick ihrer Nägel bekommen. Ihre Gesichtszüge hatten sich jedoch entspannt.

Da war es also, das vorläufige Ende des Kindmanns.

Was Angelica zu diesem drastischen Schritt bewog, blieb mir für lange Zeit ein Rätsel. Keine Frage, wir waren alle froh, dass der Kindmann nicht mehr um uns herumschlich, dass man nicht mehr aus den Augenwinkeln wahrnahm, wie sein Blick an unseren Körpern hoch und runter fuhr, und dass das stetige Gefühl der Bedrohung verpufft war, und dennoch wunderte ich mich über die Entschiedenheit, mit der Angelica damals einschritt.

Heute setzen sich die Ereignisse des Septembers vor mir so leicht zusammen wie das Lösungswort eines Call-in-Gewinnspiels auf 9Live: ABTREI_UNG. Rufen Sie jetzt an. Die Geheimniskrämerei zwischen Angelica und Jessi; Jessi in der Hängematte, blass, k.o., eine Hand auf ihrem Bauch, den Blick nach oben in die Wolken gerichtet, zwei Wochen vom Sportunterricht befreit, und demgegenüber Thorsten, dem Schuld und Panik im Gesicht standen, als er am Schultor auftauchte. Im Nachhinein erschien die Sachlage dann doch recht eindeutig.

Eine 15-Jährige zu schwängern war von den vielen schlechten Dingen, die Thorsten in seinem Leben getan hatte oder noch tun würde, was das Ausmaß der Folgen anging, wohl recht weit oben auf der Skala der Boshaftigkeit. Er jedoch kam verhältnismäßig glimpflich aus der Sache heraus – dank Frauen, die sich kümmerten.


Im Herbst passierte zunächst einmal recht wenig. Wenig stimmte nicht ganz, aber das, was passierte, kam einem im Vergleich zu den Wundern des Sommers ziemlich öde vor. Die Lehrkräfte, allen voran Frau Meinke, betonten immer wieder, wie wichtig und entscheidend dieses Schuljahr für unsere Zukunft sein würde. Wir wählten Fächer aus und andere ab, unbelegte Informationen darüber, welche Fächer für welche späteren Berufe wichtig waren, machten die Runde. Eine Frau vom Arbeitsamt verteilte eine dicke Broschüre mit Berufen. Wochenlang war es das Thema in unserem Jahrgang, einige machten sich wichtig, indem sie erzählten, sie wüssten schon längst, welche Ausbildung sie machen würden und dass Freunde ihrer Eltern bereits vor Jahren einen Ausbildungsplatz zugesichert hätten, andere erzählten von Studiengängen, zuckten lässig mit den Schultern, noch ewig Zeit, aber alles schon geplant. Es machte mich wahnsinnig, ich war ja noch nicht einmal scheiß fünfzehn.

Herr Winkelmann trieb es mit der Panikmache eines Nachmittags auf die Spitze. Er stand vor der Klasse, das grün-weiße Karohemd falsch geknöpft, die müden Augen blutunterlaufen, und sagte, dass sich in diesem Schuljahr die Spreu vom Weizen trenne. Was für eine scheiß Aussage. Doch er beließ es nicht dabei. Stattdessen nannte er noch einige Namen, darunter Jessis, bei denen er sich »doch sehr wundern« würde, wenn sie dieses Schuljahr mithielten und die Versetzung schafften.

In der Fünf-Minuten-Pause zwischen zwei Doppelstunden legte Sofie unter den Anfeuerungsrufen der gesamten Klasse eine Heftzwecke auf seinen Stuhl. Als er kurz darauf mit einer Tasse frischen Filterkaffees hineinschlurfte und sich am Lehrerpult niederließ, hielten wir alle den Atem an. Er bemerkte die Heftzwecke nicht einmal und setzte den Unterricht fort, als wäre nichts gewesen, als hätte er nichts gespürt, als würde er auch generell nichts mehr spüren. Erschreckend.

Mit offenen Mündern und zusammengezogenen Brauen blickten alle in der Klasse umher und begannen, mit ihren Sitznachbarn zu tuscheln.

Herr Winkelmann, der das auf seinen Unterrichtsinhalt bezog, murmelte irgendwas von »Jaja, keine Sozialversicherung, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen«, woraufhin eine erneute Tuschelrunde begann und vereinzelt verwirrtes Gekicher ertönte.


»Warum wird man Lehrer, wenn man ’n Arschloch ist?«, fragte Anna nachmittags auf dem Weg zu den gelben Vorhängen.

Jessi hatte die komplette große Pause auf der Mädchentoilette geheult und damit gedroht – uns oder sich selbst, das war nicht ganz klar –, die Schule sofort abzubrechen. Sie sei doch sowieso zu dumm für alles. Ihr Stiefvater hätte eh gesagt, sie könne nicht studieren. Dafür sei kein Geld da, und das würde sie auf keinen Fall packen. Ob sie überhaupt einen Ausbildungsplatz kriegen würde, sei fraglich.

»Der hat letztens schon gesagt, ich kann die Schule auch schmeißen und mal direkt arbeiten gehen, er hätte keinen Bock mehr, mich durchzufüttern und so«, schluchzte sie in Annas pinken Bolero. Die stand in der schmutzigen Toilettenkabine neben ihr und sah besorgt auf die Mascara-Flecken, die Jessi auf ihr hinterließ. Jessi wiederum hockte auf dem geschlossenen Klo. Kati, Sofie und ich umrahmten die geöffnete Kabinentür.

»Der soll mal sein Maul halten«, sagte Sofie hart. »Nur, weil er deine Mutter bumst, hat er ’n Scheiß über dein Leben zu bestimmen.«

Auch wenn ich so meine Probleme mit Sofie hatte, für solche Sätze bewunderte ich sie.

»Und dann auch noch der Winkelmann! Was will der alte Penner eigentlich von mir?«, heulte Jessi unbeirrt weiter. »Warum behandeln mich eigentlich diese ganzen bekackten Männer alle wie Dreck? Alle!«


»Lehrer sind doch immer Arschlöcher«, sagte Sofie jetzt, Stunden später, als wir, wie an so vielen Nachmittagen, die üblichen rostroten Klinker passierten.

»Frau Meinke ist kein Arschloch!«, widersprach Kati.

»Die ist ja auch ’ne Frau!«

»Auch Frauen können Arschlöcher sein.«

»Wer denn?«

»Meine Mutter zum Beispiel«, sagte ich und war überrascht von mir selbst.

»Meine auch«, sagte Sofie.

Ich blieb abrupt stehen.

»Was?«

Sofie drehte sich im Laufen um, blieb aber nicht stehen.

»Oh Gott, Katha, heul nicht gleich los.«

Wut flammte in mir hoch.

»Was meinst du damit?«

»Ich weiß, dass meine Mutter für dich ’ne verdammte Heilige ist«, sagte Sofie in gehässigem Ton. »Aber sie ist auch nicht perfekt.«

»Das heißt ja nicht, dass sie gleich ’n Arschloch ist!«

»Es war so klar, dass du durchdrehen würdest.«

Mir war vollkommen bewusst, dass Sofie mich reizen wollte, aber ich konnte nicht anders, als darauf anzuspringen.

»Was passt dir denn an ihr nicht?«

»Ach, da müsste ich erst mal ’ne ganze Liste schreiben.« Sofie legte jetzt noch eine Spur Überheblichkeit in ihre Stimme, die mich zur Weißglut trieb.

In diesem Moment hätte ich ihr am liebsten eine gescheuert.

Katis Hand umfasste meinen Unterarm.

»Jetzt sag halt!«

Sofie sagte nichts.

Wir liefen bereits über den Rasen vor Angelicas Wohnung. Sofie hatte durch unsere Diskussion offenbar vergessen, dass sie sonst immer die Haustür benutzte.

»Warum hängen wir denn immer hier rum, wenn deine Mutter angeblich so scheiße ist?«, setzte ich nach, um sie aus der Reserve zu locken.

Mit einem blöden Grinsen drehte sie sich im Laufen erneut zu mir um und sagte:

»Wo sollen wir denn bitte sonst abhängen?«

Ich öffnete gerade den Mund zu einer hitzigen Erwiderung, da sahen wir sie.

Ewa und Angelica saßen auf der Bank. Das war schon irgendwie ungewöhnlich. Eng beieinander, Ewa rauchte, obwohl sie das sonst nie tat. Und noch irgendwas stimmte nicht. Die Atmosphäre war anders als sonst, angespannt, belastet.

Angelica sah uns mit merkwürdigem Ausdruck im Gesicht entgegen. Erst als wir näher kamen, bemerkte ich, dass Ewa ein Blatt Papier in den Händen hielt. Sie sah aus, als hätte sie geweint. Angelicas Augen waren nicht gerötet, aber sie wirkte müde. Wie Frau Meinke am Ende eines langen Tages, wenn Alex nachfragte, was die Aufgabe war, obwohl sie es schon zweimal erklärt hatte, auf solche Weise müde.

»Was ist passiert?«, fragte Sofie, mit der gleichen Härte wie damals, als Jessi in der Schule fehlte und wir sie in der Hängematte vorfanden.

Angelica und Ewa sahen sich an, dann sagte Angelica:

»Wir haben Post bekommen.«

»Was für Post?«

Wieder sahen sich die beiden Frauen an.

Dann streckte Ewa Sofie das Blatt entgegen. Sofie machte einen Schritt nach vorn und las mit dem Rücken zu uns.

Für einen Moment war es sehr still.

Dann sagte sie über die Schulter:

»Haut ab.«


Vier Tage nach dem Vorfall wurde ich fünfzehn. Es erschien mir in Anbetracht der Lage nicht angemessen, irgendwen damit zu belästigen.

Meine Mutter schenkte mir ein Parfüm, dem Personalrabatt sei Dank, mein Vater rief an und versprach irgendwelche Dinge, die in einer ungewissen Zukunft lagen.

Von Nadine bekam ich eine Tüte Brause-Ufos und ein Klebetattoo mit Schmetterlingsmotiv. Außerdem hatte sie gemeinsam mit Zlatko II ein Theaterstück einstudiert. Sie spielte eine Prinzessin, die gemeinsam mit ihrem treuen Begleiter, einem magischen Hamster, auf Weltreise ging. Die Idee war noch nicht ganz ausgereift, und zum Ende hin franste die Aufführung etwas aus. Ich war dennoch begeistert und applaudierte.

Weder den Rybkas noch Kati, Anna oder Jessi gegenüber erwähnte ich meinen Geburtstag. Nicht weiter wichtig, es würden schließlich noch weitere kommen.


Sofie tat in den Tagen nach unserer Begegnung mit Ewa und Angelica so, als wäre nichts passiert. Wir wagten es nicht, das Thema anzusprechen. Sie lud uns über eine Woche lang nicht zu sich nach Hause ein. Es fühlte sich seltsam an, nicht dort zu sein. Wie eine unsichtbare Kraft zerrte es an mir, das Gefühl, zum Fenster laufen zu müssen, anzuklopfen, zu erfahren, ob alles in Ordnung war. In den Zehen kribbelte es, aber sich so in aller Deutlichkeit gegen Sofies unausgesprochenen Befehl, gegen das Schweigen zu stemmen, das brachte ich nicht über mich. Doch am Donnerstag, kurz nach meinem Geburtstag, bot sich mir eine Gelegenheit. Sofie musste nachsitzen. Sie hatte den Winkelmann einen alten Esel genannt. Das bekam er mit, ansonsten nie irgendwas.

Mir kam es gelegen. Ich verabschiedete mich in Windeseile am Schultor von den anderen und erzählte irgendwas von einem Arzttermin. Dann raste ich quer durch Hombruch und steuerte die sonnengelben Vorhänge an. Ich hämmerte gegen die Scheibe.

Das Fenster öffnete sich. »Oh, heute ganz allein?«

Es war nicht Angelica, sondern Ewa.

»Oh, hi. Äh ja, Sofie muss nachsitzen und die anderen … keine Ahnung«, stammelte ich, irgendwie war ich aus dem Konzept, weil ich Angelica erwartet hatte. »Ist Lica nicht da?«

»Sie bringt einen Nähauftrag weg, müsste aber gleich wieder da sein. So lange musst du wohl mit mir vorliebnehmen.« Ewa zwinkerte mir zu.

»Ach so, nein, äh, das ist doch okay«, sagte ich. »Sorry, ich dachte, dass Lica da wäre, ich war bloß überrascht.«

Ich hockte mich neben die geöffneten Scheiben auf die Fensterbank.

»Alles gut, entschuldige dich nicht. Es ist wohl in Ordnung, an Angelicas Fenster mit Angelica zu rechnen.«

»Ja, ähm, wie geht’s denn so? Ist alles okay bei euch?«

Ewa strich sich nachdenklich eine lose Strähne aus dem Gesicht und schob sie zum Rest ihres blonden Haares hinters Ohr.

»Och, mittlerweile wieder ganz gut. Es war nicht die schönste Woche, das muss ich sagen.«

»Was … darf ich fragen, was überhaupt passiert ist?«

»Hat Sofie euch nichts erzählt?« Ewa wirkte verwundert.

»Nee.«

Jetzt fühlte ich mich doch komisch. Wie eine neugierige Reporterin, die nach Sensationen und Geschichten verlangte. Ewa stützte sich auf die Fensterbank, anders als Angelica, langsam und bedacht, doch genau wie Angelica sah sie einen Moment in die Ferne, bevor sie zu sprechen begann:

»Angelica hat einen unschönen Brief von ihren Nachbarn erhalten.«

»Okay?«, sagte ich.

Ewas Finger spielten an dem dünnen goldenen Armband, das an ihrem Handgelenk baumelte.

»Na ja, es ging im Prinzip darum, dass sie oder wir alle hier nicht erwünscht sind. Ich würde dir den Schrieb zeigen, aber der ist schon irgendwo in der Papiertonne. Wir vermuten, dass Frau Klube die Initiatorin ist, jedenfalls hat sie unterschrieben, aber einige andere Nachbarn auch.«

»Und was passt denen nicht?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon ahnte.

»Alles irgendwie. Ich erinnere nicht mehr jede Formulierung, aber angeblich sei es ständig zu laut, zu laute Stimmen draußen vorm Fenster, zu laute Musik, und dann gab es noch schwammige Aussagen darüber, dass hier seltsame Dinge vor sich gehen würden, irgendwas stand drin von Krawall im Vorgarten, und seltsame Unterstellungen, die mit Angelicas Äußerem und mit meinem Äußeren und mit unserer Beziehung zu tun hatten … Alles sehr frech formuliert. Ich hab mich wahnsinnig aufgeregt und war schockiert, aber Angelica hat nur mit den Schultern gezuckt und so was gesagt wie ›Kennst doch die Spießer …‹«

»Scheiße«, sagte ich.

Mir fiel ein, wie Sofie gesagt hatte: »Eines Tages werden wir hier noch rausgeschmissen.«

Bevor ich noch mehr sagen konnte, rief Ewa:

»Ach, guck mal, wer da kommt.«

Angelica lief über den Rasen.

Sie winkte uns zu, alles an ihr war bunt und auffällig und leuchtend, mehr noch als sonst, ihre Lippen strahlend rot, riesige Ohrringe, sie trug ein weites Kleid, Vintage, das sie auch auf einem Kostümball hätte tragen können, mehrere Ketten übereinander, und ich wusste sofort, dass das ihre Art war, der Nachbarschaft den Mittelfinger zu zeigen.

»Huhu!«, rief sie laut und dröhnend quer über den Rasen und winkte uns mit einem großen Strauß Blumen zu, den sie in der Hand hielt.

Als sie uns erreichte, drückte sie ihre Wangen gegen meine und schmatzte laut in die Luft, dann küsste sie Ewa fest auf die Stirn und gab ihr die Blumen.

»Habe einen Teil des Nähgeldes gleich reinvestiert«, sagte sie.

»Das sollst du doch nicht«, sagte Ewa, schien sich aber sehr zu freuen.

»Na, worüber sprecht ihr?«, fragte Angelica und zog sich einen Stoffbeutel mit Einkäufen von der Schulter.

»Über die Post von deinen Nachbarn.«

»Ach!«, sagte Angelica genervt und leuchtete ein bisschen weniger.

»Ich hasse Menschen manchmal«, sagte ich.

»Ja«, begann Angelica nachdenklich. »Ich kenne kaum eine Stadt, die so in schreckliche und gute Menschen aufgeteilt ist wie diese, aber vielleicht ist das auch nur eine Illusion, ich weiß es nicht, so viele Vergleiche habe ich nicht.«

Mit einem Seufzer ließ sie sich neben meine Füße auf die Holzbank unterm Fenster fallen und fummelte ihre Kippenpackung aus der Handtasche.

»Und natürlich teilt man, wenn man es besser weiß, Menschen auch nicht in gut und schrecklich ein, aber manchmal weiß ich es eben nicht besser«, fügte sie an und sah zu Ewa hoch. »Manchmal bin ich auch mit meinem Latein am Ende, aber …«

Sie steckte sich eine Kippe in den Mund und zündete sie an.

»Aber?«, fragte Ewa.

»Ich habe eben beim Einkaufen Frau Lutz getroffen, die ältere Dame, die so schräg über uns wohnt. Wie alt wird die sein? Irgendwas inne siebzig. Und da hab ich die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sie gefragt, ob sie was von dem Beschwerdezettel weiß, und tatsächlich, die Frau Klube war wohl auch bei ihr, aber sie hat sich geweigert zu unterschreiben. Wissen Se, Frau Rybka, hat sie zu mir gesagt, wenn mich wat stört, dann sach ich dat den Leuten selber, da brauch ich nich so Zettelgedöns und groß Rummacherei.«

»Ach, wie gut«, sagte Ewa.

»Ja, und sie meinte noch, dass sie das schön findet, dass wir so ’n bisschen Leben ins Haus bringen. Na ja, aber da ist sie offenbar die Einzige. Trotzdem gut zu wissen, dass man nicht ganz allein dasteht … Ewa!«

Ich drehte mich um und sah, dass Ewas Augen schon wieder gerötet waren.

»Ja, ach meine Güte«, sagte sie, und eine einzelne Träne rann ihr über die Wange. »Ich weiß, dir macht das wenig, aber ich find das alles trotzdem schrecklich, und ja, ist nett von der Lutz, aber ich meine, dass die Klube hier durchs Haus rennt und gegen dich, gegen uns wettert, ich find das einfach schlimm. Beängstigend.«

»Gott, Ewa, es tut mir leid, ich wollte das nicht abtun.« Angelica zog sich hoch auf die Fensterbank. »Es ist auch für mich harte Arbeit, das nicht an mich ranzulassen, mir einzureden, dass diese Leute mir egal sind, aber anders geht es nicht. Ich will dir deine Angst nicht absprechen, um Himmels willen nicht, nein, natürlich ist es schrecklich, furchtbar und eklig und was-weiß-ich-noch-alles.«

Ewa beugte sich aus dem Fenster, legte ihren Kopf seitlich gegen Angelicas und zog sie an sich. Angelica wiederum legte ihr die Hand in den Nacken und verstärkte die Nähe zwischen ihnen noch, Kopf an Kiefer, mit viel Druck, von außen sah es aus, als versuchten sie gegenseitig, die Last voneinander zu nehmen.

Es war der intimste Moment, den ich außerhalb von Film und Fernsehen jemals zwischen zwei Menschen gesehen hatte.

Dass die beiden keine Zettel einer übereifrigen Lebenshandwerkerin brauchten, die zur Liebe anregten, war eindeutig.

Am liebsten hätte ich eine goldene Rettungsdecke um die zwei geschlagen, sie eingepackt, in meinen Rucksack oder mir direkt beide unter den Arm geklemmt, um sie in mein magisches Badezimmer zu bringen, wo sie in Sicherheit waren, wo wir alle in Sicherheit waren, weil dort keine schrecklichen Menschen hineinkonnten, weil es dort keinen Schmerz gab. Wir könnten uns gegen den Wannenrand lehnen, Handballen gegen die Augen, und wenn das Visual-Snow-Syndrom nicht von allein kam, dann einfach noch mal kräftig reiben, und dann würden wir auch schon fliegen, irgendwohin, wo kein Schmerz war, ob Ostsee, Disneyland oder Reihenhausgarten, das war am Ende egal.

Ich behielt meine Gedanken für mich, denke, das ist eh klar. Da war natürlich die Sorge, dass die beiden mich für ein dummes Kind halten könnten, das die Dimensionen nicht begriff, nicht verstand, mit was sie konfrontiert waren. Es bedeutete mir viel, dass sie mich teilhaben ließen, mit mir und miteinander sprachen, als wäre ich eine Erwachsene, als wäre ich ein Jemand, dem man etwas anvertrauen konnte, der eine Idee vom Schrecken der Welt hatte.

Und so sagte ich nichts, schwieg, blieb sitzen in dieser Atmosphäre, in der Schmerz und Liebe nebeneinander Platz fanden, nahm schweigend eine Kippe aus der Packung und rauchte wie Angelica und sah in die Ferne wie die zwei und dachte nach.

»Wie kommt’s eigentlich, dass du ganz allein hier bist, Liebes?«, fragte Angelica irgendwann.

»Ja, also, ich war eh hier in der Nähe«, log ich, nur um dann doch wieder Richtung Wahrheit zu rutschen. »Und Sofie musste nachsitzen, und was die anderen machen, weiß ich gar nicht. Na ja, und weil ich nichts wusste, da hab ich mich gefragt, wie es euch geht, aber ich wollte auch nicht neugierig sein oder so.«

»Es ist nett, dass du dich nach uns erkundigst, und neugierig zu sein ist kein Verbrechen«, sagte Ewa, die sich wieder gefangen zu haben schien.

»Tatsächlich nicht«, meinte Angelica. »Was hat denn unser Fräulein Tochter verbrochen, dass sie nachsitzen muss?«

»Ach, der Winkelmann war irgendwie mal wieder komisch drauf und hat rumgepampt, dann meinte Sofie leise zu Jessi ›alter Esel‹, und das hat er gehört.«

»Die Wahrheit vertragen Männer selten«, sagte Angelica schlicht.


An einem düsteren Tag Anfang Dezember äußerte Kati den Wunsch, mit ihrer toten Großmutter reden zu wollen. Wir anderen nahmen die Idee begeistert auf. Im Winter 2003 herrschte an unserer Schule – vor allem unter den Mädchen – eine große Faszination für alles Gruselige und Paranormale. Es war eine nette Abwechslung zur ewigen Gleichgültigkeit. Eigentlich hätte man meinen können, wir seien zu alt für so was, aber an irgendeiner höheren Stelle war offenbar entschieden worden, dass es diesmal okay war. So war das manchmal mit Trends, man musste nur zusehen, dass man nicht allzu lange drauf hängen blieb. Wer im Februar 2004, als das Knüpfen bunter Armbänder trendete, noch mit Handlesen, The Ring oder Friedhof-Gelaber um die Ecke kam, war eindeutig verloren.

»Wir brauchen im Prinzip nur ein bisschen Erde von ihrem Grab, ’n Glas und ’ne Kerze«, meinte Sofie, die sich von uns natürlich am besten mit Geisterbeschwörungen auskannte, zumindest tat sie so.

»Sie ist in Griechenland begraben«, warf Kati ein. Gut, das war ein Problem – allerdings keins, das Sofie nicht lösen konnte.

»Wir nehmen einfach Erde vom Friedhof und streuen sie über ein Bild von deiner Großmutter«, sagte sie. Ich riss den Mund auf und schloss ihn dann wieder, überlegte kurz, entschied mich um und fragte:

»Bist du sicher, dass das funktioniert?«

Sofie hob die Augenbrauen, die anderen schwiegen. Das Gerüst der Damenbande schwankte leicht hin und her.

»Was ist denn dein Vorschlag?« Ihre Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn.

»Na ja, vielleicht sollten wir Erde nehmen, die zumindest irgendwie mit Katis Familie in Verbindung steht.« Ich hatte doch selbst keine Ahnung und mutmaßte nur irgendwas, aber nach diesem Vorstoß wollte ich mir keine Blöße geben.

»War sie jemals hier in Deutschland? Hat sie euch mal besucht?«, fragte ich Kati.

»Ja, einmal, aber da war ich noch voll klein, kann mich nicht richtig an sie erinnern«, meinte sie.

»Aber sie war bei euch zu Hause? Dann können wir doch Erde aus eurem Vorgarten nehmen, das ist Boden, über den sie gelaufen ist.« Ich wusste nicht, ob das, was ich da erzählte, Hand und Fuß hatte, aber es schien die anderen zu überzeugen.

»Find ich gut, dann müssen wir nicht aufm Friedhof rumgraben, hinterher buddeln wir da noch aus Versehen jemanden aus, oh mein Gott, wie ekelhaft das wäre«, warf Anna ein, und Jessi reagierte mit Würgegeräuschen.

»Gut, meinetwegen«, sagte Sofie, und ich war mir sicher, dass sie sauer war. Eine leise Ahnung, dass sie den Abend und das Vorhaben im Sinne ihrer Machterhaltung sabotieren würde, machte sich in mir breit.


Das Ganze fand natürlich im Hause Rybka statt. Angelica verdrehte lachend die Augen, als wir am frühen Abend vor der Tür standen, alle schwarz gekleidet, Kati ausgestattet mit einem Gefrierbeutel, in dem sich eine Handvoll Erde aus ihrem Vorgarten befand.

»Wer soll da noch mal heute Abend in meine Wohnung gerufen werden?«, fragte sie.

»Katis Oma«, brummte Sofie und schob sich an ihr vorbei.

»Die arme Frau«, sagte Angelica, »nicht mal im Tod ein bisschen Ruhe.«

Kati riss die Augen auf und blieb im Flur stehen.

»Ich … daran habe ich gar nicht gedacht, glaubst du, sie ist dann sauer auf mich?«

»Aber nicht doch, Liebes, vielleicht gefällt ihr ein bisschen Abwechslung auch ganz gut«, sagte Angelica sorglos, als führe sie derartige Unterhaltungen ständig.

Kati wirkte dennoch beunruhigt.

Das sollte sich im Laufe des Abends nicht mehr ändern. Um uns auf die Geisterbeschwörung einzustimmen, sahen wir Das Geisterschloss auf DVD. Sofie und ich kämpften ein unsichtbares Duell der Gleichgültigkeit. Wir hockten nebeneinander auf dem Boden vor ihrem Bett und strengten uns an, keine Reaktion auf den Film zu zeigen. Links von mir saß Kati, völlig verkrampft, und gab seltsame Töne von sich, sobald auf dem Bildschirm irgendetwas passierte oder sich auch nur andeutete, dass gleich etwas passieren könnte.

Anna und Jessi lagen auf dem Bett. Während meine Gleichgültigkeit nur vorgespielt war, schien Jessi tatsächlich unbeeindruckt. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, und sie stopfte unablässig Chips, Cracker, Weingummi und Mini-Schokoriegel in sich hinein, selbst dann noch, als es wirklich brutal wurde. Ob Anna sich gruselte, war nicht klar, ihr Gesicht war ähnlich ausdruckslos wie Jessis, aber hin und wieder spürte ich, weil sie direkt hinter mir war, wie sie zusammenzuckte.

Nach dem Film begann die Geisterbeschwörung. Eine Kerze stand mitten in Sofies Zimmer auf dem Boden und warf flackernde Schatten in alle Richtungen. Kati erschrak, bevor es überhaupt losging, vor ihrem eigenen Schatten und riss beinahe die Kerze um.

Sofie warf ihr einen strengen Blick zu und verteilte dann die Erde rund um die Kerze auf dem Boden. Auf dem Teppichboden. Das sollte man noch dazusagen. Sie schien es aber nicht weiter zu kümmern, offenbar vertraute sie auf die Kraft des Staubsaugers.

Das muss alles sehr seltsam ausgesehen haben. Fünf Jugendliche, in einem engen Zimmer, Taschen, Schlafsäcke und Isomatten in einer Ecke des Raumes gestapelt, kniend im Kreis um eine Kerze und einen Haufen Erde, rundherum die üblichen Kinderzimmermöbel, ein riesiger Schrank, den Sofie mit Fotos und ausgeschnittenen Schnipseln aus der Bravo vollgeklebt hatte, ein kleiner Schreibtisch, das Matheheft noch aufgeschlagen, über dem Schreibtisch eine Turnmedaille aus dem Jahr 1998. Im Angesicht des Todes war alles in diesem Zimmer materialistischer Unsinn der Lebenden, dachte ich und kam mir sehr schlau vor.

Wir hatten kein Hexenbrett, aber ein Flipchart-Papier aus der Schule. Man musste sich nur zu helfen wissen. Darauf schrieben wir alle Buchstaben des Alphabets, die Zahlen eins bis neun und noch mal extra ›ja‹ und ›nein‹. Auf das improvisierte Hexenbrett stellte Sofie ein umgedrehtes Glas. Es war ein schmales Bierglas, das ich nur aus Restaurants kannte.

»Jetzt ganz leise«, flüsterte Sofie unnötigerweise. Ich wäre sowieso nicht auf die Idee gekommen, in diese düstere Stille hinein etwas zu sagen. Jessi kaute an ihren Nägeln, hatte also eh den Mund voll, und Anna und Kati sahen auch nicht nach laut sein aus.

»Wir rufen nach Katis Großmutter«, begann Sofie, sie sprach in leichtem Singsang, wie in der Kirche. »Elena Dimitriou, kannst du uns hören? Bist du jetzt hier?«

Sie hielt das Glas mit beiden Händen, ihre Augen waren geschlossen, wir anderen hielten den Atem an.

Zunächst passierte nichts.

Dann, als risse das Glas sie mit sich, zuckte Sofies Oberkörper nach vorne. Wir schrien alle wie am Spieß.

Das Glas umschloss jetzt unser aufgemaltes »ja«.

»Leise!«, zischte Sofie.

Kati sah aus, als würde sie gleich ohnmächtig werden.

»Schön, dass du da bist«, sagte Sofie laut und feierlich. »Wir haben einige Fragen.«

Dann zischte sie Kati zu:

»Was wolltest du wissen?«

Mittlerweile war Kati leichenblass. Sie brachte keinen Ton heraus.

»Ob es ihr gut geht?«, half ich weiter.

»Geht es dir gut?«, fragte Sofie in den Raum hinein.

Augenblicklich zuckte sie nach vorn, das Glas bewegte sich schnell zwischen den Buchstaben hin und her, leise flüsternd lasen wir mit. Sofie ließ sich richtig hineinfallen in die Bewegungen und riss die Augen weit auf, so als wäre Katis Großmutter nicht nur im Raum, sondern direkt in sie hineingefahren.

Eine gelungene Vorstellung.

Schließlich hatten wir unsere Antwort:

»I-C-H-F-Ü-H-L-E-M-I-C-H-G-U-T«

Ich wunderte mich ein bisschen, dass Katis Oma, die Deutschland nur ein einziges Mal in ihrem Leben besucht hatte, auf Deutsch antwortete. Vielleicht beherrschte man als Geist alle Sprachen.

»Was noch?«

»Ähm … der Ring, den sie mir vermacht hat, der ist irgendwie weg, und vielleicht kann sie aber sagen oder spüren, wo der ist?«

Kati klang schuldbewusst, und mir wurde schlagartig klar, dass der verlorene Ring der Grund für das ganze Theater war. Außerdem war ich mir sehr sicher, dass auch Sofie das in diesem Moment begriff.

Wieder spielte sie diese Zuckungen vor.

Vor und zurück und zur Seite riss es ihren Körper, und das Glas verriet uns, was Katis Oma angeblich zu sagen hatte.

»D-E-R-R-I-N-G-O-H-D-E-R-R-I-N-G-«, und dann riss es das Glas samt Sofie so schnell und so abrupt in alle Richtungen, dass das Flipchart erst ganz knittrig wurde und schließlich, bei einer besonders heftigen Bewegung, zerriss. Sofie ließ das Glas fallen, als wäre es plötzlich heiß geworden.

Kati schlug sich die Hände vor den Mund, und Anna und Jessi keuchten vor Panik und Entsetzen.

Jetzt war es an mir, ausdruckslos zu schauen, obwohl ich innerlich tobte.

»Da ist wohl jemand sauer«, sagte Sofie und schüttelte sich, als müsste sie sich von dieser Erfahrung erholen, als wäre sie mitgenommen, nicht Kati, die angefangen hatte zu weinen.

»Ich wusste, dass sie sauer sein würde, weil ich den Ring verloren habe«, heulte sie. »Ich wusste es einfach!«

Ich war auch sauer. Ich war so sauer, dass ich es in diesem Moment mit hundert toten Omas aufgenommen hätte.

Sofie war eindeutig zu weit gegangen. Sie hatte sich ein bisschen zu wohl gefühlt, in der Rolle des Mediums, der Geisterbeschwörerin, das verstand ich noch, da konnte es einen mitreißen, aber, dass sie diese Ring-Geschichte ausschlachtete, dass sie Kati ins Unglück stürzte, die sicher noch ewig darüber grübeln, sich Monate, wenn nicht sogar Jahre, Gedanken machen und sich schuldig fühlen würde, das war zu viel.

Die heulende Kati im Arm machte ich eine halb fragende, halb vorwurfsvolle Geste in Sofies Richtung.

»Was denn?«, kam als tonlose Antwort zurück, erhobene Arme, Handflächen zur Decke, als wüsste sie nicht, was sie anrichtete.

»Sie ist sauer auf mich«, heulte Kati in mein Shirt.

»Das war doch alles bloß Quatsch, Kati«, sagte ich und funkelte Sofie an.

Ich schob meinen Zeh über die Linie, ganz eindeutig, für alle sichtbar.

»War es nicht!«, zischte sie.

»War es doch!«

Ich wackelte noch mal mit dem Zeh, damit Sofie auch wirklich sah, dass ich drüber war, aber eigentlich war es unmöglich, das zu übersehen.

»Ich hab nur gemacht, was Katis Oma wollte!«

»Du hast geschauspielert, fertig! Danke für die Vorstellung.« Ich klatschte ihr sarkastisch Beifall.

Sie starrte mich an, hatte quasi meinen Zeh im Gesicht.

Dann ging ich Zähneputzen und schleppte die aufgelöste Kati mit.


Ich kochte noch immer, als ich auf meiner Isomatte zwischen Kati und Anna lag. Jessi und Sofie teilten sich das Bett. Ziemlich leise hatten wir uns alle zuvor bettfertig gemacht. Ich flüsterte Kati gut zu. Sofie und Jessi flüsterten auch, aber sicher nicht gut. Anna saugte die Erde weg.

Angelica steckte den Kopf herein und wünschte uns gute Nacht.

»Wo ist man eigentlich?«, fragte Anna. »Wenn man tot ist, mein ich.«

»Wo soll man schon sein? Unter der Erde halt«, sagte Sofie.

»Nein, das mein ich nicht, wir haben doch eben Katis Großmutter gerufen, also, wo sind die Seelen?«

Ich sagte: »Im Himmel.«

»Aber nicht jeder kommt in den Himmel.«

»Glaubt ihr, meine Oma ist in der Hölle?«

»Nee, aber manche schweben vielleicht so durch die Gegend, also wie so Geister, aber man sieht die nicht, und das sind auch die Einzigen, die man rufen kann. Habt ihr nicht diesen Patrick-Swayze-Film gesehen?«

»Nö.«

»Da sind halt Leute noch da, weil sie noch was zu erledigen haben.«

»Aber was sollte meine Oma noch machen wollen? Die war doch alt.«

»Hm«, sagte Anna.

Ich meinte, dass Sofie etwas murmelte, das so klang wie ›Ring‹, und wäre fast aufgesprungen, aber dann war ich mir nicht sicher, ob ich es mir vielleicht doch nur eingebildet hatte.

»Spuken denn nur junge Leute?«

»Vielleicht.«

»Hm.«

Niemandem fiel so recht ein, was man dazu noch sagen konnte.

Dann sagte Jessi: »Habt ihr schon mal über eure Beerdigung nachgedacht?«

»Klar, ständig.« Sofie legte sich lässig die Arme unter den Kopf, schaute an die Decke und sagte nichts weiter. Ich wusste, dass sie wollte, dass jemand nachfragte, und Kati auch gleich ihren Fuß in die Bärenfalle setzen würde, deswegen sagte ich schnell:

»Ich glaub, ich will verbrannt werden.«

»Igitt, das find ich voll widerlich.« Jessi verzog den Mund.

»Was ist an Verbrennen besser?«, fragte Anna in einem Ton, als hätte ich gerade ein Referat gehalten und müsste nun mein Fazit verteidigen.

»Also, dann ist man halt definitiv tot und so richtig weg, da muss man nicht die Sorge haben, dass man noch lebt und nicht ausm Sarg rauskommt«, erklärte ich.

»Davor hab ich auch richtig Panik, das hab ich mal in ’nem Film gesehen. Gott, stellt euch das mal vor.« Jessi sah schon wieder angeekelt aus.

»Außerdem nimmt man dann nicht so viel Platz weg«, fügte ich noch an, aber sehr leise, gut möglich, dass es niemand mitbekam.

»Ich will so ’n richtiges Grabmal, so ’n riesengroßen Marmorstein, und da sollen so Zitate von Leuten draufstehen, die mich kannten und was Krasses über mich gesagt haben, und immer frische Blumen und Kränze und so, sonst komm ich als Geist zurück und mach allen das Leben zur Hölle.« Sofie hatte sich nun doch erbarmt, ihre Antwort mit uns zu teilen.

»Boah, das fänd ich auch geil!« Jessi klang ausnahmsweise mal nicht angeekelt.

»Ich auch«, stimmte Anna zu.

»Ich glaub, ich will überhaupt nicht sterben«, sagte Kati.

»Ey, wenn man verbrannt wird, dann könnte man doch auch gar nicht als Geist zurückkommen, oder? Ist deine Großmutter verbrannt worden, Kati?«, überlegte Anna.

»Ich weiß nicht«, nuschelte Kati, die sich immer tiefer in ihren Schlafsack zurückzog. Ich hatte das Gefühl, sie bereute diese ganze Geisterbeschwörung mittlerweile.

»Klar geht das«, sagte Sofie. »Es wird doch bloß dein Körper verbrannt, den Geist gibt es doch noch.«

Während sie das sagte, setzte sie sich auf, streckte ihren Arm nach dem Schalter an der Wand aus und löschte das Licht. Die Jalousien waren komplett geschlossen, keine Lamelle stand offen.

»Verbrennen ist trotzdem auch krass scheiße, stellt euch vor, da seid ihr gar nicht tot, und dann verbrutzelt ihr da lebendig, das ist doch krank heftig«, sagte Jessi in die Dunkelheit.

Niemand antwortete ihr.

Anna gab lediglich eine Art zustimmendes Grunzen von sich.

Einige Minuten später atmeten drei Mädchen im Raum lang und gleichmäßig.

Ich schob mich näher an Kati heran, deren Augen riesig waren und zur Decke blickten. Das konnte ich in der Dunkelheit nicht sehen, aber ich wusste einfach, dass es so war.

»Kati?«, flüsterte ich.

»Hm?«, machte sie. Das Hm war kloßig und zittrig.

»Der Tod ist fünfhunderttausend Mal weiter weg als Griechenland«, sagte ich, »der kommt nicht hierher.«

Sie antwortete nicht, sondern rollte sich auf die Seite und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Überall Locken.

Ich legte einen Arm um sie und zog sie noch etwas dichter an mich.

Sie roch nach süß-minziger Zahnpasta.

Nach einer Weile atmete sie gleichmäßig gegen mein Schlüsselbein, und ich konnte nur hoffen, dass ihr die Angst nicht bis in den Schlaf gefolgt war.

Am nächsten Morgen hatte ich als Einzige dicke, müde Augen.