Vierzehn Jahre nach Angelicas Tod bestelle ich einen Americano.
»Einmal der Cappuccino mit Hafermilch«, sagt der Mann und stellt den wiederverwendbaren Becher aus Hartplastik schwungvoll vor mir auf dem Tresen ab. Ich blicke auf das Heißgetränk, das ich nicht bestellt habe.
Bitte nicht, denke ich, während mein Arm fast wie von selbst reagiert und sich langsam auf den Becher zubewegt. Einfach nichts sagen, den Becher nehmen und gehen. Es wäre das Beste, von allen möglichen Vorgehensweisen wäre es die mit der geringsten Reibung.
Doch dann höre ich mich sagen: »Ich hatte eigentlich einen Americano bestellt, mit etwas Hafermilch.«
Mein Zeh kribbelt.
»Oh«, sagt der Barista. Er wartet, sieht mich an.
Ich weiß, was er denkt. Ich weiß, dass er will, dass ich es uns beiden leicht mache, und fast wünsche ich mir das auch.
Aber es geht nicht.
Wir schauen uns an.
Schließlich greift er nach dem Becher, sagt mit deutlicher Missbilligung in der Stimme:
»Gut, dann kipp ich den weg, also ein Americano war das?«
Noch immer hofft er, dass ich sage: »Ach, vergessen Sie’s, ich nehm einfach den Cappuccino.« Aber es geht nicht.
»Ja«, sage ich stattdessen.
Er geht weg, hinter mir raschelt es. Ich fühle mich schrecklich. Die Anwesenheit der Leute, die mit mir in der Schlange stehen, die bestellen möchten, die Hunger und Durst haben, wird mir unangenehm bewusst. Ich halte hier alles auf. Aber es geht nicht anders.
Es ist noch immer anstrengend. Noch immer ist es jedes Mal aufs Neue eine Entscheidung, die ich bewusst treffen muss. An manchen Tagen geht es besser, an manchen schlechter, an manchen gar nicht.
Ich denke an eine gute Freundin, die vor einiger Zeit fast in die Luft flog, weil sie ihren Vermieter nicht mit dem ungewöhnlichen Geruch ihres Gasherds belästigen wollte. Fast in die Luft geflogen ist vielleicht übertrieben, vielleicht aber auch nicht.
»Ich kenn mich mit den Dingern ja auch nicht aus, wahrscheinlich ist der Gasgeruch auch normal … Gut, im Internet steht was anderes, aber na ja«, sagte sie und ergänzte noch mehrmals, dass sie doch wirklich nicht nerven wolle. Schließlich habe sie den Hausverwalter schon einmal wegen des falsch geschriebenen Namens auf dem Klingelschild und zweimal wegen der kaputten Lüftung im Bad angerufen, sie könne ihn doch nicht ständig belästigen, dann wär sie am Ende die hysterische neue Mieterin, das wäre doch peinlich. Was würde der denn von ihr denken?
Ich drängte sie dazu, das Problem mit dem Gasherd zu melden.
»Das ist sein Job, genau das ist sein verdammter Job«, sagte ich.
Beim nächsten Telefonat erzählte sie zwischen lang gezogenen Schluchzern, dass ein Handwerker festgestellt habe, dass der Herd kaputt sei, man ihr die Nutzung offiziell untersagt habe und sie ein neues Gerät bekommen würde. Außerdem, sagte meine Freundin, habe er ihr mitgeteilt, dass es wahnsinnig gefährlich gewesen sei, dass sie den Herd benutzt habe.
Einige Zeit später erzählte eine andere Freundin, dass in ihrer neuen WG ein Kabel in der Küche einfach aus der Wand stünde, aber das sei sicher nichts, schon irgendwie komisch, klar, die Mitbewohner:innen wüssten auch nichts, das sei schon eine Weile so, am besten nicht berühren, aber wenn die anderen sich nichts dabei dächten, warum sollte sie dann ein Ding draus machen?
Ich schrie sie förmlich durchs Telefon an, sich beim Vermieter zu melden, wissend, dass ich an ihrer Stelle die gleichen Gedanken gedacht hätte.
Während des Studiums hörte ich oft einer Kommilitonin zu, die sich über ihren Freund beklagte. Zu Recht, wie ich fand. Ich sah sie einmal in der Woche im Seminar. Jedes Mal brachte sie eine neue Geschichte über ihn mit, die bei mir für Entsetzen sorgte. Bei ihr in gewisser Weise auch, doch war die Konsequenz nie ein Schlussstrich, nie eine Änderung seines Verhaltens, stattdessen schlich sie um ihn herum, beobachtete, analysierte und litt und überlegte tausend Dinge, sinnierte darüber, was sie alles besser machen konnte. Besuchte er sie abends und war schlecht gelaunt, was er offenbar oft war, kochte sie ihm sein Lieblingsessen und überlegte sich Aktivitäten, um ihn aufzumuntern. Sie setzte sich einen glitzernden Hut auf und tanzte für ihn – im übertragenen Sinne, wobei ich es ihr sogar zutraute. Es war furchtbar zu sehen, wie sie sich verbog und aufgab und unsichtbar machte und jeden Tanz der Welt tanzte.
»The wounded child inside many females is a girl
who was taught from early childhood
that she must become something other than herself,
deny her true feelings, in order to attract and please others.«
– bell hooks
Dass wir nicht allein sind, ist irgendwie nur ein schwacher Trost. Ich denke an Angelica und wie ihre Stimme klang, wenn sie »verdammtes Patriarchat« sagte. Und ich denke daran, wie sie, viele Jahre bevor ich dank des Internets Worte für mein Verhalten und das vieler Freund:innen fand, immer wieder unterstrich, dass ich auf mich achten, mich selbst in den Blick nehmen und für mich einstehen sollte. Das mag einfach und irgendwie pathetisch klingen, aber am Ende ist es eben nur das. Angelica richtete ihren Blick auf mich, auf Sofie und Ewa, sie erinnerte mich an meinen eigenen Blick, und trotzdem habe ich mich oft gefragt, ob sie ihren Blick je auch auf sich selbst richtete oder ob sie womöglich doch eine von uns war, ob sie das Gewicht wirklich selbst verteilte oder ob sie sich am Ende selbst zu viel von allem auflud.
Ich werde Memes sehen, Tweets und TikTok-Videos, in denen junge Menschen Scherze darüber machen, dass sie so sehr People Pleaser sind, dass sie nicht die Polizei riefen, nachdem sie angefahren wurden, um der Person im Auto den Tag nicht zu verderben, und ich werde aussehen wie ein lächelndes Emoji mit einer Träne unterm Auge, während ich die Videos sehe, und ich werde denken, dass es wirklich nur ein schwacher Trost ist, dass wir nicht allein damit sind.
Die Sekunden verstreichen, und ich stehe stocksteif vorm Tresen. Alle sehen mich, die Scheinwerfer strahlen so stark auf meinen Rücken, dass mir richtig warm wird. Aber nicht das gute ›warm‹. Je länger es dauert, umso stärker wird die Versuchung, mich umzudrehen, zu erfahren, ob jemand die Augen verdreht, ob jemand mit seiner Begleitung über die überhebliche Gans tuschelt, die auf ihrem Americano besteht.
Der Mann im Anzug, den es vor wenigen Minuten ärgerte, dass ich genau vor ihm die Eingangstür des Cafés erreichte, räuspert sich. An der Tür bot ich noch an, ihn vorzulassen, weil er so hektisch hinter mir auftauchte, aber er bedeutete mir mit einer fordernden Geste, vor ihm reinzugehen, was er sicher für Höflichkeit hielt und sich selbst dabei für einen Gentleman.
Das bereut er mittlerweile. Denn jetzt atmet er gut hörbar aus und checkt alle paar Sekunden die Uhrzeit auf seinem Handy.
Dann sagt jemand: »Meine Güte, das dauert ja ewig hier!«
Ich höre ihre Stimme, und der Schreck zieht mich an meinem Nabel einmal quer durch den Raum. Ohne dass ich es will, falle ich zurück in eine andere Zeit, in ein anderes Leben. Mein Kopf reißt ruckartig herum. Sie sieht aus wie damals und gleichzeitig auch nicht. Es ist, als hätte jemand an einem Bild herumradiert, einige Konturen verwischt und an anderer Stelle verstärkt, ich merke, dass mein Verstand überfordert ist. Alte und neue Information, Erinnerung und Gegenwart passen nicht ganz aufeinander.
Sofies Ähnlichkeit mit Angelica ist zu gleichen Teilen wundervoll und furchtbar.
In den nächsten Minuten werde ich zunächst nicht genug davon bekommen können, sie anzuschauen. Doch nach einiger Zeit wird mein Inneres den Betrug bemerken, und ich werde mich damit begnügen, abwechselnd meine Schuhe und dann wieder die Spitze ihres linken Ohres zu fixieren.
Ein Café im Süden Berlins, Polstermöbel aus den 70ern, gewollte Individualität, wie sie in dieser Stadt viel zu oft zu finden ist, und mittendrin Sofie, ich und die Vergangenheit. Ein unangenehmer Pfeifton peitscht mir durch die Ohren, mein Herz macht einen Satz.
»Hallo … Sofie.«
»Katha, meine Güte, was für ein Zufall, wie schön!«, sagt Sofie und kommt zwei Schritte auf mich zu. Ich kenne sie immer noch zu gut, um zu wissen, dass sie es gar nicht schön findet. Sie ist nicht schnell genug, um den Anflug von Erschrecken und Qual ob dieser unerwarteten Begegnung vor mir zu verbergen. Als hätte sich eine Schleierwolke, vom Wind getrieben, für den Bruchteil eines Augenblicks mitten in den Himmel gesetzt, huscht eine Verdunklung über ihr Gesicht. Ich blinzle, und die Schleierwolke ist verschwunden, strahlendes Lächeln auf Sofies Gesicht.
»Wow, ähm, hey, das ist ja ewig her«, sage ich, und Panik steigt in Form von Hitze meinen Hals hinauf. Begegnungen wie diese passieren eigentlich nur im Film oder nie oder dann, wenn man am wenigsten mit ihnen rechnet. »Wohnst du hier? In der Stadt, mein ich.«
»Ja, nicht direkt hier, aber ich habe einen Termin in der Nähe.«
Mein Americano ist fertig, ich nehme ihn, ohne den Barista noch einmal anzusehen, und trete zur Seite.
Bevor ich fragen kann, was sie arbeitet, sagt sie:
»Und du? Was machst du in Berlin? Arbeitest du hier?«
Sofie stellt die Frage, macht dann einen Schritt an mir vorbei und ruft dem Barista zu, sehr laut, dass sie einen Flat White möchte und dieses Mal bitte wirklich ohne Schaum. Die Worte ›wirklich ohne‹ sind sehr eindringlich.
Der Gentleman schaut sie an, eigentlich kam sie nach ihm, und sagt dann nichts.
Nicht jedes verwundete Kind schreit gleich. Ich denke an den Juni 2004.
Sofie schrie so laut, dass ich sie kaum hören konnte. Ihre Stimme bewegte sich in einer Tonlage, deren Höhe meine Ohren kaum erreichen konnten. Zumindest nicht an diesem Tag.
»Sind wir ein scheiß Zirkus für dich? Sind wir ein verfickter scheiß Zirkus für dich, Katha? Oder warum findest du uns so spannend?«
Ich starrte.
»Glotz mich nicht so dämlich an, glotz doch meine Familie und mich nicht immer so an. Es ist meine Mutter, die da unter der verdammten Erde liegt, nicht deine, und du stehst da und siehst aus wie ein verficktes Gespenst, als wäre das dein Verlust. Was soll das? Weil du einmal mit ihr ’n Kuchen gebacken hast, denkst du jetzt etwa, du wärst auch ihre verdammte Tochter? Das bist du nicht, das bist du verdammt noch mal nicht.«
Ich bekam Sofies Spucketropfen ins Gesicht.
»Die ganzen letzten Wochen hast du bei uns zu Hause rumgelungert und dumm geglotzt und so getan, als ginge dich diese ganze verdammte, beschissene Kacke irgendwas an! Ich will, dass du dich verpisst, verpiss dich einfach … ich …«
Ein Arm legte sich von hinten um Sofies Brust und zog sie nach hinten.
Durch Ewas Gesicht zog sich der Verlust ihrer großen Liebe wie eine dicke, wulstige Narbe.
Das Ergebnis einer Wunde, die niemals jemand richtig vernähte.
Ewa zog Sofie weg, fort von mir.
Ich hing an einer Hand, die so groß war wie meine und die mich in die entgegengesetzte Richtung führte. Locken berührten meinen Hals, während ich nach hinten stolperte und mich immer weiter von Sofie und Ewa entfernte.
»Ich bin Ärztin«, sage ich, »ich bin derzeit in der Weiterbildung zur Allgemeinmedizinerin.«
»Ach was, tatsächlich?«, sie hebt die Augenbrauen, mustert mich. Ich weiß genau, was sie denkt, und bin mir sicher, dass sie fragen möchte, was für eine Art von Vergangenheitsbewältigung das sein soll. Wie klamme Wäsche hängt zwischen uns die Frage in der Luft, warum zum Teufel ich jetzt einen auf Menschenretterin mache, wo es doch ihre Mutter ist, die am verdammten Krebs gestorben ist, ob das nicht, wenn, dann ihre Aufgabe, ihr Lebensweg hätte sein müssen. Es ist nicht so, als hätte ich nicht darüber nachgedacht, dass die Entscheidung, Medizin zu studieren, so offensichtlich mit Angelica, ihrer Krankheit und ihrem Tod zusammenhängt, dass es beinahe peinlich ist. Ich möchte fast, dass Sofie mich schüttelt und mir ebendiese Fragen und Anschuldigungen an den Kopf wirft. Dann könnte ich mich rechtfertigen.
Stattdessen sagt sie:
»Hab eher gedacht, du würdest Kinderbücher schreiben oder so was, irgendwas Kreatives, Nettes.«
Ich bin mir nicht sicher, ob das eine Beleidigung sein soll und falls ja, was für eine.
Natürlich könnte ich sie danach fragen, aber nicht jede Schlacht muss gekämpft werden.
Stattdessen sage ich:
»Und, was machst du?«
Ich kann sie nirgends einordnen, und das ist sicher gewollt. Wir beide können perfekt in den gentrifizierten Kreuzberger Vierteln untertauchen, uns unsichtbar machen, im Strom des nur scheinbar Individuellen. Sie in einem der typischen Looks der Berliner Zugezogenen, in ihrem Fall nicht zu viel, Ledermantel, ihre Haare nicht mehr strohblond wie damals, jetzt dunkler, irgendwas zwischen bernsteinfarben und Sonnenblumenhonig, Shellac in Pastellrosa, die Augenbrauen hochgebürstet, blondierte Brauen wären zu viel gewesen; sicher gibt es an ihr einige ausgewählte Tattoos, nur Outlines, gut gestochen; dann ich, die Haare kurz; blondiert; zwei, drei Tattoos ohne Sinn, aber an den richtigen Stellen – das heißt in meinem Fall: während der Arbeit von Kleidung bedeckt.
Wie können sich zwei Menschen gleichzeitig so ähnlich sein und dann in derselben Intensität auch wieder nicht? Sofie und ich waren schon immer wie zwei Münzen mit identischer Vorderseite, aber wenn man sie drehte, zeigten sie völlig verschiedene Symbole. Vielleicht waren wir deswegen nie Freundinnen, vielleicht können wir deswegen nie welche sein.
War ich an diesem Punkt nicht schon?
Ja, und meine Gedanken werden sich die nächsten Tage um ebendiesen Punkt drehen, wie ein Mobile für Kinder. Ganz langsam im Kreis, angetrieben von einem schwachen Luftzug, aber unaufhörlich in Bewegung.
»Ich bin in einer Marketingagentur, als Projektmanagerin.«
»Oh, cool«, mehr fällt mir nicht ein.
»Ja, es macht richtig Spaß, und Berlin ist natürlich toll«, sagt sie. »Es war gut, dass wir damals hergekommen sind.«
Mit ihrem letzten Satz sind wir auf einmal sehr nah dran an der Vergangenheit.
»Ist Ewa auch hier?«
»Ja, wir sind damals hergezogen, nach … Licas Tod. Ewa hatte hier Freunde und noch eine Cousine, mit der sie sich gut verstand, die hat uns auch die erste Wohnung vermittelt.«
»Geht es Ewa gut?«
»Ja, mittlerweile schon, Berlin ist gut zu ihr. Sie hat ein ziemlich tolles Netz an Menschen und so … Die ersten Jahre waren heftig, aber jetzt geht es ihr gut, ja.«
»Das ist schön …«
»Sie wohnt gar nicht so weit weg von hier, seltsam, dass ihr euch noch nie begegnet seid«, sagt Sofie.
»Berlin ist halt riesig«, sage ich, als wäre das eine neue Erkenntnis. »Ich bin auch erst seit ein paar Monaten hier, wie gesagt.«
Alles an dieser Situation macht mich nervös. Es ist nicht so, als hätte ich mir diesen Moment nie ausgemalt. Dutzende Male war da die Vorstellung in meinem Kopf, wie ich Sofie irgendwo traf und ihr Fragen stellte, Vergangenes und Neues erfuhr und alles noch einmal durchging, was lose und nicht abgeheftet in mir herumlag. Doch nach vierzehn Jahren rechnet man eigentlich nicht mehr damit. Ich frage mich, ob sie überhaupt mit mir reden möchte. Vielleicht sollte ich ihr einen Ausweg anbieten, ihr sagen, dass wir das hier nicht tun müssen.
»Ah, gefällt’s dir nich so?«, sagt sie in meine Gedanken hinein.
Sie stellt Fragen, sie scheint also doch mit mir sprechen zu wollen. Oder ist es Höflichkeit? Aber Sofie war nie besonders höflich, vor vierzehn Jahren jedenfalls nicht. Vielleicht war da vorhin gar keine Qual auf ihrem Gesicht, vielleicht habe ich sie mir während meines eigenen Erschreckens nur eingebildet.
»Ich weiß noch nicht«, antworte ich vage. »Ich habe noch nicht entschieden, ob ich nach der Weiterbildung wirklich hierbleibe, ich weiß nicht, ob das meine Stadt ist, sie ist so … groß.«
Ein beeindruckendes Fazit von mir, gut, dass ich die Erkenntnis über Berlin durch Wiederholung noch einmal untermauert habe.
»Ich liebe es«, sagt Sofie. »Hier kann man so wunderbar anonym und unsichtbar sein.«
»Ja«, sage ich und denke, dass das genau das Problem ist.
Dass es das ist, was Sofie gefällt, wundert mich kurz.
Andererseits macht es Sinn.
Sind wir ein verfickter scheiß Zirkus für dich?
Angestarrt, begafft werden war schon immer das Schlimmste für Sofie. Starren ist ganz anders als Sehen. Starren ist das Eigene, Sehen das Andere. Beim Starren bleibt der Blick kurz hängen an Auffälligkeiten, an Besonderheiten, aber letztendlich geht der Blick durch den Menschen als solchen hindurch und offenbart nur die eigene Unklarheit. Sehen verfängt sich, Sehen will mehr.
Ich habe Sofies maskierte Unsicherheit damals für Selbstdarstellung gehalten, für überhebliche Arroganz, ganz einfach, deswegen habe ich unsere Wechselwirkung nie verstanden und nicht begriffen, dass ihr Verhalten eigentlich nur eine Art Anpassung war, eine etwas andere als meine.
Sofie kommt in dieses Café, sie bestellt ihr Heißgetränk genauso laut, genauso selbstbewusst, wie sie es schon früher getan hätte, aber das tun am Tag Hunderte Leute vor ihr und genauso viele nach ihr. Danach verlassen sie das Café mit einem dampfenden Becher in der Hand und verschwinden im Strom der Menschen.
Das ist es, was sie mit ›unsichtbar sein‹ meint, im anonymen Strom mitschwimmen, ein Strom, in dem man auch laut und rau sein kann. In Berlin könnte sie auf Rollerskates durch die U8 fahren, dabei mit Katzenfutterdosen jonglieren, laut krakeelen, und trotzdem würde niemand sie sehen, nicht wirklich, sie wäre von den meisten bereits wieder vergessen, wenige Augenblicke später, wenn die Türen aufgehen und sie aussteigen, weil in der nächsten Bahn oder oben an der Oberfläche schon etwas anderes wartet, das kurz sehr grell ist und dann wieder vergessen. Gestarrt wird nicht.
Ich verstehe den Reiz daran, ich kann nachvollziehen, dass es eben das ist, was Berlin für viele Menschen so anziehend macht. Mehr noch, dass diese Anpassung, ohne sich wirklich anzupassen, ohne sich wirklich in ein Bild von Konformität hineindrücken zu müssen, wie es an anderen Orten der Fall ist, dass dies für viele ein Sehnsuchtsort und Heimat ist und auch Schutz bietet. Für Sofie und Ewa ist es das, für sie hieß Berlin, endlich nicht mehr grell sein müssen, endlich nicht mehr zwischen Spitzenvorhängen und Window Color und grauen Fassaden ins Auge stechen.
Ich verstehe es, aber ich weiß, dass es mir anders geht. Mich macht es unruhig, das wird mir in diesem Moment schlagartig klar. Seit ich hergezogen bin, war da ein Gefühl, das ich zunächst nicht deuten konnte. Irgendwas zog da an mir, und jetzt weiß ich es. Gestarrt wird nicht, aber gesehen wird auch nicht.
Berlin ist es egal, ob ich da bin oder nicht, es zuckt nur die Schultern und schaut dann weg. Ich werde in eine Kindheit zurückgeworfen, von der ich froh bin, sie verlassen zu haben. In Berlin fühlte ich mich in den ersten Monaten plötzlich nur noch halb so groß, ich war auf einmal eine Winzigkeit von Person, und ich blickte zu Menschen hinauf, die miteinander agierten, meist wenig freundlich, und mich nicht bemerkten, aber wenn sie es dann taten, weil ich auf und ab sprang oder mich entschuldigte – für was auch immer –, dann sagten sie ungeduldig:
»Ja, was denn?«
Die Konsequenz daraus war offensichtlich. Weniger springen, weniger entschuldigen und auch eine gewisse Gleichgültigkeit überwerfen, selbst nicht mehr so genau hinsehen, den Blick auf niemanden richten, sich nirgendwo verfangen.
Ich gewöhne mich wohl daran, wobei ich nicht weiß, ob ich das möchte, ob das so gut ist.
Vierzehn Jahre unsichtbar, nun, noch mal genauso lang, auf dem Weg in die Sichtbarkeit. Irgendwie bin ich nicht bereit, mir das kaputt machen zu lassen, nicht von Berlin.
Vielleicht kann nicht jede:r in Berlin wohnen. Wieder so eine umwerfende Erkenntnis von mir.
Ich schaue Sofie an, und das Symbol auf der Münzen-Rückseite nimmt Gestalt an, wird erkennbar, nachvollziehbar.
Ganz unerwartet ist da auf einmal das Gefühl, etwas geraderücken zu müssen.
»Sofie«, beginne ich, und mein Puls schnellt nach oben. »Es tut mir leid, wie das damals gelaufen ist.«
Konkreter und klarer kriege ich es gerade nicht hin.
Sie schluckt und schaut für einen Moment suchend durch den Raum, als könne sie ihre Antwort irgendwo zwischen den frühstückenden Leuten finden.
»Ja, ich weiß, es war …«, sie zögert. Wieder tastet ihr Blick den Raum ab, befühlt die Wände und die Einrichtung. Dann sagt sie:
»Katha, ich habe einen Brief für dich. Von meiner Mutter.«
Es gibt kein Überlegen, kein Nicht-fassen-Können. Ich weiß in der Sekunde, was sie meint, weil da immer eine Ahnung war.
Trotzdem frage ich:
»Du meinst von damals?«
Von wann sonst?
»Ja«, sagt Sofie.
»Okay«, sage ich.
»Er ist irgendwo in der Kiste … ich habe ihn aufgehoben, er war damals bei ihren Sachen aus dem Krankenhaus und ich … Ich wollte ihn dir auf der Beerdigung geben, aber dann … Ich weiß auch nicht, ich war so sauer, es war alles so viel. Sie und du, und dann, ich wollte nicht die sein mit der krebskranken Mutter, meine Güte, wie albern … ich …«
Sie unterbricht sich, sieht mir erschrocken in die Augen und scheint für eine Sekunde entsetzt über die eigenen Worte, fängt sich wieder und sagt dann sehr kühl:
»Jedenfalls gibt es diesen Brief für dich.«
»Ja«, sage jetzt ich. Ich weiß nicht, wie ich mich gerade fühlen will.
Sofie fährt sich durchs Haar, eine nervöse Geste, ihr Mantelärmel rutscht ein bisschen zurück, und ich sehe die feinen Linien eines Tattoos, eine kleine Weinflasche.
Kurz freue ich mich, dass ich sie durchschaut habe, bevor mir einfällt, dass es unwichtig ist.
»Kann ich ihn haben?«, frage ich.
»Ja, natürlich.«
Ich gebe Sofie meine Adresse, sie tippt sie in die Notiz-App ihres Handys, worum ich froh bin. Ein Zettel verliert sich zu leicht. Sie verspricht mir, dass sie mir den Brief schicken wird.
Jetzt wird es wieder seltsam.
Wir stehen kurz rum und sagen nichts, der Gentleman ist längst weg. Ich komme zu spät zur Arbeit. Das sage ich dann auch.
»Oh, Mist, mein Termin, ich auch«, sagt sie.
»Also, dann … war schön, dich zu sehen«, sage ich.
»Ja … ich schicke dir den Brief.«
»Okay.«
»Bis dann, Katha.«
»Bis dann.«
Ich schaue ihr nach, wie sie mit großen Schritten das Café durchquert, die Tür aufreißt und verschwindet. Wahrscheinlich atmet sie draußen ziemlich tief ein und aus. Vielleicht denkt sie daran, wie sie heute Morgen nichts ahnend das Haus verließ. Oder sie wundert sich darüber, welche Auswirkungen einzelne, kleine Entscheidungen haben können. Für mich ist sie niemand, die ans Schicksal glaubt oder sich diesem ergibt. Ich stehe mitten im Café und nehme einen Schluck aus meinem To-go-Becher, ohne Deckel, der Umwelt zuliebe. Der Americano ist nur noch lauwarm.
Sofie wird sich Zeit lassen, und es wird mich schier wahnsinnig machen. Zehn Tage lang werde ich jeden Morgen mit zitternden Fingern den Briefkasten öffnen, Rechnungen, Prospekte, die den »Bitte keine Werbung«-Sticker ignoriert haben, und Informationsschreiben meiner Versicherung finden, aber keinen Brief aus der Vergangenheit.
Während ich mein Leben weiterlebe, scheint, wie bereits damals nach Angelicas Tod, mein Kopf zu pausieren. Ich denke permanent an den Brief. Noch vor wenigen Tagen ahnte ich nichts von seiner Existenz, und nun kommt es mir vor, als hinge alles daran.
Es ist Februar, der schlimme Monat. Berlin ist in diesen Tagen in einer Art und Weise deprimierend, die nur schwer vorstellbar ist. Der Wind pfeift erbarmungslos durch die Stadt, pustet kalt und grausam in jede Lücke und bewirkt, dass die Menschen mit dicken Schals, hochgeschlagenen Krägen und verkniffenen Gesichtern durch die grauen Straßen hasten. Die breiten Straßen machen es dem Wind leicht, er hat sehr viel Platz. Die Menschen sehen einander nicht an. Dafür haben sie keine Zeit. Und wenn sie die Augen zu weit öffnen, atmet der Wind unangenehm hinein und macht alles ganz tränig und verschwommen. Ich arbeite in dieser Woche viel, nicht weil ich mich ablenken möchte, sondern weil viel zu tun ist. Atemwegsinfekte, Blasenentzündungen, Grippe, akute Rhinitis, Mittelohrentzündungen, der Februar nagt an den Leuten. Schnaufend, hustend und schwitzend sitzen sie alle im Wartezimmer und müssen häufig mit der Anweisung »ausruhen und viel trinken« wieder gehen.
Am Dienstagabend, einen Tag nach der Begegnung mit Sofie, feiert eine Arzthelferin unserer Praxis Geburtstag. Ich gehe aus Höflichkeit hin, sie hat mich aus Höflichkeit eingeladen. Mir fällt kein Grund ein, warum sie mich hätte dabeihaben wollen, außer der, dass auch alle anderen eingeladen sind. Wir haben noch nie ein persönliches Wort gewechselt. So stehe ich da, ein Glas rosafarbenen Prosecco in der Hand, betrachte mit angeekelter Mimik das Interieur, das ich hier erwartet habe. Graues Stoffsofa, bestückt mit weißen Fellkissen; Weinkisten, weiß angestrichen, als Regale, viel Duftkerze; viel Nichtssagendes in Ikea-Rahmen an den Wänden, wenig Pflanze. Im gleichen Moment komme ich mir überheblich und eklig vor, mein Gesicht verdirbt allen die Party, da bin ich ganz sicher. Jedes Mal, wenn sich jemand an mir vorbeischiebt, zwinge ich meine Mundwinkel zu einem höflichen Lächeln, das augenblicklich verschwindet, sobald der Blickkontakt abbricht.
Dass sich die Leute von der Arbeit mühelos mit den Freundinnen der Gastgeberin vermischen und alle bereits nach wenigen Minuten zu einer schwatzenden Small-Talk-Masse verschmolzen sind, vermittelt mir, dass ich das vermeintliche Problem bin. Früher hätte ich mir ein Kostüm angezogen, um hier reinzupassen und die anderen nicht zu stören, die passende Chamäleonhaut eingestellt, am Regler gedreht, aber ich habe keine Lust mehr. Heute muss das höfliche Lachen reichen. Um einundzwanzig Uhr gehe ich nach Hause.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich die Erste bin.
Als ich meine Jacke anziehe, sagt mein Kollege Hamza:
»Gehst du?«
»Ja«, sage ich, schon bereit, eine Rechtfertigung nachzuschieben.
»Oh, perfekt. Dann kann ich mitgehen. Frag mich schon seit ’ner halben Stunde, wann ich endlich gehen kann, aber wäre wahrscheinlich bis Mitternacht geblieben aus Höflichkeit.«
Er lacht, und ich lache mit.
»Du rettest mich«, sagt er.
So ist das also.
Als ich eine halbe Stunde später zu Hause ankomme, schließe ich mit klopfendem Herzen den Briefkasten auf, auch wenn ich weiß, dass eigentlich noch nichts da sein kann. Er ist leer.
Mittwoch kann auch noch kein Brief da sein, aber in den Briefkasten schaue ich trotzdem. Der Newsletter eines Versandhandels liegt darin, obwohl ich ihn schon zweimal abbestellt habe. Ich werfe ihn direkt in den Papiermüll, verfluche den Versandhandel, fühle mich dafür verantwortlich, dass die Welt untergeht, weil ich dieses unnötige Papierzeugs trotz Abbestellung erhalte. Dann liege ich auf meinem Bett, bestelle aus Faulheit Essen, fühle mich direkt wieder schlecht, sage mir, dass es das letzte Mal diese Woche ist, aber ich komme ja auch einfach nicht zum Einkaufen. Wenn ich die Praxis verlasse, ist es meistens schon nach sieben, eher nach acht, und ich unterzuckert, hungrig, k.o. Einkaufen und Kochen fühlt sich dann wie eine zu große Aufgabe an. Also renne ich im Hamsterrad des Kapitalismus mit und kurble ihn mit beiden Armen an. Arbeiten, keine Zeit fürs Kochen haben, arbeiten, um andere fürs Kochen und Liefern zu bezahlen. Gerade geht es nicht anders, vielleicht mache ich es morgen besser.
Dann, einen Tag später, passiert zu viel, nämlich das Leben, der Alltag, und ich habe erst mal wenig Zeit, um über den Brief nachzudenken. Ich diskutiere in der Praxis mit einem Patienten. Ein Mann um die fünfzig mit randloser Brille. Wie viele von denen gibt es? Er nennt mich Schwester und fragt, wie alt ich bin. Es ist unangenehm, irgendwann spreche ich ein Machtwort, weil es nicht anders geht, und ab da ist er zahm.
Später sehe ich die Laborwerte einer Patientin, und mein Magen stülpt sich um. Alles an diesen Werten schreit Leukämie. Solche Zufälle kann es nicht geben. Zur Sicherheit, zur Absicherung, dass ich keine Gespenster sehe, zeige ich Hamza die Blutwerte, und er sagt:
»Krebs.«
Und ich sage:
»Ja.«
Und denke:
Scheiße.
»Soll ich sie anrufen?«, fragt Hamza, weil da irgendwas in meinem Gesicht sein muss. Sonst würde er es nicht anbieten.
»Nein, ich mache das«, sage ich. Denn es geht nicht anders. Sie ist meine Patientin, es ist meine Verantwortung.
Ich rufe sie an. Es ist schlimm.
Nach dem Telefonat denke ich nur noch an Angelica, aber an die durchsichtige Version, die im Krankenhausbett.
Abends fixiere ich ziemlich lange meinen Ganzkörperspiegel im Schlafzimmer und versuche mich darin zu sehen, im Ganzen, es klappt noch.
Am Freitag ist zum Glück fast Wochenende. Nach Feierabend schaffe ich es sogar zum Einkaufen und fühle mich erwachsen und organisiert, weil ich heute Morgen sogar daran gedacht habe, zwei Stoffbeutel einzupacken. Ich trage Kopfhörer, aus meiner Tasche schaut eine Stange Lauch heraus, ich schlängle mich mit leichtem Gang durch die vielen Menschen und Eindrücke der Großstadt. Es ist ein Main-Character-Moment für meinen Lauch und mich.
Angekommen im Hausflur, werden die Einkäufe dann doch schwer, das Band des Stoffbeutels schneidet in meinen Arm, und ich schließe den Briefkasten auf. Ein Flyer für einen neuen Imbiss und eine Rechnungserinnerung, das ist es, was ich heute kriege. Enttäuscht schleppe ich Einkäufe und Post nach oben. Den Flyer werde ich aus irgendeinem Grund drei Tage auf meinem Esstisch liegen lassen, bevor ich ihn wegwerfe.
Ich denke daran, wie Angelicas kompletter Küchentisch damals in den Sommerferien voll war mit Tütchen und Schrauben und wir alles sortierten und zusammendrückten und verhakten und dabei sprachen.
Was steht in diesem Brief?
Die Frage flackert durch meinen Kopf und wirft mich fast um. Ich verräume gerade die Einkäufe und muss mich kurz an der Tür des Kühlschranks festhalten.
Vielleicht stehen Wahrheiten darin, die ich gar nicht wissen möchte. Es könnte auch eine Abrechnung sein oder eine Heimsuchung, wie damals, als wir Katis tote Großmutter riefen, auch wenn das nur fauler Zauber war. Noch war der Inhalt des Briefes nur ein Gedankenexperiment wie Schrödingers Katze. Solange ich das Papier nicht in den Händen halte, die Worte nicht lese, den Inhalt nicht erfasse, kann dort alles stehen. Auch etwas, das mir nicht recht ist, das mich aus der Bahn wirft. Gefällt mir mein Leben so, wie es gerade ist? Es ist schon in Ordnung.
Und wenn danach alles anders ist?
Es ist Samstag, und ich schlafe sehr lange – für meine Verhältnisse. Wahrscheinlich so bis zehn. Irgendwann mache ich Kaffee, und dann sitze ich eine Ewigkeit mit meiner Tasse im Bett. Ich schaue abwechselnd aus dem Fenster und auf meine Beinhaare. Eine nette Beschäftigung.
An der Seite meines Knies entdecke ich ein Haar, das unverhältnismäßig lang ist.
Für den Abend bin ich zum Essen verabredet. Ich schaue auf die Uhr und rechne nach, wie viel Zeit noch ist, bis ich losmuss. Das Treffen ist um sieben. Ich werde eine Dreiviertelstunde brauchen, weil man in Berlin überallhin vierzig Minuten braucht, fünf Minuten sind Puffer, es ist eine normale Berlin-Entfernung, also macht es Sinn.
Dann muss ich um Viertel nach sechs aus dem Haus, das heißt, ich habe nur noch etwas mehr als sieben Stunden Zeit zum Ausruhen, minus Duschen, Anziehen und Fertigmachen. Vielleicht sollte ich absagen.
Die Verabredung ist mit einer Bekannten, ich kenne sie von einer Fortbildung über Diabetestherapie. Ich habe in Berlin keine Freund:innen, nur Bekannte.
Ich versuche abzuwägen, ob ich wirklich nicht hingehen möchte und der Wunsch, es einer Bekannten, nicht einmal Freundin, recht zu machen, mich vom Absagen abhält, ob es nur Höflichkeit ist oder ob ich einfach ein bisschen faul bin.
Ich denke über mögliche Ausreden nach und bis wann ich spätestens absagen müsste, dass es nicht gemein ist. Damit verschwende ich viel Zeit meines Samstags.
Am Ende gehe ich doch hin. Nach zwei Gläsern Wein ist es halbwegs nett. Dennoch ist es eine Verabredung, die Zeit füllt, die einem das Gefühl gibt, man hätte ein funktionierendes Sozialleben, und die einen doch nicht wirklich befriedigt. Es ist ein Gespräch, das zu viele Pausen hat, in dem die ersten Lacher erst nach dem zweiten Glas Wein kommen, ein Gespräch, dessen Inhalt am Ende redundant ist. Man erinnert sich später nicht wirklich daran. Es ist für uns beide eine Aufgabe. Wenn die andere aufs Klo geht, fühlt es sich nach Verschnaufspause an. Die Bekannte erzählt von ihrem Freund und dass er sich kürzlich über ihre Fahrweise aufgeregt hat. Ich sage so was wie »Ach herrje, na Mensch« und lache komisch und falsch und frage mich, ob ich noch mal aufs Klo gehen könnte.
Ich wirke unsympathisch, oder?
Als sie fragt, ob wir noch was bestellen sollen, lehne ich ab und sage, dass ich sehr müde bin, was stimmt.
Den Sonntag verbringe ich größtenteils im Bett mit meinen Beinhaaren. Ich trinke Kaffee, esse Toast mit Marmelade und zupfe an meinem langen Beinhaar, lasse es aber letztendlich dran. Es steht mir gut.
Drei Stunden später mache ich mir Bratkartoffeln, die ich auch im Bett esse.
Zwischendurch like ich einen aktivistischen Beitrag auf Instagram. Nicht, weil er zu hundert Prozent meiner Überzeugung entspricht, sondern weil er ziemlich radikal ist, und ich glaube, es würde sich gut machen bei allen, die den Post sehen und dann feststellen, dass ich bei den Likern dabei bin. Ich habe eine bestimmte Person im Sinn, die das mitbekommen soll.
Angelica hebt die Augenbrauen. Ich seufze schuldbewusst und entlike dann wieder.
Am Nachmittag telefoniere ich mit einer Freundin vom Studium, es ist die Gasherd-Freundin, die im Süden Deutschlands arbeitet. Ich erzähle ihr vom gestrigen Abend und sage, dass ich keine Freund:innen habe.
»Ich hab auch keine«, meint sie, und das beruhigt mich.
Später sagt sie noch:
»Heute früh beim Bäcker wurde ich wieder angestarrt, das ganze verdammte München glotzt mich an, das glaubst du nicht. Als hätten die hier noch nie eine wie mich gesehen oder wüssten nicht, dass es neben Blond noch andere Haarfarben gibt. Die gaffen hier schlimmer als im Kaff.«
Ihre Worte arbeiten in mir, und während ich spreche und frage, was denn da unten bloß los sei, in diesem Freistaat, das Wort sage ich ironisch, da bemerke ich, dass ich letztlich doch sehr wenig weiß vom Angestarrt-Werden.
Den Rest des Tages grüble ich über die Vergangenheit. Ich stelle mir vor, wie Angelica den Brief an mich schrieb. Es ist anstrengend, weil ich die Bilder nicht richtig scharf stellen kann. Es sind nur verschwommene Imaginationen von Angelica auf ihrem Sofa, ein Blatt liegt vor ihr, eine Hand hält einen Stift, dann im Krankenzimmer, sie im Bett zwischen weißer, rauer Bettwäsche. Sich dort in all dem Weiß, weiße Gestalt vor weißer Wand zwischen weißen Laken, ein weißes Blatt vorzustellen, ist zu schwer.
Anfang der Woche, sieben Tage sind vergangen seit der Begegnung mit Sofie, schwappt Panik über mich. Ich habe keine Kontaktdaten, nichts, ich kann Sofie nicht erreichen. Auf den sozialen Netzwerken finde ich nur einen privaten Account mit einem uneindeutigen Profilbild, ich weiß nicht, ob sie das ist. Wenn sie den Brief nicht schickt, habe ich keine Chance. Dann werde ich den Rest meines Lebens von seiner Existenz wissen, ohne dass ich etwas tun kann, ohne dass ich den Inhalt erfahre. Zwei Tage steigere ich mich in diese Vorstellung hinein. Auf der Arbeit bin ich unkonzentriert, was ungünstig ist, weil Flüchtigkeitsfehler hier ziemlich blöde Konsequenzen haben können.
Hamza fragt, ob alles in Ordnung ist.
Und ich sage: »Ja, nur etwas k.o. momentan, alles gut.«
Es ist oft alles okay, alles gut, nicht so schlimm, kein Problem, kein Stress, nein, alles bestens, macht euch keine Gedanken, ich mache mir doch schon genug.
Die Überbleibsel der Überanpassung.
no problemo
but it was all problemo
scherzt das Internet.
Nach Feierabend gehen Hamza und ich noch was essen.
Ich sage: »Es ist doch nicht alles okay.«
Und er sagt: »Das dachte ich mir schon.«
Ich erzähle ihm von dem Brief und von Sofie und dann von Angelica, irgendwann wird meine Stimme ein bisschen kloßig, und er sieht mich mit verständnisvollem Blick an. Es ist mir fast unangenehm, weil in seinen Augen steht »Ach, deswegen macht sie diesen Job«, aber es schafft trotzdem eine Verbindung, wie man sie in diesem Arbeitsfeld eben hin und wieder findet. Im Studium gab es viele Leute, deren Eltern bereits Ärztinnen waren, die ihre Entscheidung aus anderen Gründen trafen, die sich einfügten in Familientraditionen und denen es viel um Status ging, und zu denen es diese Verbindung nie gab.
Es war nicht so, dass ich in jeder Vorstellungsrunde die Geschichte von Angelica auspackte. Häufig nuschelte ich nur was von »spannend« oder »faszinierend« und »Menschen helfen«, aber gelegentlich, wenn man sich im engeren Kreis über die Beweggründe austauschte, dann sprachen Leute von verlorenen geliebten Menschen und von einem Antrieb, der im Kern intrinsisch war.
Es macht uns natürlich nicht zu besseren oder schlechteren Medizinern, geschweige denn Menschen, aber diese gegenseitige Durchdringung gab es eben nicht mit allen, und sie macht immer etwas. Auch jetzt mit Hamza und mir.
Wochen später wird er mir die Gründe für seinen Berufsweg verraten, und diese Geschichte wird noch trauriger sein als meine.
Hamza ist mein erster richtig guter Freund in Berlin.
Vielleicht lässt es sich hier doch aushalten.
Mitte der Woche, nach dem Essen, geht es wieder etwas besser. Hamza hat gesagt, dass man heutzutage in Zeiten des Internets eh jeden finden kann. Außerdem sei die Begegnung doch noch gar nicht so lange her. Vielleicht habe Sofie erst Umschläge oder Briefmarken kaufen müssen, keine Zeit gefunden, ein wichtiges Projekt auf der Arbeit, womöglich habe sie sich zwischenzeitlich erkältet und dann eben noch der Postweg. Hamza ist sich sehr sicher, dass der Brief kommen wird.
Mittwochabend ist der Briefkasten aber mal wieder leer.
Während der Käse auf meiner Tiefkühlpizza zerläuft, Ober- und Unterhitze, 220 Grad, 11-13 Minuten, blättere ich gelangweilt durch den Prospekt eines Möbelhauses, den irgendwer statt in den Briefkasten direkt auf meine Fußmatte geworfen hat. Wenn sich jemand schon so viel Mühe gibt, sollte ich vielleicht mal einen Blick riskieren. Als ich auf der Seite mit den Badezimmerspiegeln ankomme, rutschen meine Gedanken in die Vergangenheit, wie so häufig in den letzten Tagen. Die Begegnung mit Sofie hat alles aufgewirbelt.
Ich bin jemand, der generell viel nachdenkt, sortiert, manchmal auch immer noch ins ziellose Grübeln abrutscht, aber seit dem Treffen mit Sofie ist da ungewöhnlich viel Bewegung in meinem Kopf. Es ist ein bisschen so, als sähe man an einem windigen Tag in den Himmel.
Es gab nur dieses eine gemeinsame Jahr mit Angelica, aber es macht einen großen Unterschied. In so vielen Situationen waren und sind da ihre Worte, ihre Anstöße und Gedanken.
Ich habe an Angelica gedacht, als meine Mutter sagte: »Medizin studieren? In den Niederlanden? Was bitte? Da ist wohl jemand nicht ganz bei Trost.«
Ich dachte an sie, als ich einer Kommilitonin, die ich eine Zeit lang datete, vorspielte, dass ich gern Rad fuhr, und mit ihr in aller Herrgottsfrühe zu ewig langen Touren aufbrach, vorbei an Windmühlen und Bächen, bei Wind und Wetter. Jede Sekunde der Radausflüge hasste ich, aber ich mochte diese Frau. Ich mochte sie so sehr, dass ich ein riesiges Luftschloss um sie, um uns beide herum errichtete und dachte, meine echte, wahre Persönlichkeit würde für sie nicht reichen. Irgendwann sagte Angelica so laut und so empört in meinem Kopf: ›Liebes, also wirklich‹, dass ich mit der Wahrheit rausrückte. Danach konnte ich ausschlafen. Es war eigentlich einfach.
Ich habe an Angelica gedacht, als ich im mündlichen Teil des Physikums ein Blackout hatte, als ich einfach nur mit offenem Mund und schreckensgeweiteten Augen dasaß, bis einer der Prüfer mich fragte, ob das hier vielleicht nicht das Richtige für mich sei. Angelica hätte das wütend gemacht, und mich machte es auch wütend, und danach sprudelte ich über vor lauter Infos über Kapillaren.
Die Erinnerungen an sie und ihre Weisheiten habe ich in mir aufbewahrt. Sie sitzen irgendwo als goldener Kern zwischen meinen Organen, mutmaßlich umschlossen von einem Netz aus Blutkapillaren, wenn wir gerade schon bei denen sind, wahrscheinlich irgendwo da, wo vor Jahren mal die zerdrückte Aludose steckte. Der goldene Kern fühlt sich aber besser an und ist netter und hilfreicher. Ich kann ihn nicht bewusst aktivieren, das macht er von selbst, in ebendiesen Situationen, da erglüht er, lässt mich wissen, dass er da ist, spült mir manchmal ihre Worte oder auch nur ein paar unvergessliche, gehobene Augenbrauen ins Gedächtnis. Es ist gut möglich, dass der Kern aus einem der Lichtpunkte entstanden ist, die damals nach und nach auftauchten, aber genau wissen kann man das nicht.
Dennoch gab es Phasen in meinem Leben, in denen ich mich verlor, in denen ich mich am Lebenshandwerkertum festklammerte, weil ich es gewohnt war, es jahrelang erlernte.
Dinge, die ich für mich selbst tat, sollten in diesen Phasen jeglichen Reiz verlieren. Tat ich etwas für mich, war es, als kaute ich mit abwesenden Geschmacksnerven auf einem trockenen Brötchen, tat ich stattdessen etwas für andere, hatte alles tausend Facetten und Geschmäcker, war köstlich und befriedigend. War ich in diesen Zeiten viel mit mir allein, war ich nicht gut zu mir. Ich flüsterte mir ein, dass niemand es mit mir aushielte, dass meine Taten noch größer, meine Worte noch einfühlsamer, meine Zeit noch aufopferungsvoller genutzt werden mussten. Ich vergab mir nichts, ich flüsterte mir die schrecklichsten Dinge über mich selbst ein, ich war mir selbst die schlechteste Freundin.
Doch der goldene Kern hinderte mich immer am großen Absturz. Und über die Jahre wurde es besser, die Selbstgeißelung ließ nach, nie vollkommen, wie die Gegenwart zeigt, aber doch trat Linderung ein, auch, weil ich ihre Worte, die mir der Kern zuwarf, mit fortschreitender Lebenszeit endlich verstand.
Am Donnerstag ist Unwetter. Mein Handy klingelt, und jemand sagt:
»Heute Abend wirst du nicht mehr die schönste Frau in ganz Berlin sein, holde Maid, denn ich komme in die Stadt, ja richtig, höchstpersönlich, die Gerüchte sind wahr! Ach ja, kann ich bei dir pennen bis Samstag?«
Abends steht dann Nadine in meiner Küche. Sie erzählt von dem Theaterstück, in dem sie aktuell eine der Hauptrollen spielt, am Schauspielhaus in Bochum.
Meine Schwester, die Schauspielerin.
»Jetzt aber erst mal ’n bisschen die Kasse auffüllen, mit Werbung, ist zwar für ’n scheiß Produkt, fühl ich mich schon ’n bisschen mies mit, aber egal, ist jetzt auch nicht ganz schlimm. Wir drehen morgen ’n kleinen Spot, und dann teil ich das noch bei mir aufm Kanal, das gibt schon gut Kohle. Am Theater verdienste ja nix.«
Sie sieht dünn aus.
»Du siehst dünn aus«, sage ich.
Nadine hebt die Augenbrauen und antwortet:
»Weißt du, welches Jahr wir haben? Richtig. Das Jahr, in dem wir die Körper anderer Leute nicht mehr bewerten.«
Ich verdrehe die Augen.
»Die Körper anderer Leute zu bewerten ist mein verdammter Job.«
»Na ja.«
»Ich koch jetzt jedenfalls was«, sage ich, gehe in die Küche und suche in den Schränken nach Zutaten.
Sie kommt hinter mir her.
»Ich will falschen Zwerghamster mit Fritten«, sagt sie, umarmt mich von hinten und pustet mir nervig ins Ohr.
Manchmal hasse ich es, erwachsen zu sein und arbeiten zu müssen und Verantwortung zu tragen – noch mehr als damals – und ernst zu sein und meine Schwester nicht jede Sekunde um mich zu haben.
»Rate mal, wen ich getroffen habe«, sage ich. »Ist Curry auch okay?«
»Keine Ahnung und ja.«
»Sofie.«
»Welche Sofie?«
»Sofie Rybka.«
»Sacht mir nix.«
»Ach verdammt, Nadine. Die aus Dortmund!«
»Angelicas Tochter?«
»Ja.«
»Nein! Fuck! Was hat die gesagt?«
Ich erzähle meiner Schwester von der Begegnung im Café, davon, dass Sofie auf seltsame Art aussieht wie Angelica und gleichzeitig auch nicht, ich beschreibe meiner Schwester die kurze Verdunklung in Sofies Gesicht und wie sie sich wieder fing. Leise füge ich an, dass ich mir den Schatten auch nur eingebildet haben könnte und sich möglicherweise nur mein eigener Schrecken auf ihrem Gesicht gespiegelt hat.
»Sie arbeitet in einer Marketingagentur«, sage ich.
»Gott, natürlich tut sie das«, sagt meine Schwester und verdreht die Augen. »War so klar.«
»Ich hätte jeden Beruf nennen können, und das wäre immer deine Reaktion gewesen.«
»Kann schon sein.«
Und dann erwähne ich den Brief.
Ich konzentriere mich mehr als ich müsste darauf, die Zwiebeln anzubraten, weil ich weiß, wie Nadines Gesicht aussieht, während ich vom Brief erzähle.
»Du hast ihr hoffentlich gesagt, dass das die größte Drecksaktion ist, die jemals irgendwer gebracht hat?«, Nadines Stimme, hart und kompromisslos.
»Ach, Nadine, sie hatte gerade ihre Mutter verloren, sie war wütend und traurig; und dann sind sie umgezogen, das war doch alles Chaos damals …«
»Verteidige sie nicht!«
»Warum nicht?«
»Na, darum! Sie hätte dir diesen Brief geben müssen.«
»Ja, vielleicht schon.«
»Nicht vielleicht, sie war einfach ’n selbstbezogenes Miststück.«
»Ich darf nicht sagen, dass du dünn bist, aber du darfst Sofie ›Miststück‹ nennen?«
»Meine Güte, hört doch keiner außer dir.«
»Wow, geile Logik!«
»Lenk jetzt nicht ab, sie hat dir den Brief mit Absicht nicht gegeben. Nicht, weil’s ihr mies ging oder Chaos war.«
»Ich weiß nicht.«
»Katha, erinner dich doch mal, wie sie war. Es hat ihr nicht gepasst, dass du so eng warst mit Angelica. Das ist doch die Wahrheit.«
»Hm, aber vermutlich nicht die wichtigste.«
Später essen wir das Curry, das schmeckt, wie die Currys weißer Leute immer schmecken – nach weich gekochtem Gemüse mit Sahne und Currypulver –, und Nadine erzählt von ihrem letzten Treffen mit unserer Mutter.
»Rate mal, was sie diesen Sommer tun will?«
»Keine Ahnung, irgendein Urlaub?«
»Nja, quasi.«
»Sag!«
»Jakobsweg! Ganz allein.«
»Ach, hör doch auf!«
»Als sie’s mir erzählt hat, konnte ich nur dran denken, wie ich’s dir erzähle.«
»Du kleines Biest.«
»Finde Jakobsweg aber echt besser als dieses komische Body-and-Mind-Retreat, das sie letztes Jahr gemacht hat.«
»Gott ja, da kam sie mit ’n paar merkwürdigen Ansichten zurück.«
Am Ende war der Krater meiner Mutter nicht tief genug, um sie dauerhaft gefangen zu halten. Die seltsamen Wege, die sie über die Jahre aus dem Loch herausführten, waren für mich nicht immer nachvollziehbar. Aber solange sie meiner Mutter an die Oberfläche halfen, meinetwegen, whatever floats her boat . Ich sollte sie mal wieder anrufen.
Am Samstagmittag ist meine Schwester weg und hinterlässt eine Lücke, die an einem grauen Tag im Februar schnellstmöglich gestopft werden muss, damit sie nicht größer wird. Also sorge ich dafür, dass ich mit einem Kopf voller Locken auf meiner Schulter einschlafe. Die Locken, die zu einer Person namens Ben gehören, sind längst verschwunden, als ich den kleinen silbernen Schlüssel im Schloss drehe und die Luke öffne. Es ist Sonntag, Tag zwölf nach der Begegnung mit Sofie. Sonntags kommt natürlich keine Post, aber aufgrund einer hektischen Verabschiedung von Nadine am Vormittag, die beinahe ihren Zug verpasste, und den Locken, die es immer schaffen, ein kleines, verwirrtes Gestöber in mir auszulösen, habe ich am Samstag nicht in den Briefkasten geschaut.
Nadine hat mir das Versprechen abgenommen, mich sofort zu melden, wenn Angelicas Brief kommt.
In Hausschuhen stehe ich zwischen Kinderwagen und Prospektstapeln im Flur des zugigen Berliner Altbaus. Der winzige Schlüssel dreht das Schloss nach rechts, es hakt kurz, alles hier ist ein bisschen verrostet, dann öffnet sich die kleine weiße Tür meines Briefkastens.
Und da liegt ein Brief.
Ein Umschlag, etwas größer als der übliche Brief, meine Anschrift in fein säuberlichen Druckbuchstaben, und links oben, kleiner, schmaler, die Adresse der Absenderin, Sofie Rybkas Adresse.
Meine Hände zittern, als ich den Umschlag herausnehme.
Dann knalle ich den Briefkasten zu und renne die zwei Stockwerke hoch in meine Wohnung, schon im Laufen fummle ich den Umschlag auf.
Zum Vorschein kommen ein kleines zusammengefaltetes Blatt und ein zweiter, kleinerer Umschlag.
Auf dem Umschlag steht »Für Katha«.
Die Schrift sieht aus, als hätte Angelica eben gerade, gestern oder vor zwei Tagen, als hätte sie da erst meinen Namen auf das Kuvert geschrieben. Es ist kein Brief aus dem siebzehnten Jahrhundert, geschrieben mit verblassender Tinte und auf Papier, das gelb und porös wird, es ist ein Brief aus 2004, und es ist gar nicht verwunderlich, dass die Schrift des Kugelschreibers kaum an Intensität verloren hat und auch das Papier noch immer weiß ist. Ich weiß nicht, wieso ich eine vergilbte, löchrige Schatzkarte erwartet habe.
Mit spitzen Fingern halte ich ihn ganz vorsichtig fest, trotz des robusten Äußeren habe ich Angst, dass er sich jeden Moment auflösen könnte.
Dann drehe ich den Umschlag vorsichtig und betrachte ihn von allen Seiten.
Es gibt ihn.
Ich lege den Brief langsam auf den Tisch und atme aus. Allein, dass es ihn gibt, dass es ihn immer gab, sorgt dafür, dass sich in mir etwas zusammensetzt, das vierzehn Jahre lang zerbrochen war.
Dann fällt mein Blick auf den zusammengefalteten Zettel. Seltsamerweise macht der mich gerade nervöser als der Brief selbst.
Weil ich spüre, wie sich ein dürrer Arm, an dem eine Hand mit langen Krallen hängt, um meine Brust legt und schon zudrücken will, falte ich den Zettel hastig auseinander. Konfrontation!
»Liebe Katha,
es hat mich gefreut, dich zu sehen. Bitte entschuldige, dass ich dir den Brief nicht früher gegeben habe.
Melde dich doch mal.
Gruß
Sofie«
Zwischen Aufforderung und Gruß steht eine Handynummer.
Ich bin ziemlich überrascht.
Ich speichere die Nummer in mein Handy ein. In der Messenger-App sehe ich ein Foto von Sofie. Es zeigt sie in irgendeiner Bar mit einem Glas in der Hand, es ist eine Momentaufnahme. Sie schaut nicht in die Kamera, sondern lacht über etwas, das jemand sagt, der nicht zu sehen ist.
Ich weiß, warum sie das Foto gewählt hat. Weil sie darauf leuchtet.
Am Ende sind es die Lebenden, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, denke ich.
Stimmt das wirklich?
Ich denke an meine Schwester und vermisse sie, ich denke an die Locken, die sich für morgen Abend erneut angekündigt haben, ich denke an Ewa, aber auch immer und immer wieder an Sofie. Natürlich können Sofie und ich Freundinnen sein, natürlich ist genug Platz da. An Angelicas Fenster war genug Platz, und in der Welt ist genug Platz.
Warum war es damals undenkbar?
Wieder dieser Gedanke. Das Mobile dreht sich ganz langsam. Sofie und ich. Damals und dann immer wieder in den vergangenen Jahren. Ich habe alles auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Meine Anteile am Scheitern dieser Freundschaft bin ich unzählige Male durchgegangen, aber auch Sofies.
Vielleicht waren wir nicht allein schuld.
Verdammtes Patriarchat, sagt Angelica in meinem Kopf.
Dass misogyner Konkurrenzscheiß mit reinspielte, das ist klar, das sagte ich schon, aber warum war eben dieser zwischen uns so riesig, vermeintlich unüberwindbar?
Ich bin nicht wütend auf Sofie und weiß nicht, ob es der alte Wunsch nach Harmonie ist oder weil ich keinen richtigen Grund habe oder weil ich sie verstehe.
Drecksaktion, sagt Nadine in meinem Kopf.
Aber Nadines Kompromisslosigkeit ist eben nicht meine und wird es nie sein.
Erinnert ihr euch noch, was ich ganz zu Anfang sagte? Über Nadine und ihre Rolle als Eheretterin?
Dass es ihr nicht guttat.
Auch ein Star, ein radikales Wesen wie das Biest, hat sein Paket zu tragen. Natürlich hat sie das. Nadines Kompromisslosigkeit hält sie von vielem fern, isoliert sie, trägt sie an vielen Stellen auch, doch noch immer ist sie einsam. Ich weiß, dass da fast niemand ist, der ihr nahesteht, dass sie niemanden wirklich hinter die Fassade schauen lässt. Liebe, Partnerschaft und Ehe, darauf blickt sie stets mit einer zynischen Überheblichkeit, Verachtung möchte ich es fast nennen, so ist es einfacher für sie, so war es schon immer.
Am Ende entkommt niemand der eigenen Kindheit ganz unbeschadet.
Auch Sofie eben nicht. Selbstverständlich nicht.
Ich denke an den Nachmittag, als Sofie ihre Mutter ein Arschloch nannte.
Natürlich war das eine bewusste Übertreibung, eine Provokation in meine Richtung, und doch, alles, was ich an Angelica bewunderte, das Auffällige, das Laute, das Anderssein in der so konformen Nachbarschaft, das muss Sofie gehasst haben. Und dann war da ich, die ihre Mutter so sehr bewunderte, deren Augen leuchteten, wenn Angelica besonders auffiel, durch Kleidung oder Lachen oder Lautstärke, die nach allem lechzte, was sie selbst kaum ertrug. Drängte ich sie damals zur Seite? Zog sie sich wegen mir zu Ewa zurück, oder hätte sie es ohnehin getan?
»Sofie war schon immer ein Ewa-Kind.«
Vielleicht muss ich Sofie selbst fragen, vielleicht können wir nur zu zweit herausfinden, warum es immer das Gefühl gab, da wäre nur Platz für eine von uns. Wir könnten zu zweit in der Vergangenheit herumwühlen und versuchen, das ein oder andere geradezurücken. Vielleicht – wenn sie auch will, wenn das überhaupt geht, schließlich haben Nadine und ich das auch das ein oder andere Mal versucht, mit mäßigem Erfolg.
Was ich aber weiß, ist, dass ich heute nicht mit ausgestreckten Ellenbogen an ihr vorbeigehen will, weil es nicht notwendig ist.
Genug der philosophischen Gedankenkramerei. Ich lege mein Handy und Sofies Zettel beiseite. Angelicas Brief ist immer noch da, nicht zu Staub zerfallen, nicht einfach in Flammen aufgegangen.
Ich streiche über das Kuvert. Trommle ein bisschen darauf herum, unruhig, nervös, jetzt mal kurz fahrige Erwachsene, die ich nie sein wollte. Ich schaue aus dem Fenster, stehe vom Stuhl auf, um mir ein Glas Wasser zu holen, setze mich wieder hin, schiebe den Brief weit genug vom Glas weg, kriege Panik, stelle das Glas ganz beiseite, auf die Küchenanrichte. In meinem Kopf sind fünfhundert Gedankenanfänge, von denen ich keinen auch nur bis zur Hälfte denken kann, geschweige denn zu Ende.
»Hallo? Es reicht doch jetzt«, schreit das Unwetter ungeduldig und pustet alle losen Anfänge, die nirgendwo hinführen, aus meinem Kopf. Nadine würde mich zur Seite stoßen und den Brief einfach aufreißen, dann würde ihr im letzten Moment einfallen, wie übergriffig das war, und sie würde mir mit schuldbewusster Miene das halb zerpflückte Kuvert rüberschieben.
Hamza würde sicher sagen: »Läuft dir ja nicht weg.«
Die fünfzehnjährige Sofie würde nur gleichgültig mit den Achseln zucken, als ginge sie das alles nichts an. Die gegenwärtige Sofie, keine Ahnung.
Und Angelica würde sagen: »Alles gut, Liebes, mach, wie du meinst. Wir haben doch alle Zeit der Welt.«
Aber Angelica lügt lieb und nett, denn alle Zeit der Welt hat man nie.
Ein bisschen Zeit kann ich mir aber schon nehmen. Ich schiebe das Kuvert, auf dem mein Name steht, ein Stück weg.
Irgendwann werde ich Angelicas Brief lesen. Vielleicht in fünf Minuten, oder morgen, oder erst in drei Wochen.
Es ist sehr leise in der Küche. Nur der goldene Kern summt leise. Vielleicht ist es auch der Kühlschrank. Die Stille drückt von allen Seiten gegen mich.
Ich verbinde Handy und Lautsprecher miteinander. Dann drehe ich die Musik laut auf, sehr laut.
Sollen doch ruhig alle wissen, dass es mich gibt.
fünf Minuten
ein Tag
drei Wochen
plus minus null
Liebes,
das steht da ganz zu anfang. auf einem blatt papier aus dem jahr 2004. und da steht noch mehr. meine augen gleiten über die worte. nach zwei sätzen weiß ich dass alle befürchtungen umsonst waren. ich lese von hoffnung und von wärme und von zuneigung. da sind entschuldigungen die es nicht gebraucht hätte. und dann gibt es versprechungen und wünsche und es ist die rede von blicken die immer auf mir ruhen werden. ich lese und lese und dann weiß ich dass da immer platz war. damals an angelicas fenster. für mich und für sofie und uns alle. und dass angelica eine von uns war ist doch mehr als ein schwacher trost.
ein weiterer satz in geschwungener handschrift erinnert mich daran das gewicht zu verteilen.
Vergiss das nicht
danach wieder entschuldigungen die unerträglich wehtun. die ahnung eines nahenden todes wird auf diesem blatt papier beschrieben und dann noch ängste und dankbarkeit.
Und unter allem steht ihr Name.
Ich sitze im Café mit Sofie und Ewa. Es ist nicht das Café auf der Ecke, sondern ein anderes. Hier gibt es zusammengewürfelte Möbel, viele davon im Landhaus-Stil, alles ist bunt, überladen und irgendwie kitschig. An den Wänden hängen Schilder mit Sprüchen in verschnörkelter Schrift, die das Leben besser machen sollen. Vorne an der Tür gibt es ein Regal, in dem selbst gemachte Marmelade und Türdekoration aus Blech zum Verkauf angeboten werden. Zwei ältere Frauen, die offenbar zu Gast in der Stadt sind, stehen sehr lange vor dem Regal und kaufen schließlich ein furchtbar hässliches Blechhuhn und ein Glas Orangengelee. Die Besitzerin des Cafés nennt Ewa beim Namen und fragt auch nach unseren. Sie backt selbst, erfahren wir.
»Ich bin oft hier«, sagt Ewa.
»Das dachte ich mir schon«, sage ich.
Wir sitzen an einem kleinen, runden Tisch, direkt am Fenster. Sofie und ich trinken Kaffee, Ewa Pfefferminztee. Wir essen Kirschkuchen und halten uns aneinander fest. Mitten durch Ewas Gesicht zieht sich ein feiner weißer Strich, aber ich glaube, den sieht man nur, wenn die Sonne direkt darauf fällt.