KAPITEL 2
Sie hieß Louise Elton und sie hatte eine wirklich höllische Geschichte auf Lager, die sie mir in allen Einzelheiten erzählte. Danach rief ich Leonard an. Er ging nicht ran, also hinterließ ich ihm eine Nachricht. Ich hoffte, dass er inzwischen wieder zurück in der Stadt wäre, konnte aber nicht damit rechnen. Er war mit seinem langjährigen Lover John immer noch zerstritten, sie stritten sich ungefähr so regelmäßig, wie Kühe auf die Weide gehen, und Leonard wollte sich mal anderweitig umsehen. Und nun hatte er eben diesen Typen im Internet kennengelernt.
Louises Sohn hieß Jamar. Es gab keinerlei Beweise, dass die Cops ihn umgebracht hatten, abgesehen von einem angeblichen Augenzeugen. Aber mit dessen Aussage schien etwas nicht zu stimmen, zumindest nach Meinung der Cops. Louise dagegen war überzeugt, dass er mir nützliche Informationen geben könnte.
Schadete bestimmt nicht, wenn ich ihm mal auf den Zahn fühlte. Er hieß Timpson Weed und wohnte in Camp Rapture; seine Heimat waren die Projects, wenn man die so nennen konnte. Nicht gerade ein gemütliches Viertel, die Weißen betrachtete man dort schlichtweg als Feinde. Andererseits war mir langweilig, Leonard war nicht greifbar, und ich hatte ja die Nummer des Apartments.
Ich aß zu Mittag, eine echt üble Suppe aus der Büromikrowelle, tätschelte Buffy kurz, schnappte mir meinen Mantel und fuhr rüber nach Camp Rapture. Kein weiter Weg, von LaBorde aus, und schon bald sah ich die Projects – ein Ort, wo Träume hinziehen, um sich die Kugel zu geben, und wo die Hoffnung sich selber in den Arsch fickt.
Es war ein kalter Tag, und beim Aussteigen atmete ich weißen Dunst aus. Ich zog meinen Mantel enger um mich und marschierte über den rissigen Gehweg in Richtung einer Reihe von Apartments. Sie wirkten mitgenommen. Angeschlagene Ziegel, die Wände voller Graffiti, nette kleine Botschaften wie HAB DEINE MUTTER GEFICKT UND IHRE PUSSY STINKT .
Ähnliche Sprüche fand man immer wieder, außerdem Namen mit Symbolen, laut Polizei Markierungszeichen von Straßengangs. Die gleichen Zeichen konnten in einer Unterführung allerdings auch angeblich von Satanisten stammen. Man machte es sich gerne einfach; die Zeichen bedeuteten eben, was immer die Cops wollten.
In letzter Zeit hatte sich der Ruf der Polizei von Camp Rapture deutlich verschlechtert. Noch mehr verschlechtert als ohnehin schon, und an ihrem schlechten Ruf musste was dran sein. Vor einem knappen halben Jahr hatten die dortigen Cops einen Autodieb im Straßengraben ganz in der Nähe des gestohlenen Fahrzeugs »entdeckt«, und zwar mit fünf Einschusslöchern im Hinterkopf. Offizielle Todesursache: Selbstmord. Damit kamen sie natürlich nicht durch, aber dass sie überhaupt auf diese Idee gekommen waren, gibt einem schon eine gewisse Ahnung von ihrer Berufsauffassung.
Ein Grüppchen junger Schwarzer setzte sich in Bewegung, mir entgegen. Alle so um die zwanzig. Mit diesem demonstrativen Harte-Jungs-Schlendern, bei dem ein Bein das andere hinter sich herzuschleifen scheint. Hände in den Taschen, vielleicht auch noch etwas anderes in den Taschen. Ich war unbewaffnet, hatte ja nicht gleich mit einer Schießerei gerechnet. Ihre Situation war zum Kotzen, klar, junge Männer ohne Jobs und so gut wie ohne Perspektive, aber noch mehr zum Kotzen fand ich, dass sie fünf gegen einen waren – gegen mich.
»Na, wie geht’s, meine Herren?«, sagte ich, als sie mich umzingelten.
»Uns geht’s prima«, sagte einer. Ein schlaksiger Typ, lange sehnige Muskeln, rote Duschhaube auf dem Kopf. Ein modisches Statement, das ich nie kapiert habe – aber wenn es regnete oder er schnell mal unter die Dusche wollte, war er gerüstet.
»Was willst du?«, fragte der mit der Duschhaube.
»Geld und Ruhm, was sonst.«
»Ach, bist du ’n Klugscheißer?«, sagte Duschhaube. Diese Frage hörte ich tatsächlich öfter.
»Ja.«
»Du stehst gleich ziemlich dumm da, wenn deine Zähne auf ’n Boden purzeln und wir dir den Arsch aufreißen.«
»Da würd ich wirklich dumm dastehen, und das würd mir gar nicht gefallen«, sagte ich. »Ich suche jemanden. Vielleicht ein Kumpel von euch. Ich hab seine Apartmentnummer.«
»Wenn wir ihn kennen, dann kannst du deinen weißen Arsch drauf verwetten, dass du von uns keinen Hinweis kriegst«, sagte Duschhaube.
»Meinen weißen Arsch will ich nicht verwetten, also dann, besten Dank für eure Zeit«, sagte ich.
Ich schritt durch eine Lücke in dem engen Kreis, den sie um mich gebildet hatten, und setzte meinen Weg fort ohne zurückzublicken. Gegenüber Jungs, die nichts zu tun haben und gern einen Streit vom Zaun brechen, verhält man sich am besten so wie gegenüber scharfen Wachhunden. Keine Furcht zeigen, nicht in die Augen schauen, gemächlich davonspazieren und hoffen, dass sie dich nicht in den Arsch beißen.
Ich schlug die Richtung ein, wo ich das Apartment vermutete, landete aber bei einer anderen Nummer. Die einzelnen Zahlen hingen nur noch lose an der Tür. Ich ging am anderen Ende des Apartments um die Ecke. Dort spielten ein paar Kinder, Jungen und Mädchen, vielleicht elf Jahre alt oder so; sie kickten einen Ball hin und her.
Als ich um die Ecke kam, hielten sie inne. Weiße bekam man hier offenbar so selten zu Gesicht wie Bigfoot. Eines der Mädchen sagte: »Was suchen Sie hier?«
Freches Gesicht, die Haare zu Cornrows geflochten, und Kleider wie von jemand Größerem zum Auftragen überlassen. Sie trug lila Tennisschuhe mit schmutzigen weißen Schnürsenkeln und ein übergroßes T-Shirt mit der Aufschrift MEIN ARSCH PASST ZU DEINEM GESICHT .
Bezaubernd.
»Vielleicht such ich hier jemanden?«, sagte ich.
»Sind Sie von ’er Popelei?«
»Nee, keine Popelei. Müsstet ihr nicht eigentlich in der Schule sein? Oder vielleicht irgendwo irgendwas anzünden?«
»Heut ist Samstag, Blödmann«, sagte das Mädchen.
»Weißt du was«, sagte ich, »da hast du recht.«
»Natürlich hab ich recht, und morgen ist Sonntag, und übermorgen Montag.«
»Du hast bestimmt lauter Einser in der Schule.«
»Nee, gar nicht.«
»Aber deine Betragen-Note ist bestimmt gut, oder?«
»Meine was?«
»Nichts, vergiss es. Ich suche einen Mann namens Timpson Weed. Wer mir als Erstes zeigt, wo er wohnt, kriegt fünf Dollar. Und wenn er wirklich dort wohnt, gibt’s noch mal fünf Dollar, wenn ich mich mit ihm unterhalten habe.«
Das fraß schon einen Gutteil meines Vorschusses in diesem Fall auf.
Die Kleine beäugte mich misstrauisch, als würde ein Bankangestellter meine Kreditwürdigkeit prüfen. »Zeigen Sie mir das Geld.«
Ich holte einen Fünfdollarschein aus meiner Brieftasche und hielt ihn zwischen den Fingern.
»Direkt da oben«, sagte sie und deutete auf eine Tür am Treppenabsatz über uns.
»Man hat mir aber gesagt, es wäre Apartment 905, nicht 605.«
»Wenn Sie’s so genau wissen, warum fragen Sie dann?«
»Gutes Argument.«
Ich hatte gefragt, weil die Lady, die mich engagiert hatte, sich nicht genau erinnern konnte, ob die erste Zahl eine 9 war oder eine 6. Nun wusste ich es also. Oder ich war gerade um fünf Dollar beschissen worden.
Ich gab ihr den Schein, ging die Treppe hinauf und weiter zu der Tür. Durch den unteren Türspalt waberte Essensduft heraus, Hühnerfleisch und Knödel und jede Menge Zwiebeln. Auch ein Fernseher war zu hören, irgendeine Quizshow. Ich klopfte an. Mehrere Eiszeiten später öffnete sich die Tür.
Vor mir stand eine kleine Frau im geblümten Morgenmantel, Mitte dreißig, kurz geschnittenes Haar, ein bisschen dick, mit Brüsten, die sich woanders vielleicht wohler gefühlt hätten als in dem viel zu engen Morgenmantel. An den Füßen trug sie flauschige lila Hausschuhe, ein neueres Paar als das von Mrs Elton; die mussten gerade in Mode sein. Vorne waren sie offen, und ihre Zehen lugten heraus, mit silbern lackierten Zehennägeln. Ihre Fingernägel hatte sie anders lackiert. Rot.
»Was wollen Sie?«
»Ihnen auch einen schönen Nachmittag.«
»Scheiße, was wollen Sie? Ich hab zu tun.«
»Ich habe gehört, hier an dieser Adresse wäre eine Benimmschule.«
»Eine was?«
Ich benahm mich wie ein arrogantes Arschloch, aber bis jetzt hatte ich mir bei meinen Bemühungen, Louises Sohn zu seinem Recht zu verhelfen, nichts als Scheißdreck anhören müssen, von allerlei Leuten ab elf Jahren aufwärts. Soviel ich wusste, konnte Louises Sohn Jamar ein übler Typ gewesen und bei irgendeiner krummen Sache umgekommen sein, aber ich sollte eben die Wahrheit herausfinden, und bisher war das Ergebnis null. Andererseits, wenn ich mir so manche Zustände in Camp Rapture vor Augen hielt, dann wäre ich auch auf der Hut, besonders gegenüber jemandem, der nach Polizei roch.
»Wer ist da an der Tür?« Eine Stimme in der Wohnung.
Ich versuchte hineinzuspähen, an der Frau in der Tür vorbei, aber keine Chance. Sie versperrte mir immer wieder die Sicht. Kurz darauf kam ein großer Schwarzer mit nacktem Oberkörper an die Tür und schob sie sacht beiseite.
»Was soll der Aufruhr?«, sagte er.
»Der Weißarsch da stellt komische Fragen«, sagte die Frau.
»Geh zurück in die Küche und pass auf den Herd auf. Und verdammt noch mal, Mensch, zieh dir den Morgenmantel besser zusammen.«
Sie bedachte mich mit einem letzten Blick, der mich fast rückwärts über das Treppengeländer geworfen hätte, und verschwand in der Wohnung, um sich wieder dem Essen auf dem Herd zu widmen.
»Was wollen Sie?«, fragte der große Mann. Er war echt groß. Hochgewachsen, breit, und unter seinem Bauchansatz bewegte sich nicht bloß Fett. Sondern auch einiges an Bauchmuskulatur, die mir vielleicht gern mal gezeigt hätte, wie straff sie noch war und wie wenig mit Fett durchsetzt.
»Sind Sie Timpson Weed?«
»Und wenn, was dann?«
»Louise Elton hat mich hergeschickt.«
»Echt? Immer noch wegen der Sache mit Jamar?«
»Ja, immer noch.«
»Der Nigger ist so tot wie nur was. Da ändert sich nichts mehr dran.«
»Ich bin Privatermittler, und sie hat mich engagiert, damit ich seinen Tod mal unter die Lupe nehme. Ob vielleicht mehr dahinter steckt, als die Polizei so erzählt.«
»Klar steckt da mehr dahinter. Wie immer.«
»Den Cops geht’s nicht immer darum, Sie aufs Kreuz zu legen«, sagte ich. »Ich kenne ein paar anständige.«
»Leben Sie mal einen Tag lang als Nigger.«
»Ich rede von einem schwarzen Cop.«
»Ja, dann ist er doch bloß außen schwarz und innen weiß. Ich hab da so meine Erfahrungen.«
Darüber wollte ich nicht mit ihm streiten.
»Ich versuche bloß, ihr zu helfen«, sagte ich.
»Ihr Geld abzuknöpfen, meinen Sie wohl.«
»Viel ist es nicht.«
Er taxierte mich eine Weile. »Ich hab dazu nicht viel zu sagen.«
»Erzählen Sie mir das Wenige, das Sie wissen?«
Er war immer leiser geworden, als säße unten jemand im Gebüsch und würde uns belauschen.
»Weiß nicht.«
»Sie tun ihr damit einen Gefallen. Auch wenn dabei nicht das rauskommt, was sie hören will, ist es immer noch besser, wenn sie erfährt, was wirklich passiert ist.«
»Wissen Sie was, geben Sie mir ein Bier aus.«
»Wo?«
»Die Kneipe grad außerhalb am Stadtrand. Um sieben.«
»Heißt die Kneipe irgendwie?«
Er lachte. »Ist ’n einprägsamer Name. Einfach The Joint
»Um sieben, heute Abend. Ich werd’s schon finden.«
»Vielleicht bringen Sie besser ’n Rasiermesser und ’n Gummiknüppel mit. Da geht’s noch etwas altmodisch zu.«
»Und was heißt das?«
»Die Leute da mögen keine Weißen. Verdammt, die mögen nicht mal sich selber.«